Karteikarten mit Verzeichnisschriften
Buchcover Kartei des Terrors | Motiv: schmetterling verlag

Der Buchhalter des Bösen

Rezensiert von Jürgen Karwelat

08.11.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 392

In Kartei des Terrors behandeln Dieter Maier und Luis Narváez Dokumentenbestände der deutsch-chilenischen Sektensiedlung Colonia Dignidad, die erst 2005 von der chilenischen Polizei sichergestellt wurden. Darunter sind mehr als 45.000 Karteikarten. Sie sind das Lebenswerk des Sektenmitglieds Gerd Seewald, der zum Führungskreis der Sekte gehörte. Auf ihnen sammelte er Informationen über tatsächliche und angebliche Gegner der Pinochet-Diktatur. Diverse Eintragungen lassen darauf schließen, dass teilweise Informationen durch Folter erpresst worden waren. Mit ihnen konnten Verhaftete verunsichert und unter Druck gesetzt werden, um ihren Widerstandswillen zu brechen.

Das Buch bietet dabei wesentlich mehr Inhalte als die Analyse der vielen abgebildeten Karteikarten. Häufig werden Detailkenntnisse zu den inneren Verhältnissen der verfolgten oppositionellen Parteien dargestellt. Viele Kapitel beschäftigen sich mit der Zerschlagung der Linksparteien in der Region. An den überwachten Personen war nahezu alles von Interesse. Auch sexuelle Kontakte oder angebliche Fehltritte wurden notiert. Wie tief sich die Autoren in die Karteikarten eingearbeitet haben, ist auch daran erkennbar, dass es ihnen in vielen Fällen gelungen ist, die auf einer Karte verwendeten Kürzel für die Informant*innen jeweiligen realen Personen zuzuordnen. Mit der Darstellung verschiedener Karten entwickeln die Autoren ein Bild von der Sekte, das besonders ihren Verfolgungswahn herausstellt. Seewald, der in Folge des Dokumentenfunds verurteilt wurde und 2014 im Gefängnis starb, wird von ihnen als der »Buchhalter des Bösen« bezeichnet.

Das Buch ist eine Fundgrube für Spezialist*innen, die sich mit der Geschichte der deutschen Sekte befassen. Für Leser*innen ohne Vorwissen wäre eine Kurzdarstellung der Sekte einschließlich ihrer deutschen Vorgeschichte am Anfang des Buches sinnvoll gewesen. Auch die Darstellung der Geschichte und des Aufbaus des Karteikartenarchivs wäre an früherer Stelle sinnvoll. So werden die Leser*innen direkt mit den Einzelheiten der chilenischen Geschichte um den Putsch gegen den Präsidenten Allende am 11. September 1973 konfrontiert. Das ist spannend. Es dauert aber etwas, bis man sich orientiert und eingelesen hat.

Die beiden Autoren haben zudem mit Unterstützung des Hamburger Instituts für Sozialforschung eine Onlinedatenbank aufgebaut, in der die Karteikarten für Recherchezwecke digitalisiert zugänglich sind. Dieses findet sich unter www.fichas-chile.com.

Dieter Maier und Luis Narváez: Kartei des Terrors: Notizen zum Innenleben der chilenischen Militärdiktatur (1973 – 1990) aus der Colonia Dignidad. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2022. 318 Seiten, 29,80 Euro.

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