»Die Unfähig­keit der drei obersten Inhaber der politischen Macht hat den Volks­zorn verstärkt«

Audiobeitrag von Sophie Guitard und Awa Sow

13.04.2023

Über ein Jahrzehnt nach dem arabischen Frühling in Tunesien und dem Fall des Langzeitmachthabers Ben Ali herrscht in dem Land die politische Instabilität. Präsident Kaïs Saïed musste im Dezember 2022, kurz nach dem symbolträchtigen Jahrestag der Selbstverbrennung Mohamed Bouazizis, eine Wahlschlappe einstecken. Nachdem die Opposition erneut zum Boykott der Wahl aufgerufen hatte, schwächte die Wahlwiederholung im Februar 2023 seine Position nochmals. Nach der neuen Verfassung, die er im vergangenen Jahr selber schrieb und in einem Referendum knapp durchboxen konnte, ist ihm dennoch sein Amt sicher. Wie reagiert die enttäuschte Bevölkerung?

Shownotes

Audiobeitrag von Sophie Guitard und Awa Sow

13.04.2023

Skript zum Hörbeitrag - Interview mit der Rechtswissenschaftlerin Fatma Ezzahra

Erstausstrahlung im südnordfunk im April 2023

»Tausende Tunesier*innen versammelten sich am Sonntag in der Hauptstadt Tunis [...] und protestierten gegen die Konzentration der Macht in den Händen von Präsident Kaïs Saïed. Sie fordern seinen Sturz, denn sie bezeichnen seine Präsidentschaft als Staatsstreich.« Das berichtet der Sender Africanews am 22. März 2022. Angesichts der politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Turbulenzen in Tunesien gehen zahlreiche Bürger*innen regelmäßig auf die Straße, um ihre Rechte einzufordern und ihre Unzufriedenheit mit der nationalen Instabilität zu bekunden. Um die aktuelle Situation im Land besser einordnen zu können, sprach der südnordfunk mit Fatma Ezzahra. Sie ist Wissenschaftlerin für öffentliches Recht sowie Vorsitzende und Gründerin der humanitären Organisation Universelle Cellule Ariana.

südnordfunk: Bei den Parlamentswahlen im Dezember 2022 lag die Wahlbeteiligung bei 8,8 Prozent so niedrig wie nie zuvor in Tunesien. Wie interpretieren Sie diese Ergebnisse?

Fatma Ezzahra: Tatsächlich ist diese Wahlbeteiligung die niedrigste seit der Revolution, die 2011 die Diktatur stürzte, und folgt Rekordwerten von fast 70 Prozent bei den Parlamentswahlen im Oktober 2014. Das ist dreimal weniger als beim Verfassungsreferendum im Sommer 2021, bei dem 30,5 Prozent Wahlbeteiligung erreicht wurden. Aus meiner persönlichen Sicht ist dies auf die eher illustren Kandidaten zurückzuführen. Wir hatten es mit einer Ein-Mann-Wahl mit zwei Wahlgängen zu tun, mit abseits gehaltenen Parteien, die größtenteils die Wahlen boykottierten, und Kandidaten, die mehrheitlich politische Lehrlinge waren. Ich denke, die niedrige Wahlbeteiligung liegt an den Kandidaten, die den Posten für eine Parlamentswahl nicht wirklich gerecht werden.

Moderation: Um diese Wahlen besser zu verstehen, müssen wir auf das Jahr 2021 zurückblicken. Am 25. Juli 2021 hat Präsident Kaïs Saïed die Entscheidung getroffen, die Arbeit des Parlaments einzufrieren und den Regierungschef zu entmachten. Damit hat er die Kontrolle über die Exekutive übernommen. Was geschah wirklich und was waren die direkten Absichten und Auswirkungen dieser Entscheidung?

Fatma Ezzahra: Das war am 25. Juli, am Tag der Republik. Der Tag markierte natürlich ein bedeutendes Ereignis, da sich Tunesien bereits in einer sehr angeschlagenen wirtschaftlichen und sozialen Situation befand. Die Pandemie verschärfte sie, und die institutionelle und politische Lähmung nahm eine neue Dimension an. Von da an gab es eine Mobilisierung der Bevölkerung, um die Verantwortung der allgemeinen Politik und der wichtigsten Partei hervorzuheben*.

Bemerkenswert ist, dass die erste Welle der Pandemie Tunesien nicht erreicht hat. Die Politik blieb also relativ verschont. Als die zweite und dritte Phase der Pandemie jedoch begann, sich auf die tunesische Bevölkerung auszuwirken, führte die institutionelle und politische Steuerung dazu, dass keine Entscheidungen getroffen wurden, um der Pandemie zu begegnen. Dies hat den Volkszorn verstärkt. Die Unfähigkeit der drei obersten Inhaber der politischen Macht (Präsident, Premierminister und Parlament), die Pandemie zu bewältigen, hat schließlich die Bürger*innen veranlasst, zu demonstrieren.

