»Vivas nos queremos«
Wir wollen leben! Gespräch mit der Filmemacherin
Audiobeitrag von Eva Gutensohn
05.12.2022
Teil des Dossiers Feministische Kämpfe
» Vivas nos queremos – Wir wollen leben! « So lautet der Ruf bei Demonstrationen mexikanischer Aktivist*innen, die Femizide in ihrem Land nicht länger hinnehmen möchten. Dort werden nach offiziellen Angaben jährlich über 2.000 Frauen aus geschlechtsspezifischen Motiven ermordet.
So auch die zwölfjährige Fátima, die 2015 auf dem Heimweg von der Schule von drei Nachbarn abgefangen, misshandelt und ermordet wurde. Oder die dreizehnjährige Renata, die vom Ex-Partner ihrer Mutter in ihrem eigenen Zuhause getötet wurde. Die Mütter der beiden toten Mädchen engagieren sich seitdem in feministischen Kollektiven und fordern von der Regierung Maßnahmen für ein Leben ohne Gewalt und Femizide. Regisseurin Angélica Cruz Augilar ist beim Kampf der Mütter ganz nah dabei und zeigt, wie wichtig deren Einsatz für Frauenrechte ist. Eva Gutensohn hat mit der Filmemacherin gesprochen und über den erstarkenden Kampf der Frauen*, Femiziden endlich ein Ende zu setzen.
Shownotes
- Vivas lief auf dem Filmfest FrauenWelten
- Filmgespräch mit Angélica Cruz Aguilar
- »Das Risiko, eine Frau zu sein« – Beitrag in Amnesty International
- Kampf dem Machismo – Beitrag im Fluter
Skript zum Audiobeitrag
Erstausstrahlung am 7. Oktober 2022 im südnordfunk # 101 auf Radio Dreyeckland | Autorin: Eva Gutensohn
Eva Gutensohn: Ist das Kernthema der feministischen Bewegung, die Femizide zu beenden?
Angélica Cruz Augilar: Das ist sicher eines der größten Probleme, das die Frauen motiviert. Aber es gibt natürlich auch noch kleinere Fälle von Gewalt gegen Frauen.
Eva Gutensohn: Und das ist in Lateinamerika - und dort vor allem auch in Mexiko - besonders verbreitet. Gibt es dafür eine offizielle Erklärung? Eine mögliche Erklärung wäre ja der Machismo.
Angélica Cruz Augilar: Warum es so ist, frage ich mich auch. Man kann sich nicht vorstellen, dass solche brutalen Tragödien überhaupt existieren. Ein Grund könnte auch sein, dass in diesen Ländern viele Gesetze suggerieren, es sei erlaubt, solche Taten zu begehen, denn die Täter werden nicht bestraft. In Mexiko zeigen die Statistiken, dass 95 Prozent der Femizide ohne Strafe bleiben. Gewalt gegen Frauen ist aber ein weltweites Problem. Als Symptom des Patriarchats und als Ausdruck der Macht. Dramatisch ist aber auch die Brutalität. Eine Sache ist es, jemanden zu unterdrücken, viel schlimmer ist es aber, jemanden ermorden zu wollen, also ein Menschenleben auszulöschen. Und dann teilweise auch noch auf eine so sadistische Art und Weise.
Ich will, dass diese Täter die richtige Strafe bekommen, damit meiner Tochter Gerechtigkeit widerfährt
Eine von meinen Protagonistinnen ist Loreena, ihre zwölfjährige Tochter war ein Opfer von Femizid, die Täter waren drei Nachbarn. Das war einer der brutalsten Morde in Mexiko. Auf die Frage, warum sie das gemacht haben, hatte Loreena auch keine Antwort, denn sie kannte die Täter und es gab kein Problem mit ihnen. Vielleicht haben sie an diesem Tag Drogen genommen, aber es gibt genug Leute, die Drogen nehmen und keine Verbrechen begehen. Eine Erklärung gibt es also nicht, aber wir müssen etwas unternehmen, um das zu stoppen. Es kann nicht sein, dass so viele Frauen jeden Tag ihr Leben verlieren, wir müssen darüber sprechen.
Einspieler Film (Demo): Wir, die gewöhnlichen Frauen sind nicht mehr die selben, weil wir mehr sind. Viel mehr. Es war nicht meine Schuld, egal, wo ich war oder was ich trug. Der Vergewaltiger bist du!
Eva Gutensohn: TV-Beitrag: Lateinamerikas feministische Bewegungen erhalten den Kampf aufrecht. Auf den Straßen Mexikos, Argentiniens und Chiles üben der Frauen erneut Druck auf ihre Regierungen aus. Sie sind entschlossen, konkrete Fortschritte zu erzielen bei der Bekämpfung männlicher Gewalt und zugunsten der Abtreibung.
Eva Gutensohn: Ich sehe zwei Probleme. Das eine, dass das überhaupt passiert, und das andere wiederum der Umgang damit von Seiten der Regierung, von der Justiz. Was wäre der Ansatz, dass junge Männer gar nicht erst auf die Idee kommen, dass es diese „Möglichkeit“ gibt? Fängt das schon bei den Müttern, den Eltern an? Oder mit der Frauenbewegung? Wo ist der erste Schritt?
