»Die Kolonis­ierung begann über die Flüsse«

Interview mit Ximena González über das »Wesen« und das Recht der Flüsse

Audiobeitrag von Eva Gutensohn

07.06.2024

Die aktivistischen Kämpfe ums Wasser werden in Lateinamerika leidenschaftlich geführt. Sei es, dass ein Megastaudamm in Costa Rica verhindert oder die Rechte des kolumbianischen Flusses Atrato vom Verfassungsgericht verankert werden sollen. Doch welche politisch-juristischen, aber auch sozialen oder gar spirituelle Motivationen stecken dahinter? Wie sieht so ein Kampf ganz konkret aus? Und gibt es so etwas wie ein »Wesen« des Flusses? Darüber sprachen wir mit der Menschenrechtsaktivistin und Anwältin Ximena Gonzalez am Beispiel von Kolumbien.

Die Menschenrechtsanwältin Ximena Gonzalez hat über 15 Jahre mit indigenen Schwarzen und kleinbäuerlichen Gemeinden zusammengearbeitet, um Territorien und Flüsse vor Gericht und außerhalb zu verteidigen. * Derzeit forscht sie zu Umweltkonflikten, Extraktivismus und nicht-menschlichen Rechten sowie sozialer und legaler Mobilisierung in Kolumbien und Guatemala.


Skript zum Audiobeitrag

Erstausstrahlung am 4. Juni 2024 im südnordfunk #121 bei Radio Dreyeckland

südnordfunk: Wir sprechen über Wasserkämpfe in Kolumbien. In einem Workshop hast du gesagt, dass die Flüsse kolonisiert werden oder wurden. Was genau ist damit gemeint?

Ximena González: Die Kolonisierung in Lateinamerika, aber auch in anderen Kontinenten wie Afrika, begann über die Flüsse. Das Eindringen in den Kontinent geschah quasi über die Flüsse. Hinzu kommt, dass in unserem Kontext Wasser immer anders gedacht wurde. Es waren einfach andere Werte damit verbunden. Wir reden hier von Beziehungen, die sehr praktisch sind. Sie können materieller, aber auch spiritueller Art sein. Ein Beispiel: Der Rio Atrato, der Fluss, den ich in Kolumbien am besten kenne, wird von den Einheimischen nicht einfach als eine Ressource oder ein Objekt angesehen. Er ist wirklich ein Wesen, er hat eine Existenz. Und er ist ein Ort, mit dem man zusammenlebt. Es ist der Ort, wo sich die Menschen und ihre produktive Aktivität organisieren.

Wie ist die Bevölkerung, vor allem die indigene Bevölkerung, mit diesem Wesen des Flusses verbunden? Kannst du diese Interdependenzen noch mal ein bisschen konkretisieren?

Es geht hier nicht so sehr um indigene Gemeinschaften, sondern tatsächlich um afro-kolumbianische, die diesen Fluss bevölkert haben. Und die Art und Weise, wie sie sich entlang der Achse am Fluss entlang organisiert haben, darauf kommt es an. Der Fluss ist schlussendlich ihre Nahrungsquelle. Es ist auch der Ort, an dem sie ihr Gesundheitswesen organisieren, aber auch so etwas wie Freizeit und sogar Spiritualität.

Wird der Fluss so vermenschlicht? Oder eher im religiösen Sinne angebetet, gehuldigt, verehrt? Weil die Menschen eben auch abhängig sind von dem Fluss und ihn deswegen auch bewahren und schützen wollen und eben nicht ausbeuten? Worin besteht das Wesen des Flusses?

Der Fluss ist ein Wesen, eine eigene Existenz mit der man zusammen­lebt.

Der Fluss ist ein Wesen, das man respektiert. Dieses Wesen wird beobachtet, man hört ihm genau zu. Man muss ihn auch fühlen. Man muss genau auf die Änderungen achten, zum Beispiel, wenn mehr Wasser oder weniger Wasser da ist, weil das einen starken Einfluss auf die Produktion von Waren oder auf das Fischen hat. Man muss sich auch beim Fluss bedanken und Tribut zollen: Die Menschen bringen zum Beispiel Blumen hin oder bedanken sich. Und klar, das ist schlussendlich eine religiöse Dimension und auch ein Ergebnis der Kolonialisierung, da wurden auch sehr viele religiösen Feste am Fluss gefeiert.