Die Proteste fanden am ›Tag der Republik‹ statt. Nach den landesweiten Demonstrationen gegen die Krise, die Tunesien auf allen Ebenen erlebte, kündigte Staatschef Kais Saïed an, dass er sich auf Artikel 80 der Verfassung stütze: Er wollte die Kompetenzen der Volksvertreter*innen der Nationalversammlung einfrieren, die parlamentarische Immunität aller Abgeordneten aufheben, diejenigen, die sich mit der Justiz anlegen, vor Gericht stellen und den Regierungschef entlassen, indem er alle drei Befugnisse auf sich vereinigte: Die Exekutive durch eine Regierung, der ein anderer, von ihm selbst ernannter Regierungschef vorsitzt; die Legislative durch den Rückgriff auf die Gesetze; und sogar die Justiz, da er sich als Leiter der Staatsanwaltschaft aufstellen konnte, um die verborgenen Geschäfte der Korruption verfolgen zu können.

Modertation: Am 26. Juli 2021 berichtete Präsident Kais Said im Sender Africanews: »Wir haben diese Entscheidungen getroffen, und weitere Entscheidungen werden in Form eines Dekrets veröffentlicht, wie es die Verfassung vorschreibt, und zwar so lange, bis der soziale Frieden in Tunesien wiederhergestellt ist und bis wir den Staat retten.«

Fatma Ezzahra: Kaïs Saïed war Professor für Verfassungsrecht, und in dem Sinne ist er schon der Meinung, dass er die Erwartungen des Volkes weiterhin erfüllt. Nach Monaten von politischen Blockaden war seine Entscheidung ein Versuch, das System mit neuem Leben zu füllen und die Dinge in Bewegung zu bringen. Er tat es mit guten Absichten, um ›Tunesien zu retten‹. Allerdings haben wir jetzt, elf Jahre nach der Revolution, mit einem Präsidenten mit vollen Befugnissen zu tun.

südnordfunk: Sie haben erwähnt, dass Präsident Kaïs Saïed Professor für Verfassungsrecht war. Ihm wurde oft vorgeworfen, gerade in diesem Rahmen gegen das Gesetz zu verstoßen? Können Sie erklären, inwiefern der Präsident gegen die tunesische Verfassung verstoßen hat und welche Rechtsmittel es aus rechtlicher Sicht gegebenenfalls gäbe?

Fatma Ezzahra: Die Antwort auf diese Frage ist nicht so einfach, da sie vom Blickwinkel der Beobachter*in abhängt. Aus legislativer Sicht ist die Handlung des Präsidenten rechtlich schwach, da er gegen Artikel 80 verstoßen hat. Die Voraussetzungen für die Umsetzung von Artikel 80 der Verfassung sind in drei Formalitäten gegliedert: Erstens muss der Präsident der Republik den Regierungschef und den Präsidenten der Nationalversammlung konsultieren. Dies wurde nicht gemacht. Zweitens muss der Präsident des Verfassungsgerichts durch den Präsidenten der Republik informiert werden, der natürlich Kais Saïed ist. Jedoch haben wir kein Verfassungsgericht. Und schließlich muss die Botschaft des Präsidenten an das Volk adressiert werden, in der er alle getroffenen Maßnahmen ankündigt. In der Tat hat er nur diese letzte Formalität erfüllt.

»Wir haben es jetzt, elf Jahre nach der Revolution, mit einem Präsidenten mit vollen Befugnissen zu tun.«

Kommen wir zu den inhaltlichen Bedingungen. Sie drehen sich um den Begriff der ›drohenden Gefahr‹, die die nationale Integrität, die Sicherheit oder die Unabhängigkeit des Landes bedroht und die reguläre Funktionsfähigkeit der öffentlichen Gewalten beeinträchtigt. Es stellt sich die Frage: Was war diese unmittelbare Gefahr für die Anwendung von Artikel 80? Faktisch liegt die Beurteilung dieser Gefahr im Ermessen des Präsidenten. Außerdem fehlt ein Verfassungsgericht, das in einem Rechtsstaat und einem demokratischen Staat sehr wichtig ist und entscheiden könnte, ob die außergewöhnlichen Maßnahmen fortgesetzt werden sollten oder nicht. Im Falle Tunesiens hat nur der Präsident der Republik die Macht zu sagen, ob der Tatbestand der ›drohenden Gefahr‹ fortbesteht oder nicht. In Folge haben wir mit Handlungen zu tun, die gegen Artikel 80 der Verfassung von 2014 verstoßen.

Auf einer sozialen oder eher soziologischen Ebene kann man hier nicht aufhören. Wir müssen die politischen und soziologischen Umstände überprüfen, die die Entstehung des Verfassungsrechts berühren. Dieses Verfassungsrecht ist nicht in einer rein legislativen Hülle erstarrt. Es beruft sich natürlich auf die Politik, auf Daten a priori jenseits des Rechts, in einem positivistischen, klassischen Sinne. Sie haben ja eine Frage nach dem Rechtsbehelf aus juristischer Sicht gestellt, richtig?

