Kind schaut auf Urnengräber geschmückt mit Blumen. 50 Jahre Putsch in Chile.
Ein Junge vor den Urnengräbern einiger der am 11. September 1973 oder danach Ermordeten auf dem Zentralfriedhof von Santiago de Chile. Foto: Jürgen Schübelin

»Das Leid der Kinder wurde kaum wahr­genommen«

Interview zur Auf­arbeitung des Putsches in Chile

Der 11. September 1973 gehört zu den Zeitmarken, die nicht nur in Lateinamerika ganze Generationen geprägt haben: Zum 50. Mal jährte sich in diesem Jahr der brutale Putsch des Militärs in Chile gegen die aus demokratischen Wahlen hervorgegangene Regierung unter Präsident Salvador Allende. Was danach folgte, war der bewusst inszenierte Terror gegen alle, die die Unidad Popular-Regierung unterstützt oder mit ihr sympathisiert hatten. Nach und nach gibt es Fortschritte bei der Aufarbeitung. Aber diese steht hinsichtlich einer Opfergruppe erst ganz am Anfang: Kinder und Jugendliche, die die Jahre des Staatsterrorismus miterleben mussten. Die iz3w sprach mit Claudia Vera und José Horacio Wood von der chilenischen Kindernothilfe-Partnerorganisation ANIDE über den Schmerz der Kinder und die Folgen der Pinochet-Jahre.

Das Interview führte Jürgen Schübelin

18.09.2023

iz3w: Warum fiel es in Chile in diesen 50 Jahren so schwer, die Verletzungen, die dieser 11. September 1973 und die bleiernen Jahre der Pinochet-Diktatur verursacht haben, aus einer Perspektive der Kinderrechte zu sehen und aufzuarbeiten?

José Horacio Wood: Leider ist das nicht nur ein chilenisches Problem. Auch in allen Nachbarländern, in denen sich vor fünf Jahrzehnten die Generäle an die Macht putschten – Brasilien, Uruguay, Argentinien – sowie fast allen anderen lateinamerikanischen Staaten, die in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unter autoritären, staatsterroristischen Regimen litten – gestaltete sich die Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen schwierig und schleppend, sodass vor lauter Schmerz der Erwachsenen das Leid der Kinder kaum wahrgenommen wurde. Hier in Chile bilden die Kinder die größte Gruppe der unsichtbaren Opfer. Jahrelang gab es keine systematischen Berichte, die sich mit den Verbrechen gegen sie beschäftigten, keine eigene Untersuchungskommission, die betroffene Kinder und Jugendliche angehört hätte. Im sogenannten Informe Rettig der Wahrheits- und Versöhnungskommission aus dem Jahr 1991 werden – subsumiert unter all den anderen Opfern – 275 Kinder unter 18 Jahren genannt, die vom Regime zwischen 1973 und 1990 ermordet wurden oder verschwanden. Und der Bericht der nationalen Kommission über politische Gefangene und Folter, bekannt als Informe Valech, zählt 2005 die Fälle von über 2200 Kindern auf, die schwerste Folter erlitten und/oder als politische Gefangene inhaftiert waren.

»In Chile bilden die Kinder die größte Gruppe der unsicht­baren Opfer«

Claudia Vera: Wir empfinden es als extrem schmerzhaft, dass es in dieser Gesellschaft nie einen Konsens darüber gab, anzuerkennen, was durch den Putsch und das Militärregime vor allem Kindern aus den Armenvierteln – oder auch aus der unteren Mittelschicht – angetan wurde: Bei den brutalen Razzien, die auf den 11. September 1973 folgten, wurden alle über 14-Jährigen, zusammen mit ihren Vätern, Brüdern und anderen männlichen Verwandten aus den Hütten und Häusern gezerrt, gedemütigt, misshandelt und ganz oft interniert. Und als dann die Zwangsumsiedlungen aus den Armenvierteln, die in den Stadtteilen der Wohlhabenden - wie Las Condes oder Vitacura – entstanden waren, begannen, mussten Zehntausende von Kindern miterleben, wie schwer bewaffnete Soldaten sie und ihre Familien im Morgengrauen aus den Wohnungen zerrten, ihre Häuser samt all dem verbliebenen Hab und Gut mit Bulldozern zerstörten und die Menschen auf offenen Lastwagen quer durch die Hauptstadt Santiago an weit außerhalb gelegene Orte karrten, wo sie in Zukunft leben sollten. Für alle die, die nicht in Elternhäusern der vom Regime privilegierten Oberschicht aufwuchsen, gilt: Die Kindheit und Jugendzeit einer ganzen Generation wurde durch ständige Angst und das Gefühl, extremer Brutalität und staatlicher Willkür völlig schutzlos ausgeliefert zu sein, geprägt. Das sind einschneidende traumatische Erlebnisse, die die Betroffenen ihr ganzes Leben begleiten.

