Projizierte Aggression
Antisemitismus in der Türkei vor und nach dem 7. Oktober
Die Paranoia vor der nationalen Teilung ist eine Grundfrequenz der Türkischen Republik. Seit Anbeginn machen ein Gros ihrer islamischen und nationalistischen Vordenker eine dunkle Eminenz hinter den Verschwörungen gegen Islam und Türkentum in der Figur des Juden aus. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, der die Türkei von der »Zins-Lobby« bedroht wähnt, verkörpert dieses Gemeinwesen der verfolgenden Unschuld. Und längst ist Erdoğan zum Getriebenen seiner eigenen Agitation geworden.
Auf den genozidalen Wogen, die zwischen 1894 und 1924 die christliche Bevölkerung Anatoliens erfassten (Armenozid), gründet die laizistische Republik. Der Staatsgründer Mustafa Kemal zwang dem traditionellen Glauben einen entschlossenen Modernisierungsauftrag auf. Dennoch war es die Identifikation mit dem Islam, die mit aller Gnadenlosigkeit darüber entschied, wer unumstritten Angehöriger des Staatsvolks werden durfte. Im Jahr 1923, in dem Mustafa Kemal die Republik ausrief, wurde sogleich das verwaiste Vermögen »aller Armenier, die nicht mehr anwesend waren«, konfisziert. Dieses Raubkapital, wie auch die Einführung der Varlık Vergisi, einer Vermögenssteuer für Nicht-Muslime im Jahr 1942, wurden zum Fundament der modernen türkischen Bourgeoise. Die verdrängte Schuld und das verleugnete Wissen um das genozidale Fundament der türkischen Staatsgründung äußern sich in einem virulenten Verschwörungswahn.
Der Ruin des Osmanischen Reiches als Dolchstoßlegende
Nicht zufällig dient jene von Katastrophen durchbebte Epoche zwischen Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts als Szenerie populärer Verschwörungserzählungen. Die Herabwürdigung des imperialen Reiches zur von Marshall-Krediten abhängigen Republik, die die Ungläubigen blind nachahme, aber unmöglich mit ihnen zu ko