»Solange der sozialistische Alltag nicht vorkam, war vieles möglich«

Russischer Science Fiction

Audiobeitrag von Béla Hubensdorf

12.12.2022

Science Fiction ist in Russland sowohl mit Propaganda als auch mit Gesellschaftskritik verknüpft: Das Genre erlaubt, andere Zivilisationsformen und Entwicklungswege als die des Kommunismus zu denken. Zugleich kolonisiert Science Fiction die Vorstellungswelten des fiktional Möglichen und damit auch das Verhältnis zur Gegenwart. Béla Hubensdorf hat mit Matthias Schwartz über das Genre Science Fiction in Russland gesprochen.

Shownotes


Skript des Interviews

Erstausstrahlung südnordfunk am 6. Dezember 2022 | Radio Dreyeckland | Autor: Béla Hubensdorf

Matthias Schwartz: Science Fiction ist immer das, was die Leute und Leser*innen in der jeweiligen Zeit darunter verstehen. Man kann ganz allgemein sagen, dass Science Fiction, wie der Name schon sagt, etwas mit Wissenschaft zu tun hat. Die wiederum hat oft etwas mit Zukunft und Technik zu tun und mit der Vorstellung, wie Gesellschaft sich weiterentwickeln kann. Wie inklusiv der Begriff genutzt wird, zeigt sich an der Diskussion darüber, ob Science Fiction eine moderne Gattung ist oder ob schon frühe fantastischen Geschichten der Antike dazu gehören, weil darin Technik vorkam. Darüber gibt es in der Forschung ganz unterschiedliche Ansichten.

Sprecher: Matthias Schwartz ist stellvertretender Direktor des Leibniz Zentrums für Literatur- und Kulturforschung und Experte für verschiedene kulturelle Bereiche, insbesondere auch für die sowjetische Science Fiction. Wir haben mit ihm über das Genre in Film und Literatur gesprochen.

Matthias Schwartz: Es gibt ein wegweisendes Buch von John Rieder, der die Ursprünge der Science Fiction auf die koloniale Abenteuerliteratur zurückführt. Er sagt, in der Moderne war Science Fiction eigentlich eine umgekehrte Abenteuerliteratur. Klassische Abenteuerliteratur hat immer davon gehandelt, dass der ‚überlegene, rationale, höher entwickelte‘ Westen in den ‚unterentwickelten‘ Globalen Süden oder auch an die Peripherien des eigenen Landes geht und sich dann – aufgrund seiner maskulinen Überlegenheit – gegen indigene ‚rückständige‘ Kulturen durchsetzt. Aber diese Literatur ist auch fasziniert von der Exotik der immer weiblich codierten Natur mit maskulinen Körpern und Frauenfantasien. Science Fiction nimmt das auf und projiziert diese Fantasie auf die eigene Gesellschaft. In der Sowjetunion der 1920er-Jahre war das eine populäre Unterhaltungsliteratur, die gerade auch von den frisch alphabetisierten Arbeiter*innen, sowie Bauern und Bäuerinnen gelesen wurde. Da das ein noch relativ freier Buchmarkt war, war Science Fiction eine willkommene Abenteuerliteratur.

Sprecher: Doch das blieb nicht so. die Zwar war Science Fiction in der Sowjetunion bis Mitte der 1920er-Jahre nicht wesentlich anders gelagert als im Westen. Das hat sich mit der rigider werdenden Kulturpolitik Ende des Jahrzehnts geändert:

Matthias Schwartz: Ende der 1920er-Jahre ist überhaupt erst der sowjetisch russische Begriff für Science Fiction aufgekommen, derjenige der Nauchnaja Fantastika, der wissenschaftlichen Fantastik. Man hat damit gesagt: Wir schreiben eben nicht so eine vollkommen weltabgewandte bourgeoise Fantastik, wie sie im Westen geschrieben wird, sondern eine wissenschaftliche Fantastik.

Eine, die auf Wissenschaften basiert und wo wir darstellen, wie die sozialistische Zukunft aussehen kann und welche potenziellen Wege es in diese Zukunft geben kann. Und als solch wissenschaftliche Fantastik war sie immer theoretisch und konzeptuell sehr umstritten, wird immer wieder zensiert, reguliert und versucht, auf Linie zu bringen. Gleichzeitig verliert sie sehr stark an Popularität.

Science Fiktion Romane fielen ein bisschen aus den klassischen Zensurkriterien heraus

Und dann gibt es diese Periode der 1950er-, 60er-Jahre, das sogenannte Tauwetter in der Sowjetunion. Sie ist neben der Phase der Dekolonisierung gleichzeitig die Periode, in der die Sowjetunion plötzlich in der Weltraumfahrt enorme Erfolge hat. Die Sowjets schießen 1957 den ersten Satelliten, den Sputnik, in den Weltraum. 1961 folgt mit Gagarin der erste Mensch, und 1964 ist dann die erste Frau im Weltraum, Valentina Tereschkowa. Im Zuge dieser Weltraumbegeisterung, die sehr stark ist, kann die Sowjetunion das erste Mal zeigen, dass sie nicht nur gleichwertig ist mit dem kapitalistischen Westen, sondern ihn in gewissen Bereichen sogar überholt hat. *Genau hier wird dann plötzlich Science Fiction das Medium; vor allen Dingen Science Fiktion Literatur.