Angélica Cruz Augilar: Die feministische Bewegung weltweit ist sehr wichtig, um den Frauen bewusst zu machen, worin die Gefahren bestehen und um Kraft zu entwickeln. Auch, um der Gesellschaft aufzuzeigen, was passiert ist und das machistische Verhalten zu dekonstruieren. Sich bewusst zu machen, dass das patriarchale System dafür verantwortlich ist, durch Information und Bildung, und dass alle Menschen gleiche Rechte haben sollen.
Einspieler TV-Beitrag: Diese Aktion ging von chilenischen Aktivistinnen aus Valparaiso aus und hat sich inzwischen auf der ganzen Welt verbreitet. „Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“ lautet der Name der Performance.
Einspieler Nachrichten: In Valparaiso gab es eine Aktion, die war ziemlich auffällig. Und tatsächlich hat sich die Performance, „der Vergewaltiger bist du“ weltweit verbreitet.
Einspieler Demos: Das Patriarchat ist ein Richter, der uns für unsere Geburt verurteilt. Und unsere Strafe ist die Gewalt, die du nicht siehst. Der Femizid. Die Straffreiheit für meinen Mörder. Das Verschwinden. Die Vergewaltigung. Und es war nicht meine Schuld, egal, wo ich war oder was ich trug. Der Vergewaltiger bist du!
Einspieler Nachrichten: Hunderttausende Frauen demonstrierten gestern im ganzen Land, um die Achtung ihrer Rechte und ein Ende der geschlechtsspezifischen Gewalt zu fordern.
Eva Gutensohn: In dem Film sieht man auch den Präsidenten vom Mexiko (Andrés Manuel López Obrador), der sich dazu äußert und die Frauenbewegung fast schon in eine terroristische Ecke stellt. Gleichzeitig tut er nicht wirklich etwas gegen die Gewalt gegen Frauen. Was sind die Forderungen der Frauen an die Regierung?
Angélica Cruz Augilar: Wenn es einen Femizid gibt, wollen die Frauen Gerechtigkeit und Strafe für die Täter. Sie wollen Schutz von der Regierung. Bevor Obrador Präsident wurde, hat er im Wahlkampf versprochen, dass er der Präsident sein wird, der den Feminismus mehr unterstützt. Das Gegenteil ist der Fall, die Regierung hat sogar Gelder für Hilfsprogramme gekürzt. 2022 hat er sogar eine Mauer vor dem Rathaus gebaut, weil er Angst vor den Demonstrantinnen hatte. Warum die Frauen demonstrieren, hat er noch nicht verstanden. Und das, obwohl er ein linker Präsident ist.
Eva Gutensohn: Und weißt du, woran das liegt, dass die Justiz nicht so arbeitet, wie sie arbeiten muss?
Angélica Cruz Augilar: Das ist sehr schwierig zu beantworten. In Mexiko gibt es viel Korruption, damit könnte es zu tun haben. Und dass die Behörden ihre Arbeit nicht richtig machen – das betrifft insbesondere auch das Problem der Drogenkartelle. Manche haben auch keine Lust und keine Energie. Vielleicht gibt es auch nicht genug Personal, keine Ahnung. Auf jeden Fall ist der Weg zur Gerechtigkeit schwierig. Nur, wenn die Frauen Druck machen, kann es eine Veränderung geben.
Bevor Obrador Präsident wurde, hat er im Wahlkampf versprochen, dass er der Präsident sein wird, der mehr den Feminismus unterstützt
Einspieler Frau Demo: Sie sind es, der Staat und die Polizei, die uns unterdrücken und einschüchtern. Es sind nicht die Feministinnen. Wir, die Arbeiterinnen und jungen Frauen, die heute erneut das Recht einfordern, auf die Straße zu gehen.
Eva Gutensohn: In dem Film zeigst du ja auch mehrere Mütter, die ihre Töchter verloren haben. Das ist natürlich sehr intensiv und emotional. Im Film spürt man regelrecht die Verzweiflung, aber auch die Wut, die sie gegenüber dem Staat empfinden. Mein erster Reflex ist dann oft: Ich würde die Täter mit meinen eigenen Händen umbringen, Stichwort Selbstjustiz. Ist das ein Thema in einer solchen Gesellschaft? Und wo sind die Männer und Väter in dem Film? Ich könnte mir vorstellen, dass die auch solche Gedanken haben könnten, wenn ihre Tochter brutal ermordet wird.
Angélica Cruz Augilar: Ich denke, wir sind noch nicht an dem Punkt. Aber natürlich sind die sauer. Doch als zum Beispiel Fatima, die Tochter von Loreena, 2015 ermordet wird, hatten die Dorfbewohner*innen die Mörder in ihrer Gewalt und wollten sie lynchen. Aber Loreena hat das nicht gewollt. Sie hätte in diesem Moment die Gelegenheit für Selbstjustiz gehabt und wäre wohl straffrei davongekommen, weil das Dorf sie gedeckt hätte. Aber sie hat gesagt ‚nein, das will ich nicht‘. Ich will, dass diese Täter die richtige Strafe bekommen, damit meiner Tochter Gerechtigkeit widerfährt. Viele Eltern denken wohl das Gleiche, obwohl die Justiz nichts unternimmt.
Und die Väter existieren natürlich, sie sind auch am Kampf beteiligt, aber ich wollte mich in dem Fall nur auf die Mütter konzentrieren, ich wollte den Frauen die Stimme geben, denn die Mütter führen diesen Kampf maßgeblich. Und die Väter hätten vor der Kamera auch die ganze Zeit nur geweint.
Erstausstrahlung am 7. Oktober 2022 im südnordfunk # 101