Und dann gibt es ja noch die Gruppe der Kinder und Jugendlichen, die mit ihren Familien – oder oft nur einem überlebenden Elternteil – ins Exil gezwungen wurden. Wie seht Ihr die Folgen der mit diesen Erfahrungen verbundenen Verletzungen für die nächste Generation?

Claudia Vera: Dieses Kapitel wurde in der internationalen sozialwissenschaftlichen Literatur sehr viel besser aufgearbeitet. Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Schmerz des Exils, das Erleben der Vertreibung bedeutete für die betroffenen Kinder ganz oft den Verlust ihrer Identität. Auch, wenn viele aus dieser Generation vor oder nach 1990, also dem Ende des Pinochet-Regimes, nach Chile zurückkehrten, konnten sie das Gefühl des Entwurzelt-Werdens, des Nirgendwo-mehr-richtig-Dazugehörens, nie überwinden – mit all den damit verbundenen Spätfolgen. Und heute wissen wir, dass derartige unverheilte Wunden immer auch Auswirkungen auf die nächste Generation haben.

»Für Hundert­tausende Kinder bedeutete die Diktatur einen brutalen Absturz in die Armut«

Andere hingegen mussten in Chile unter den Bedingungen eines Militärregimes aufwachsen. Wie veränderte sich der Alltag von Kindern und Jugendlichen in der Diktatur?

José Horacio Wood: Für Hunderttausende Kinder aus den Armenvierteln und aus Familien mit niedrigen Einkommen bedeutete die Diktatur einen brutalen Absturz in die Armut. Nachdem sich innerhalb des Regimes die sogenannten Chicago Boys, Marktradikale, die den Staat in allen Bereichen – mit Ausnahme von Militär und Polizei – zurückdrängen wollten, durchgesetzt hatten, kam es in Chile Mitte der siebziger Jahre zu einer nie dagewesenen Verelendung der ärmeren Teile der Bevölkerung, Massenarbeitslosigkeit, Unterernährung und Hunger. Gleichzeitig zerschlug die Diktatur das öffentliche Gesundheitssystem und drängte die öffentlichen Schulen in eine fortan nur noch prekär ausgestattete Nischenrolle. Auch fünf Jahrzehnte danach trennen Welten die privat bezahlte Schulbildung von der, die die Kommunen organisieren, genauso, wie es in diesem Land eine Gesundheitsversorgung für den wohlhabenden Teil der Bevölkerung gibt und eine für die, die die Mittel für den Besuch von Privatkliniken nicht aufbringen können.

Claudia Vera: Zu den – in einem perversen Sinn – „nachhaltigsten“ Folgen des marktradikalen Systems, das das Pinochet-Regime mit Gewalt installierte, gehört, dass eine Mehrheit der Menschen in unserem Land – und das hören wir ganz oft auch von Jugendlichen – überzeugt ist, dass private Kindergärten, private Schulen, private Unis, private Gesundheitsversorgung, private Altersversorgung, immer besser sind, als öffentlich organisierte. Ein weiteres, ganz wichtiges Instrument, das dieses Land gesellschaftlich in den zurückliegenden Jahrzehnten so stark wie nie zuvor veränderte, ist der schuldenfinanzierte Zugang zu Konsum. Selbst Kinder erklären einem, dass nichts dabei sei, Dinge auf Pump zu kaufen, und wenn die eine Kreditkarte nicht mehr funktioniere, gäbe es ja noch genügend andere. Das hat das Werte-System in Chile – und natürlich auch in den anderen Ländern Lateinamerikas, die neoliberale Transformationen durchlitten – verändert. Es herrscht ein extremer Individualismus. Trotz des offensichtlichen Scheiterns der von Finanzkonzernen organisierten aktienbasierten Pensionsfonds – mit der millionenfachen Folge von Altersarmut und Alterselend – sind es nur wenige, die zurück zu einem solidarischen, öffentlichen Rentenversicherungssystem, so, wie wir es in Chile bis zu Pinochet hatten, wollen. Die Militärs und die Verfechter*innen des neoliberalen Modells haben in Chile die Kultur des Wir, des sich gesellschaftlich Engagierens und Begriffe wie Solidarität oder Comunidad (Gemeinschaft) immer diffamiert und bekämpft. Leider müssen wir heute sagen: Sie waren damit extrem erfolgreich.