Sprecher: Im Film kommt dieser Bezug gut zur Geltung: »Und für alle uns Menschen der Erde werden Heldentaten am Himmel vollbracht. Der erste Astronaut ist genau wie du. Er ist dein Landsmann. Sei stolz auf ihn und dich.« * ).

Matthias Schwartz: Die Science Fiction hatte damals Möglichkeiten, die in der realistischen Literatur nicht gegeben waren. Schriftsteller*innen haben festgestellt, dass sie einfach Zivilisationen zeigen, die eine andere Entwicklung durchlaufen haben, die vielleicht kapitalistisch sind. Sie können da soziale, kulturelle, politische und auch philosophische Fragen diskutieren, die für eine realistische Literatur, die auf der Erde spielt, nicht möglich sind.

Fiktionen von einem Krieg der Welten und einer Militarisierung des Weltraums wurden immer als kapitalistische Horrorvision abgetan

Boris Strugatzki, einer der Strugatzki Brüder, die zu den bekannteren Autor*innen dieser Zeit zählen, sagte: Science Fiction war damals auch eine Art zu denken. Man konnte sich auch nicht humane Gesellschaften ausdenken, andere Zivilisationsformen und auch andere Entwicklungswege als die hin zum Kommunismus. Die Spezifik der sowjetischen Science Fiction in diesen Jahren war – immer auch als eine ganz bewusste Abgrenzung zur westlichen Science Fiction – die einzige Prämisse. Es herrschte natürlich der historische Materialismus und das marxistische Geschichtsverständnis. Das heißt, früher oder später würde sich eigentlich jede hochentwickelte Zivilisation hin zum Kommunismus entwickeln. Diese Fiktionen von einem Krieg der Welten, von einer Militarisierung des Weltraums wurden hingegen immer als kapitalistische Horrorvision und typisch kapitalistische Zukunfts- und Weltraumdarstellungen abgetan. Daher findet man solche Darstellungen sowjetischer Science Fiction nur ansatzweise oder höchstens als Verfallsprodukte, oder bei »unterentwickelten Gesellschaften«. Höhere Zivilisationen wie bei HG Wells *, die irgendwie aggressiv militaristisch auftreten, sind ein seltener Fall. Sie kommen eher als gesellschaftliche Fehlentwicklungen vor.

Sprecher: Leben und glauben ist wunderbar. Vor uns liegen noch nie dagewesene Wege. Die Astronauten und Träumer behaupten, dass es auf dem Mars Apfelbäume geben wird. (Übersetzung des russischsprachigen Liedes aus dem Film: „Mit Gagarin zu den Sternen“)[CT8]


Matthias Schwartz: Kolonisierungsfantasien in dem Sinne, dass die sowjetische oder irdische menschliche Zivilisation den Weltraum erobert und vielleicht andere Zivilisationen adaptiert, gibt es kaum. Die sogenannten First Contact Geschichten – auch das war eine große innere Debatte, die sogenannte Anthropozentrismus Debatte: Wie sehen diese Zivilisationen aus? Es ging immer um diese Fragen: Wie können wir mit denen kommunizieren? Können wir überhaupt mit ihnen kommunizieren? Welche anderen Zivilisationen sind vorstellbar und wie wird die Kontaktaufnahme aussehen? Und wie vermeiden wir eine militärische oder sonstige Eskalation aufgrund von Missverständnissen? Das war eher das Thema, das fasziniert hat – und stand zugleich in Abgrenzung zu diesen eher westlichen Kolonialfantasien im Zentrum der Geschichten. Es gibt den Begriff der Kolonisierung des Weltraums, doch das war eigentlich eher eine Besiedlung des jungfräulichen, noch nicht besiedelten Weltraums. Das sind nicht die Geschichten, die eine größere Leserschaft fasziniert hat. Das berühmteste Beispiel für diesen Kontakt mit anderen Welten, im Westen, ist Stanislaw Lems Roman Solaris, kein sowjetischer, sondern ein polnischer Schriftsteller. In diesem geht es auch ganz stark um die Grenzen des menschlichen Denkens. Können wir uns überhaupt vorstellen, anderen intelligenten Lebensformen zu begegnen? Dieses Thema war weitverbreitet in der Zeit.

