Tourismus zu den Gedenkstätten der Gräueltaten der Roten Khmer

Hörbeitrag vom 5. Juli 2022 im südnordfunk #98

Audiobeitrag von Martina Backes

12.11.2022
Teil des Dossiers Dark Tourism

»Kambodscha, Reisen in ein traumatisiertes Land«, so lautet der Titel eines Reiseführers. Das schwere Erbe der Gewaltverbrechen der Roten Khmer (1975 bis 1979) belastet die kambodschanische Gesellschaft bis heute. Zwei Orte in Kambodscha, an denen das Pol Pot Regime systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, werden von Kambodschaner*innen und wesentlich mehr internationalen Tourist*innen besucht. Der Leiter des Tuol Sleng Genozid Museums, Hang Nisay, hofft mit der jungen Generation auf weitere Schritte für eine Aufarbeitung.

Audiobeitrag

Shownotes


Ausstellungstafeln mit Porträts der ehemals Inhaftierten im Tuol Sleng Genozid Museum
Die Gefangenen wurden direkt nach ihrer Ankunft im S-21 fotografiert | Foto: Jean-Sien Kin | tuolsleng.gov.kh

Skript zum Beitrag

Erstausstrahlung am 5. Juli 2022 im südnordfunk # 98  | Radio Deyeckland | Autorin: Martina Backes

Phnom Penh. Kambodscha. Rote Kleinbusse mit der Aufschrift The Killing Fields Tour bringen Tourist*innen an einen der Erinnerungsorte der Verbrechen des einstigen Regimes der Roten Khmer. Zum Tuol Sleng Genocide Museum, auf dem Gelände des „Büro S-21“ – einem ehemaligen Foltergefängnis – im Herzen der Stadt. Oder zu einer der Mordstätten, den Killing Fields, rund 17 Kilometer vom Zentrum entfernt. Das Choeung Ek Genozid Zentrum ist eine dieser Gedenkstätten.

Hang Nisay: „Manchmal kommen sowohl nationale als auch internationale Besucher*innen gemeinsam. Vor allem diejenigen, die im Ausland leben und nach Kambodscha zurückgekehrt sind, wollen ihren Freunden das Museum zeigen. Ich habe hier Leute aus den USA getroffen, aus Australien, aus Belgien und Frankreich, zusammen mit ihren kambodschanischen Freunden."

Hang Nisay ist Direktor des Tuol Sleng Genozid Museums in Phnom Penh. Das Museum ist einer der beiden Gedenkorte an die Schreckensherrschaft des Pol Pot Regimes in Kambodscha, die vom Staat unterhalten werden.

Hang Nisay: „Ich habe selber als Guide hier gearbeitet. Es ist wirklich harte Arbeit, über die Gräueltaten der Roten Khmer zu berichten, über die Verbrechen und das Leid der kambodschanischen Familien – und für mich insbesondere über das meiner Mutter. Aber ich denke, es ist eine wichtige Arbeit und für mich eine sehr wichtige Aufgabe, diese Informationen weiterzugeben.

Über 2.000 Fotos von Opfern der Willkürherrschaft sind in dem Museum in langen Reihen ausgestellt, ohne weitere biografische Informationen.

Zitat Barbara Thimm: „ Als ob dies die Darstellung der Sichtweise der Institution, die sie verfolgt hat, wiederholen wollte“, schreibt Barbara Thimm in der iz3w. Sie arbeitet derzeit als Friedensfachkraft in Kambodscha. „Eine anonyme Masse von Menschen, die nicht als Individuen erinnert werden sollten."

„Zu sehen ist eine große Anzahl an Fotografien der Gefangenen, aufgenommen im Moment ihrer Einlieferung."

In dem Museum entstand eine Dauerausstellung, deren Kernbestand und Botschaft sich kaum verändert hat, seit das Gefängnis S-21 im Januar 1979 – wenige Tage nach der Flucht der Roten Khmer aus Phnom Penh – von zwei vietnamesischen Kameraleuten entdeckt worden war – mit Spuren, Dokumenten und Objekten: Folterinstrumente zum Beispiel.

