Writing with fire
Ein Dokumentarfilm von Rintu Thomas und Sushmit Gosh
Audiobeitrag von Anna Trautwein
16.12.2022
Teil des Dossiers Feministische Kämpfe
»Journalismus für sich zu beanspruchen, ist aktiver Widerstand«, sagt die indische Filmemacherin Rintu Thomas. Was das konkret bedeutet, das zeigt sie gemeinsam mit Sushmit Ghosh in ihrem Dokumentarfilm »Writing with fire«. Darin begleiten die beiden Filmemacher*innen drei Journalistinnen und ihr 28-köpfiges Team und zeigen, wie das Team ihre ausschließlich von Frauen geführte Zeitung Khabar Lahariya in eine extrem erfolgreiche crossmediale Plattform verwandeln. Und zwar eine, die sich radikal gegen Machtverhältnisse und Gewalt auf allen gesellschaftlichen Ebenen zur Wehr setzt. Wir haben uns den Film für euch angesehen.
Shownotes
Skript zum Beitrag
Erstausstrahlung südnordfunk 2022 | Radio Dreyeckland | Autorin: Anna Trautwein
Filmausschnitt - Meera: Erzählen Sie uns von dem Vorfall. Frau: Männer brachen mit Gewalt in mein Haus ein, als ich alleine war. Sie vergewaltigten mich. Ich wurde am 16. und 8. vergewaltigt, am 19., 2., 3. und 10. Meera: In welchem Monat? Frau: Januar.
Sprecherin: Die Chefredakteurin Meera der indischen Zeitung Khabar Lahariya richtet in einem einfachen Hinterhof die Kamera ihres Handys auf die alte Frau, die vielfach Opfer von Vergewaltigung geworden ist. So beginnt der 2021 erschienene preisgekrönte Dokumentarfilm »Writing on fire« von Rintu Thomas und Sushmit Ghosh. Der Film erzählt von der einzigen Zeitung Indiens, die von Dalit-Frauen geführt wird. Im traditionellen Kastensystem Indiens sind Dalit die niedrigste Kaste, die Unberührbaren.
Filmausschnitt - Meera: Waren Sie bei der Polizei? Frau: Die Polizei weigerte sich, unsere Anzeige anzunehmen. Sie bedrohten uns und griffen meinen Mann und mich an. Diese Männer können alles tun, sogar uns beide töten.
Sprecherin: In einer von Männern dominierten und mehr und mehr gleichgeschalteten Nachrichtenlandschaft fordern die Chefreporterin Meera und ihr Team die Verantwortlichen heraus und schaffen mit ihrer Zeitung den Sprung ins digitale Zeitalter hin zu einem einflussreichen Medium in der Region und darüber hinaus. Das 28-köpfige Team arbeitet in Indiens bevölkerungsreichstem Bundesstaat Uttar Pradesh, einem Staat, der zu Fällen von Korruption, Gewalt gegen Frauen und der brutalen Unterdrückung von Minderheiten immer wieder Erwähnung findet.
»Khabar Lahariya kann getrost sagen, dass wir die Mächtigen zur Verantwortung gezogen haben.«
Chefredakteurin Meera und die zwanzigjährige Suneeta sind auf dem Weg zu einer illegal geführten Mine, in der Suneeta als Kind selbst gearbeitet hat. Dort ist vor kurzem ein Mann ermordet worden. Den Bruder des Opfers wollen sie zuerst interviewen. Der Bruder erzählt, die Mine sei geschlossen worden, doch die Mafia betreibe sie illegal weiter. Bei einem Unfall wurden mehrere Bergleute lebendig begraben. Als sein Bruder illegalen Betreiber zur Rede stellte, schlugen sie mit Steinen auf ihn ein und töteten ihn. Dies ist eine von vielen Situationen, in denen wir Zeug*innen dieser mutigen Journalistinnen werden, die die Opfer zum Sprechen bringen und Männer in verschiedenen Machtpositionen konfrontieren und zur Verantwortung ziehen. Sie konfrontieren die Polizei mit ihrer Untätigkeit, Politiker*innen mit ungelösten Problemen und fürchten sich selbst nicht, Hindu-Nationalisten öffentlich anzugehen.