Aus rechtlicher Sicht, juristisch gesprochen, wurde das Verfassungsgericht eingeführt. Es ist ein Organ, das den Vorrang der Verfassung und der Rechtsstaatlichkeit gewährleisten soll, und das seine Handlungen legitimieren kann, weil es die tunesische Demokratie schützen und konkretisieren wird, indem es seinen Entscheidungen eine gültige verfassungsrechtliche Grundlage verleiht, die aus den Entscheidungen des Verfassungsgerichts hervorgeht.

Am 14. Januar 2023 berichtet Africanews: Einige Regale in Supermärkten bleiben hoffnungslos leer. Selbst während der Covid-19-Pandemie hatte es in Tunesien nicht so viel Mangel gegeben wie jetzt, und die Wirtschaftsindikatoren deuten kaum auf eine baldige Verbesserung hin.

südnordfunk: Mit Blick auf die aktuelle Situation in Tunesien, sei es die Lebensmittelknappheit, die in der tunesischen Gesellschaft immer stärker spürbar wird, oder der Personalmangel in den Krankenhäusern, der Mangel an materiellen Gütern: Wie macht sich die politische Situation in der tunesischen Gesellschaft bemerkbar?

Fatma Ezzahra: Dies ist nichts Neues. Tunesien geht durch eine wirtschaftlich schwierige Zeit, und ich glaube, dass dies 2023 für die meisten Staaten gilt. Nach dem Schock von 2022, dem Krieg in der Ukraine, der Energiekrise, der Inflation und dem Bruttoinlandsprodukt wird die Wirtschaft in Europa und den USA 2023 wahrscheinlich sogar schrumpfen. Tunesien ist ein sehr kleines Land. Unternehmen des privaten Sektors oder ausländische Lieferant*innen müssen jetzt vor jeder Importoperation Zahlungsbedingungen stellen, egal, ob es sich um Medikamente handelt, um Treibstoff oder die Produkte, die Sie gerade erwähnt haben. Die Tunesier*innen sind also der Ansicht, dass der derzeitige Zustand alarmierend ist, da es kein klares Wirtschaftsprojekt gibt angesichts der geringen Investitionsrate und weil keine Arbeitsplätze geschaffen werden. Im Gegenzug ist die Arbeitslosigkeit hoch und Informalität verbreitet, es gibt keine Balance zwischen Nachfrage und Angebot an Qualifikationen und Einwanderung hochqualifizierter Fachkräfte.

südnordfunk: Was wäre Ihrer Meinung nach die größte Herausforderung, der sich Tunesien in den nächsten Jahren stellen muss?

Fatma Ezzahra: Unser Land befindet sich in einer Phase tiefgreifender Veränderungen, mit neuen Herausforderungen und auch Chancen, insbesondere für die Wirtschaft des Landes. Zunehmende wirtschaftliche Probleme und Ungleichheiten haben die Tunesier*innen dazu veranlasst, auf die Straße zu gehen und gegen die alte Regierung zu protestieren. Diese Probleme wurden durch die unmittelbaren negativen Auswirkungen der Revolution noch verschärft, die durch eine lange Phase der Unsicherheit und Instabilität gekennzeichnet wurden. Während dieser Zeit sind die Tunesier*innen dabei, die Grenzen der neu gewonnenen Freiheiten anzupassen und auszutesten. Obwohl Tunesien vor einer Reihe von Herausforderungen steht, bietet der Übergang in seinem derzeitigen wirtschaftlichen Umfeld auch eine einzigartige Gelegenheit, die Wirtschaft von den Engpässen und der starren Verwaltung zu befreien, die zuvor die Entwicklung behindert hatten.

Ausblick mit Krisenstimmung

Am 13. März 2023 gab es erstmals nach 20 Monaten eine Parlamentssitzung in der Hauptstadt Tunis, unter Ausschluss der Presse. Kritiker*innen fürchten, dass Saied Tunesien wieder zu einem autoritären Staat macht. Dafür steht sein Vorgehen gegen politische Gegner und Kritiker*innen sowie zahlreiche Festnahmen, laut Human Rights Watch ohne stichhaltige Anschuldigungen. Andererseits scheinen mit seinem autoritären Stil und den schlechten Wahlergebnissen sowie anhaltenden Protesten im Land auch Hoffnungen auf Veränderung nicht ausgeräumt. Das Land, das aus dem Arabischen Frühling 2011 als einziges als Demokratie hervorging, befindet sich jedenfalls in einer anhaltenden Krisenstimmung.

 

Awa Sow und Sophie Guitard studieren in Freiburg. Der Beitrag entstand im Rahmen des Seminars International Lerning Unit im März 2023.

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