Zitat Barbara Thimm: „Zu sehen ist eine große Anzahl an Fotografien der Gefangenen, aufgenommen im Moment ihrer Einlieferung und Gemälde von Vann Nath, einem der wenigen Überlebenden, der die Haftbedingungen und Foltermethoden in S-21 naturalistisch dargestellt hat."

Das „Büro S-21“, so der offizielle Name der Folter- und Mordstätte in Phnom Penh, unterstand direkt dem Zentralkomitee der Partei der Bewegung der kommunistischen Roten Khmer. Die Bewegung erstarkte in den 1960er Jahren und kontrollierte von April 1975  bis Januar 1979 das gesamte Land. In dieser Zeit starben zwischen 1,7 und 2,2 Millionen Menschen unter den gewaltsamen Arbeits- und Lebensbedingungen, oder weil sie getötet wurden. Die Roten Khmer mordeten auf der Suche nach inneren Feinden, sie töteten in den Dörfern. Oder sie erpressten in einem der über 190 Gefängnisse Geständnisse unter Folter. Ins S-21 verschafft zu werden, kam einem Todesurteil gleich. Schließlich marschierten vietnamesische Truppen im Nachbarland Kambodscha ein und beendeten das Terror Regime.

Tuol Sleng ist der Name einer ehemaligen Grundschule. Das Museum steht also auf einem alten Schulgelände, mit vier Betonbauen aus den 60er Jahren. Die vietnamesische Regierung nutzte den Ort, auch weil sie ihre Anwesenheit im Land nach ihrem Einmarsch legitimieren musste. Sie führte hier einen Schauprozess gegen Pol Pot, dem politischen und militärischen Führer der Roten Khmer, und gegen Ieng Sary, seinem Außenminister und Schwager.

Ein international anerkanntes Tribunal fand erst Jahre später statt: Das Khmer Rouge Tribunal, mit dessen Abschluss in 2022 gerechnet wird, kam spät in die Gänge. Inzwischen beschreibt ein Museumskatalog die juristische Aufarbeitung der Verbrechen seit 1979 sehr ausführlich. Und eben auch die Verschleppung dieser Aufarbeitung.

Hang Nisay: „Ich möchte sowohl nationalen als auch internationalen Besucher*innen - und vor allem den jungen Menschen - vermitteln, was in der Zeit der Roten Khmer wirklich geschah." Hang Nisay setzt auf die junge Generation. Und dazu hat er guten Grund: "Wissen Sie, viele Überlebende der Schreckensherrschaft der Roten Khmer wollen sich nicht wirklich an das vergangene Leid erinnern, die vergangenen Gräueltaten. Es ist wirklich emotional, ja, traumatisierend."

Zweidrittel der Bevölkerung wurde nach 1979 geboren – es wird also höchste Zeit, den Faden nicht abreißen zu lassen und die Erfahrungen aufzuarbeiten. Zum einen schweigen viele Opfer, auch, um ihre Kinder nicht zu belasten, die ihrerseits ihre Eltern nicht verstimmen wollen. Zum anderen schützen sie sich selbst vor der Erinnerung. So ist ein verbreitetes Schweigen tief in die Gesellschaft eingeschrieben, und das obwohl, in fast allen Familien noch Menschen vermisst werden oder Angehörige haben, die die Schreckensherrschaft miterlebt hatten.

Hang Nisay: „Was mich am meisten zu meiner Arbeit motiviert hat? Ich bin überzeugt, dass diese Geschichten überall weitergegeben werden müssen, und dass es beim Lernen über die vergangenen Gräueltaten nicht darum geht, schlechte Erinnerungen wachzurufen, sondern darum, die dahinter liegenden Ursache zu verstehen und zu versuchen, sie in Zukunft für alle zu beseitigen."

„Ich bin überzeugt, dass diese Geschichten überall weitergegeben werden müssen."