Filmausschnitt - Suneeta: Macht ist sehr wichtig. Als Journalistin habe ich die Macht für Gerechtigkeit zu kämpfen. Und dafür möchte ich in Erinnerung bleiben.
Rintu Thomas: Generationen haben das Kasten-System auf viele politische und kulturelle erfindungsreiche Art und Weise bekämpft. Aber das hier ist einzigartig. Es bedeutet: die eigene Stimme zurückgewinnen. Wenn Dalit Frauen Menschen in Machtposition zur Verantwortung ziehen, ändern sich Dinge. Diese Organisation belegt das.
Sprecherin: Besonders mutig erscheint ihre Arbeit vor dem Hintergrund, dass sie als Dalit-Frauen am untersten Ende der gesellschaftlichen Hierarchie stehen. Diese diskriminierende Ideologie ist zwar inzwischen nach indischem Recht verboten, aber in vielen Teilen Indiens noch immer gängige Praxis, mit der die Journalistinnen auch in ihrem Privatleben ständig konfrontiert werden. Umso brisanter ist die Situation, weil sich Indien im Übergang von einer säkularen Demokratie zum Rechtsnationalismus befindet und die Regierungspartei versucht, das Kastensystem in jedem Aspekt des Lebens zu stärken. Hinzu kommen die patriarchalen Traditionen, denen die Journalistinnen sowohl beruflich als privat täglich die Stirn bieten:
Filmausschnitt - Suneeta: Ich liebe meine Freiheit. Ich will ein Leben ohne Einschränkungen. Ich bin gebildet, hab einen Job und sollte einen Mann meiner Wahl heiraten dürfen. Aber meine Entscheidung kann meine Familie beschämen. Soll ich meine Freiheit opfern, um die Familienehre zu wahren? Shyamkali: Mein Mann hat mich früher wegen meiner Arbeit verspottet. »Was für einen Job macht eine Frau, die nachts rausgeht? Wer weiß, was du treibst?« Er hat mich oft beleidigt, aber ich weigerte mich aufzuhören. Ich sagte, eher verlasse ich ihn als meinen Job. Dann stahl er mir mein Gehalt, misshandelte und schlug mich. Also zeigte ich ihn wegen häuslicher Gewalt an. Mein Herz gibt mir den Mut weiterzumachen.
Sushmit Ghosh: Was uns besonders interessiert hat, war die Rolle von Meera, Suneeta und Shyamkali, den Journalistinnen. Sie waren alle in unterschiedlichen Lebensphasen, sahen sich mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert. Und es gab eine gewisse Gemeinsamkeit in ihren Geschichten als Mütter, Töchter, Ehefrauen, Kolleginnen. Uns hat wirklich interessiert, wie Dalit Frauen sich durch diese Räume verhandeln, die häufig feindlich sind. Das sind Räume, in die Dalit Frauen niemals vorher eingedrungen sind.
Sprecherin: Die Filmemacher*innen haben die Journalistinnen von Khabar Lahariya in einer besonderen Phase begleitet: im Übergang von einem Printmedium hin zu einer crossmedialen Medienplattform. Die Zuschauer*innen werden Zeug*innen einer der ersten Versammlungen 2016, in der diskutiert wird, wie sie den Sprung von einer Zeitung ins digitale Zeitalter schaffen. Einige Frauen haben noch nie ein Handy in der Hand gehabt. Zu diesem Zeitpunkt erreichen ihre Videos wenige Tausend Follower. Am Schluss der Dreharbeiten werden sie die Zahl von 150 Millionen geknackt haben.