Sprecher: Wir wollen nicht den Kosmos kolonisieren, wir wollen die Erde bis an ihre Grenzen erweitern. Wir wissen nicht, was wir mit anderen Welten anfangen sollen. Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen einen Spiegel. Wir suchen verzweifelt nach einem Kontakt, aber wir werden ihn nie finden. Wir sind in der dummen Position von jemandem, der überstürzt nach seinem Ziel greift, das er aber eigentlich gar nicht braucht. Ein Mensch braucht einen Menschen. *

Matthias Schwartz: Science Fiction wurde ein Propaganda Genre, weil es eng mit menschlicher Raumfahrt verknüpft war und es naheliegend war zu zeigen, wie die sozialistische Eroberung und Besiedlung des Weltraums stattfinden wird. Man hatte gehofft, auch die Bevölkerung stärker für die Raumfahrt, für Wissenschaft und Technik zu begeistern. In der Genese fand das in sehr kurzer Zeit statt. Ich habe ja Solaris genannt, ein Roman, 1961 geschrieben, erschienen im Jahr von Gagarins Weltraumflug.

Die Autor*innen, die in diesem Bereich geschrieben haben, interessierten sich eigentlich für ganz andere Themen. Und über die konnten sie dann auch schreiben, da diese Science Fiktion Romane eben ein bisschen aus den klassischen Zensurkriterien herausfielen.

Sprecher: Der Grad zwischen Unterhaltungsliteratur und Gesellschaftskritik ist schmal, vor allem im Science Fiction. Solange der sozialistische Alltag nicht vorkam, war vieles möglich.

Matthias Schwartz: Das Spannende – und was die Leser*innen faszinierte –, war dann, was die Held*innen außerhalb der Erde erlebten. Dafür hatte man keine klaren Zensurkriterien, was enorme Freiheiten schuf. Das gilt für die 60er-Jahre. Aber es gibt dann zunehmend gerade in der Sowjetunion der 70er-Jahre Autor*innen, die dennoch massive Probleme bekamen. Romane wurden verboten. Oder sie konnten ihre Werke nur noch in kleinen Verlagen unterbringen, ihre Werke wurden dann meist auch nicht mehr übersetzt.

»Leben und glauben ist wunderbar. Vor uns liegen noch nie dagewesene Wege. Die Astronauten und Träumer behaupten, dass es auf dem Mars Apfelbäume geben wird.«

Übersetzung des russischsprachigen Liedes aus: »Mit Gagarin zu den Sternen«

Sprecher: Spannend wurde es, wenn es um den Globalen Süden ging: Als Global Player im Kalten Krieg spiegelten sich die Konflikte auch in der internen Kulturproduktion wieder. Science Fiction spielte hier nur eine marginale Rolle, war aber dennoch davon geprägt.

Matthias Schwartz: Im Kalten Krieg, der war kalt und eingefroren. Aber es gab natürlich die heißen Konflikte im Globalen Süden, wo die unabhängig gewordenen Nationalstaaten nicht überleben konnten, wenn sie sich nicht auf eine Seite geschlagen haben. Die Sowjetunion war da sehr aktiv und hat die Befreiungsbewegungen unterstützt. Und es gab eine Vielzahl von Staaten, von Ägypten über Ghana, die alle erstmal sozialistische Politiken verfolgten. Insbesondere im Antikolonialen – was dann auch etwas antikapitalistisches war –, weshalb teilweise mit der Sowjetunion zusammengearbeitet wurde.

Und dann kam es zu einem heißen Kampf, bis hin zu den ganzen blutigen Putschen und Gegenrevolution. Hier war die Sowjetunion sehr involviert, die Kämpfe haben in der internen Propaganda ihren Platz gefunden. Nach Innen hat die Befreiungsbewegungen des Globalen Südens eine enorme Rolle gespielt, auch in der kulturellen Produktion, mit Schriftsteller*innen und Reiseberichten. Das war durchaus in den Medien präsent.

Bereits in den 1920er-Jahren gab es den Internationalismus. Damals wurde von der Weltrevolution gesprochen, hier wurde von Anfang an immer auch die Befreiung der afrikanischen und asiatischen Länder von der Kolonialherrschaft thematisiert. Das Antikoloniale der Sowjetunion war ein ganz starkes Topic. Intern war das ambivalent, weil sie selber auch Kolonialpolitik betrieben hat. In Zentralasien in den Republiken etwa mit der zwangsweisen »Emanzipation«, wie es im sowjetischen Terminus hieß, von Feudalstaaten oder feudalen Ländern aus kolonialer Herrschaft. Die mussten dann den Kapitalismus überspringen kamen direkt im Sozialismus an.

Sprecher: Ich bin mit weit entfernten Sternen befreundet. Sorgt euch nicht um mich und seid nicht traurig. Als wir unsere Erde verließen, versprachen wir, dass es auf dem Mars Apfelbäume geben würde.

Erstausstrahlung südnordfunk # 103 am 6. Dezember 2022

Béla Hubensdorf studiert in Freiburg und ist im AKA Filmclub engagiert.

Unsere Inhalte sind werbefrei!

Wir machen seit Jahrzehnten unabhängigen Journalismus, kollektiv und kritisch. Unsere Autor*innen schreiben ohne Honorar. Hauptamtliche Redaktion, Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit halten den Laden am Laufen.

iz3w unterstützen