Noch einmal eine Nachfrage zu den psychischen Spätfolgen der Diktaturjahre und des von den Militärs oktroyierten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells für die Generation der heutigen Kinder und Jugendlichen: Gibt es aktuelle Zahlen zur psychischen Gesundheit in Chile?

José Horacio Wood: Die chilenische Ombudsstelle für Kinderrechte hat vor wenigen Wochen zusammen mit der Universidad de Chile das Ergebnis einer großen, auf der Grundlage von Interviews mit Kindern an öffentlichen Schulen entstandenen Studie vorgestellt: Demnach sagen 92 Prozent dieser Kinder und Jugendlichen, dass sie in der Vergangenheit oder aktuell unter Depressionen litten; 78 Prozent geben an, sich schon einmal selbst verletzt zu haben; 72 Prozent räumen ein, in ihrem Leben Selbstmordgedanken gehabt zu haben; 72 Prozent sprechen von Erfahrungen mit exzessivem Alkoholkonsum und/oder Drogen und 63 Prozent sagen, dass sie unter Aufmerksamkeits- und Konzentrationsproblemen litten. Was in diesem Land fehlt – und auch das ist eine Langzeitfolge der Diffamierung und Diskriminierung sozialer Arbeit während der Pinochet-Jahre – sind Studierende in den Fächern Kinderpsychologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Eine Unterstützungsstruktur für Kinder, Jugendlichen und ihre Familien, mit Anlaufstellen und ähnlichem, fehlt einfach und wird nur von extern geleistet, etwa durch von der Kindernothilfe und ANIDE unterstützten Projekte.

»Alles, was mit diesem Datum zu tun hat, bleibt eine nie verheilende Wunde«

Wie bearbeiteten Organisationen aus der Zivilgesellschaft, die - so wie eure Partner - direkt mit Kindern und Jugendlichen engagiert sind, den historischen Jahrestag des 11. Septembers 1973?

Claudia Vera: Ganz unterschiedlich. Im Projekt Belén El Cobre hatte sich das Team in den zurückliegenden Wochen gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen intensiv mit der Geschichte der Erradicaciones, der Zwangsumsiedlungen aus Las Condes nach San Luis de Macúl an die Südostperipherie von Santiago, beschäftigt, die ja auch unmittelbar mit der Entstehung des El Cobre-Zentrums zu tun haben. Und im Kinder- und Jugend-Projekt Nuestra Señora de La Victoria aus dem gleichnamigen Stadtteil der Kommune Pedro Aguirre Cerda im Westen der Hauptstadt, ging es diesem Tag natürlich – wie immer am 11. September – auch um den bei einer Polizeioperation getöteten Arbeiterpriester André Jarlan und die Erinnerung an die Jugendlichen und Erwachsenen aus diesem Armenviertel, die in den Tagen und Wochen nach dem Putsch ermordet wurden – oder von denen seit ihrer Verhaftung jede Spur fehlt.

Einen etwas anderen Akzent setzten die Kolleg*innen aus dem Projekt Colectivo Sin Fronteras im Stadtbezirk Independencia: Hier stand bei der Beschäftigung mit dem 11. September 1973 der Zusammenhang zwischen den Diktaturjahren, dem extrem nationalistischen Diskurs jener Zeit und dem aggressiv-rassistischen Klima, dem sich Kinder mit Migrationshintergrund heute in Chile ausgesetzt sehen, im Vordergrund. Ganz generell gilt für viele Nichtregierungsorganisationen, die in Chile mit Kindern und Jugendlichen arbeiten: Viele der älteren Kolleg*innen in den Teams, Großeltern und Eltern der Kinder und Jugendlichen in den Projekten, haben die Zeit des Militärregimes – aber auch die Jahre der Proteste und des Widerstands - miterlebt, zum Teil sogar selbst Angehörige verloren, Repression und Verfolgung erlitten. Für den Teil der chilenischen Gesellschaft, in dem und mit dem wir arbeiten, ist und bleibt alles, was mit diesem Datum zu tun hat, eine nie verheilende Wunde.

Jürgen Schübelin ist Sozialwissenschaftler. 22 Jahre leitete er das Lateinamerika- und Karibik-Referat der Kindernothilfe und arbeitete nach dem Erdbeben 2010 in Port-au-Prince.

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