Chile: Geplatzter Traum
Fotoreportage über das Scheitern der progressiven Verfassung
Chile blickt zurück auf turbulente Jahre: Von den Sozialprotesten 2019 bis zur Abstimmung über den neuen Verfassungsentwurf 2022. Eine Zeit der politischen Hoffnungen – und Enttäuschungen: Im September lehnte eine große Mehrheit der Chilen*innen die neue Verfassung per Volksabstimmung ab. Eine schwere Niederlage für die politische Linke und alle, die die neoliberale Verfassung aus Zeit der Diktatur Augusto Pinochets durch einen progressiven Entwurf ersetzen wollten. Die Journalistin und Fotografin Nicole Kramm porträtiert seit der Sozialrevolte 2019 Menschen, die für den politischen Wandel auf die Straße gingen. Bei ihrer Arbeit verlor sie während der Proteste vor drei Jahren durch ein Gummigeschoss den Großteil der Sehkraft eines Auges. Die iz3w sprach mit ihr damals über die Möglichkeiten politischer Fotografie und die Lage im Land. In einer Fotoreportage fängt sie die Stimmung vor dem Referendum im September 2022 auf öffentlichen Plätzen ein, gewährt Einblicke in die Wahllokale und zeigt die Stimmung nach dem Scheitern und dem Aus für den Verfassungsentwurf.
Auszug aus einem Interview mit Nicole Kramm
iz3w: Unter Ihren Arbeiten finden sich viele Porträts. Was ist Ihnen beim Fotografieren der Menschen wichtig?
Nicole Kramm: Ich möchte zunächst die Leute kennenlernen, die ich abbilde. Ich verbringe erst einmal Zeit mit ihnen und möchte wissen, wie sie zu dem gekommen sind, was sie machen. Grundsätzlich berichte ich über Menschen, die für etwas kämpfen oder ein Unrecht anklagen. Wenn ich etwa zu den Bewohner*innen eines ärmeren Randbezirks gehe, versuche ich, ihre Anliegen herauszustellen und sichtbarzumachen.
Könnte man also sagen, dass es bei Ihrer Fotografie darum geht, Menschen zu ermächtigen?
Ja, ich möchte die Menschen mit der Sprache meiner Bilder ermächtigen. Ich versuche, die abgebildeten Personen als mutig und furchtlos darzustellen. Wenn ich beispielsweise mit einer Frau spreche, die ich als stark empfinde, etwa eine Aktivistin oder Journalistin, dann passt sich auch mein Blick entsprechend an. Ich mache zum Beispiel ein Foto, auf dem sie riesengroß aussieht. Auf der anderen Seite zeige ich natürlich auch die unschönen Dinge. Bei den jüngsten Sozialprotesten gab es viele Verletzte. Repression darf man nicht beschönigen, aber man kann die Solidarität der Menschen mit den Verletzten zeigen. Auch die Geschichten der Repression lassen sich so erzählen, dass sie den Zusammenhalt der Menschen aufzeigen.
Wie man auf Ihren Fotos sieht, ist Chiles Protestbewegung auffallend jung. Woran liegt das?
In Chile ist es immer die Jugend, die auf die Straße geht. Die älteren Generationen haben oftmals mehr Angst, weil sie schon so oft kriminalisiert wurden. Das konnte man bereits zu Zeiten der Regierung Salvador Allendes sehen, ebenso im Widerstand gegen die Diktatur, bei den Schüler*innenprotesten 2006 und den Studierendenprotesten 2011. Die Jugendlichen haben das Gefühl, dass sie nichts mehr zu verlieren haben. Wenn wir weder das Recht auf Frieden, noch Wohnraum, noch einen Studienplatz haben – was bleibt uns dann übrig, als auf die Straße zu gehen? Die Angst haben wir verloren.
Das Interview führte und übersetzte Christian Neven-Dumont. Es erschien in voller Länge in der iz3w Printausgabe 387