Reise an den Rand der Utopie
Rezensiert von Larissa Schober
29.04.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 402
Der Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin erzählt in seinen Memoiren Es ist Krieg und wir gehen hin von seiner Zeit als Arzt bei den jugoslawischen Partisan*innen. Gemeinsam mit seiner späteren Frau Goldy Parin-Matthéy und drei weiteren jungen Ärzten organisierte Parin eine chirurgische Mission der Schweizer Ärzte- und Sanitätshilfe. Die Gruppe unterstützte von 1944 bis 1946 die jugoslawische Partisanenarmee mit medizinischem Equipment und Know-how. Parin schildert eindringlich, wie eine Gruppe junger Menschen beschließt, sich aus der sicheren Schweiz mitten im Zweiten Weltkrieg nach Jugoslawien aufzumachen. Welche politischen Verstrickungen davor zu bewältigen sind, welches Leid sie vor Ort erfahren, aber vor allem, wie sich die jungen Schweizer*innen bei den Partisan*innen in einer befreiten Gesellschaft wiederfinden – auch wenn die Utopie nur von kurzer Dauer sein wird.
Parin schreibt ohne Verzweiflung und Bitterkeit über den Augenblick, in dem alles möglich war.
Parin hat seine Erinnerungen erst Ende der 1980er-Jahre aufgeschrieben, das Buch erschien erstmals 1991 – als Jugoslawien bereits zerfiel. Dessen war sich Parin beim Schreiben schmerzlich bewusst. Die vielleicht spannendsten Stellen des Buches sind seine Reflexionen über den Zerfall – sowohl Jugoslawiens als auch bereits davor des Sozialismus. Parin schreibt mit einer großen Wärme und Anteilnahme über das, was Goldy und er stets als »die beste Zeit unseres Lebens« bezeichnet haben. Das geschieht ohne jegliche Verklärung und mit scharfem politischem Gespür, was das Buch zu einer hervorragenden Analyse der Zerfallsbewegung Jugoslawiens macht. Es ist aber auch und vor allem ein emphatisches Nachdenken über die Möglichkeit der befreiten Gesellschaft. Parin hat den utopischen Moment im Partisanenkampf erlebt, aber auch wie dieser vom bürokratischen Sozialismus zerstört wurde. Und schließlich den brutalen Zerfall des sozialistischen Staates. Dennoch schreibt er fast 50 Jahre später ohne jegliche Verzweiflung und Bitterkeit über den Augenblick, in dem alles möglich war. Trotz allem hält er an der Möglichkeit der befreiten Gesellschaft fest – reflektiert und realistisch. In seinem Schreiben liegt eine unglaubliche Kraft, die das Buch auch gerade in den heutigen Krisenzeiten so aktuell macht. Es hätte ursprünglich den Titel »Reise an den Rand der Utopie« tragen sollen, dieser erschien dem Verlag mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus unpassend. Vielleicht ist es Zeit, wieder über diese nachzudenken. Parins Buch bietet einen wunderschönen und kritischen Ausgangspunkt – gegen das Verzweifeln und gegen das Aufgeben.