Bewohntes Ufer des Rio Atrato - Häuser grenzen ans Ufer
Ufer des Rio Atrato bei Ahora | Foto: Wikimedia CHOColombia CC BY-SA 3.0

Eine Forderung ist, dass der Fluss ein juristisches Subjekt wird, dass er aktive Rechte erhält. Natürlich kann ein Fluss diese Rechte nicht selber einklagen, das müssten Menschen für ihn übernehmen. Es ist erstaunlich, dass ein Element, ein Gegenstand, also nicht ein Mensch, ein juristisches Subjekt sein soll. Wie begründest du das? Wie lässt sich das juristisch begründen?

Schlussendlich ist es natürlich eine menschliche Idee, dem Fluss so etwas wie Rechte zu geben. Und in dem konkreten Fall war es auch nicht etwas, das die Gemeinden gefordert haben. Es war ein Ergebnis ihres Kampfes, in dem es hauptsächlich darum ging, die Zerstörung aufzuhalten. Daraus hat sich dann diese neue legale Form ergeben. Und das wirft einfach neue Fragen auf: Was, wenn es eben nicht immer nur Rechte für die Menschen gibt, sondern Rechte für Dinge, die uns Menschen einfach als wichtig erscheinen?

Also ist die Bedingung für diese Rechte, dass sie am Ende den Menschen helfen und nützen? Oder wäre es auch vorstellbar, dass die Rechte des Flusses schwerer wiegen als Menschenrechte?

Diese verschiedenen Kategorien, Rechte für Menschen und Rechte für Nicht-Menschen, sind Kategorien, die durch uns Menschen entstanden sind.

Kannst du vielleicht ein konkretes Beispiel nennen für aktivistischen Kämpfe um das Wasser? Welche Aktionsform oder welche politischen Forderungen spielen da eine Rolle?

Der Fluss ist Freiheit, Bewegung und Nahrungs­quelle.

Um das Jahr 2011 war es zum Beispiel so: Das ganze Tal um den Fluss war sehr stark von Paramilitärs kontrolliert. Und die afro-kolumbianischen Gemeinschaften konnten eben nicht einfach mal dorthin gehen und fischen oder sich entlang des Fluss frei bewegen. Das heißt, sie haben sich zusammen organisiert, so etwas wie eine Karawane gebildet und alle Gemeinschaften, auch die von den Nebenflüssen, haben sich angeschlossen, um gemeinsam als größere Gruppe aufzutreten. Sie trugen weiße Fahnen: Es ging darum, Frieden herzustellen. Und sie haben dazu eingeladen, ein Statement abzugeben. Es waren sehr viele Institutionen und Akteur*innen dazu eingeladen. Die Deklaration hieß »un buen trato para rio atrato«. Das ist ein Wortspiel, das lässt sich schwer übersetzen, es bedeutet: »Lasst uns den Atrato Fluss richtig behandeln«. Damit bildete sich eine größere Allianz, um der ganzen Bewegung eine gemeinsame Stimme zu geben, um wieder Zugang zum Fluss zu bekommen.

Was wäre deiner Meinung nach die ideale Nutzung des Flusses und des Wassers vor Ort?

Der Fluss ist Freiheit, der Fluss ist Bewegung, der Fluss ist auch Nahrungsquelle. Die Menschen und der Fluss sind voneinander abhängig und es geht darum, den Respekt wiederherzustellen. Der Fluss ist also keine Einheit, die außerhalb der Menschen liegt. Es geht darum, in diesem Kampf festzustellen, dass wir eins sind. Ich glaube, dass wir das können.

Eva Gutensohn vom südnordfunk traf Ximena González in der Katholischen Akademie in Freiburg bei der Veranstaltung »Kämpfe um Wasser in Lateinamerika« Ende April 2024. Musik im Beitrag: Zully Murillo - Pero Vivo Estoy - Son de Amores.

 

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