Das kambodschanische Kulturministerium hat inzwischen bei der UNESCO einen Antrag gestellt, das Museum soll Weltkulturerbe werden. Es ist einer der wenigen offiziell geförderten Erinnerungsorte im Land, die dazu beitragen können, das lange Schweigen zu brechen, nach und nach, mit Bildungsprogrammen für Schulen. Nicht zuletzt die persönliche Erfahrung von Hang Nisay steht für diese langsame Veränderung:

Hang Nisay: „Als ich jung war, konnte ich mich nicht wirklich an die Geschichte meines Vaters erinnern, weil ich nicht viel mit ihm darüber gesprochen habe oder ihm nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt habe, als er noch lebte. Als ich im Museum als Guide angestellt wurde, hatte ich das Gefühl, dass es nicht richtig ist, die Geschichte meines Vaters vergessen zu haben. Ich schämte mich sehr dafür. Seither habe ich immer daran gedacht, Informationen weitergeben zu wollen."

Das Museum wird, darauf weisen die roten Busse hin, zunehmend ein Besuchsziel auch für internationale Tourist*innen. Schon heute kommen acht von zehn Besucher*innen der Gedenkstätten aus dem Ausland. Wir fragen, wie sich die Begegnungen von einheimischen Besucher*innen, die möglicherweise selber Opfer sind, und den internationalen Tourist*innen gestalten?

Hang Nisay: „Sie führen wirklich tiefe Gespräche darüber, was mit dem Leben der Menschen geschah, sie fragen sich, wie sie überleben konnten, und was sie dachten und wie sie versuchten, gemeinsam zu überleben. Sie sprechen darüber, was eine wirklich wichtige Botschaft für sie ist und was ihre eigene Aufgabe sein könnte. Sie lernen wirklich voneinander."

Der Museumsdirektor Hang Nisay hat selber am meisten durch einheimische Besuchende gelernt, die den Weg hierher gefunden haben: „Zu den besten Erfahrung mit den kambodschanischen Besuchenden gehört für mich der Austausch mit einem älteren Besucher. Wir haben uns unterhalten, und ich habe viel von ihnen erfahren. Denn jeder Mensch hat eine Geschichte, seine eigene Geschichte. Ich habe sehr viel von den einheimischen Besuchern erfahren."

Lange Jahre ging die kambodschanische Regierung zögernd mit dem schweren Erbe der Geschichte um. Und Teile der Opposition behaupten, Tuol Sleng sei eine Inszenierung, die dazu gedient habe, den Einmarsch Vietnams in Kambodscha zu legitimieren. Auf der internationalen Rangliste der Presse- und Meinungsfreiheit rangiert Kambodscha sehr weit unten, und  auch das hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht zu einer offenen Aufarbeitung beigetragen. Es ist kein Zufall, dass ein Reiseführer titelt: Kambodscha – Reisen in ein traumatisiertes Land.

Hang Nisay: „Wir bemühen uns sehr, junge Menschen dazu zu bringen, davon zu erfahren. Wir sehen, dass junge Menschen in unserem Land nicht wirklich daran interessiert sind, und wir versuchen, Wege zu finden, um sie an die Geschichte der Grausamkeiten der Roten Khmer heranzuführen."

Ob das gelingen kann, muss sich zeigen. Hang Nisay jedenfalls gibt sich für die, die das Museum besuchen, optimistisch: „Die jungen Besucherinnen versuchen, ihre Freunde davon zu überzeugen, ins Museum zu kommen oder sich an den Museumsaktivitäten zu beteiligen oder sogar ihre Freunde davon zu überzeugen, als Freiwillige im Museum mitzuarbeiten und die Erinnerungsarbeit zu verstehen die wir täglich machen. Daher denke ich schon, und das macht mir Hoffnung, dass diese Erfahrungen nach draußen in die Gesellschaft getragen wird und das dazu beiträgt, dass sich diese Geschichte in der Zukunft nicht wiederholt."

Erstausstrahlung südnordfunk # 98 am 5. Juli 2022

Martina Backes koordiniert den südnordfunk und ist Mitarbeiterin im iz3w.

 

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