Sushmit Ghosh: Einer der Gründe, warum wir unbedingt diese Geschichte erzählen wollten: Wir wollten über eine Form des Journalismus sprechen, der nicht nur überlebt, sondern im Aufbruch begriffen ist. Mit Protagonistinnen, denen du am wenigsten zutraust Erfolg zu haben. Denn das sind Frauen, die nie Zugang zu Bildung und Technologie hatten. Aber die Tatsäche, dass sie nicht nur gewachsen sondern exponentiell gewachsen sind, macht mich als Geschichtenerzähler hoffnungsvoll.
Sprecherin: Was also ist das Geheimnis dieser jungen Journalistinnen, die allen Widrigkeiten und realen Gefahren zum Trotz kritischen Journalismus machen und damit richtig viel Erfolg haben?
Rintu Thomas: Eine der ersten Fragen, die wir uns gestellt haben war: Wie sieht eine Organisation aus, die von Frauen geführt wird? Wie verhandeln sie die Welt, wie schaffen sie diesen einzigartigen Raum für sich selbst?
Sprecherin: Hoch über den Wolken. Das Team von Khabar Lahariya auf dem Flug nach Kashmir. Alle zwei Jahre unternehmen die Frauen eine gemeinsame Reise, um sich zu entspannen, wie sie sagen. Wir sehen sie gemeinsam über einen See schippern, Tee trinken und Visionen für sich selbst und ihre Zeitung teilen. Die Filmemacher*innen schaffen es bei alle dem sehr diskret dabei zu sein. Häufig filmt die Kamera von hinten, wie eine ferne Beobachterin, die dennoch intime Situationen auffängt.
Rintu Thomas: Über die Jahre, die wir mit ihnen verbracht und mit ihnen gefilmt haben, hat sich Vertrauen zwischen uns aufgebaut. Und sie haben uns Einlass in ihre Welten gewährt. So konnten wir sehen, was es bedeutet, eine Dalit-Frau zu sein.
»Unser Journalismus wurde zur Stimme der Demokratie.«
Sprecherin: Der Film »Writing von fire« ist wahnsinnig motivierend, gerade für Menschen, die in Community Medien aktiv sind. Diese Frauen sind in vielerlei Hinsicht ein Vorbild: Darfür, wie sie es schaffen, sich selbst so fortzubilden, dass sie richtig guten Journalismus machen können und damit wirklich Einfluss nehmen. Wie sie sich umeinander kümmern und sich aufbauen, in ihrer Furchtlosigkeit und ihrem Witz. Ich habe es gefeiert, wie Meera auf den BJN-Kandidaten reagiert, als der sich beschwert, dass sie ihn außerhalb des Interviews noch vor seinem Haus filmt: »Die Zuschauer könnten von ihrem Monolog gelangweilt sein«. Oder wie Suneeta, als sie voller Misstrauen von den männlichen Minenarbeiten empfangen wird, trocken antwortet: »Statt so herablassend zu sein, könnten Sie mir ein Interview geben«.
Khabar Lahariya ist eine Antwort auf furchterregende Entwicklungen in Indien zu einem hinduistischer Autoritarismus, unter dem viele Mainstream-Medien längst nicht mehr unabhängig berichten. Und eine Antwort auf Angriffe auf unabhängigen Journalismus weltweit, der allein in diesem Jahr bereits 53 getötete und 520 inhaftierte Journalist*innen zu beklagen hat. Oder, in den Worten Meeras, mitten in einer Demonstration der Hindunationalist*innen:
Filmausschnitt Meera: Unsere zukünftigen Generationen werden uns fragen: Als sich unser Land verändert hat und die Medien zum Schweigen gebracht wurden - was habt ihr da getan? Khabar Lahariya kann getrost sagen, dass wir die Mächtigen zur Verantwortung gezogen haben. Unser Journalismus wurde zur Stimme der Demokratie. Wir ließen die vierte Gewalt nicht einstürzen. Und wir werden der Gesellschaft weiter den Spiegel vorhalten.
Erstausstrahlung südnordfunk 2022 | Radio Dreyeckland | Autorin: Anna Trautwein