Fußball spielende Kinder zwischen Wohnblöcken
Kinder spielen Fußball zwischen Wohnblöcken in Aden, Jemen | Foto: Brian Harrington Spier CC BY 2.0

Waffenruhe im Jemen

Anfang vom Ende eines transnationalen Konfliktes?

Seit vielen Jahren herrscht Krieg im Jemen. Ein Krieg, der kaum internationale Aufmerksamkeit erhält, obwohl er mittlerweile eine der größten humanitären Katastrophen weltweit ist. Angesichts von Getreideknappheit und fehlenden Hilfsgeldern spitzt sich die ohnehin prekäre Lage der Zivilbevölkerung weiter zu. Mit der derzeitigen Waffenruhe hat der Jemen nun die unwahrscheinliche Chance zu einer schwierigen Konflikttransformation.

von Thomas Schmidinger

07.11.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 392

Der Konflikt im Jemen und die damit in Zusammenhang stehende humanitäre Katastrophe werden in der deutschsprachigen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert. Der Grund dafür kann weniger im Ausmaß der Katastrophe liegen, die weit über das hinausgeht, was wir aus Syrien oder Libyen kennen. Das hat auch damit zu tun, dass der Jemen politisch und geografisch weitgehend isoliert ist. So haben es bisher auch nur wenige Menschen geschafft, aus dem Jemen ins Ausland, geschweige denn nach Europa, zu fliehen. Die Dringlichkeit der Krise bleibt unter dem Wahrnehmungsradar: Europa fühlt sich weniger betroffen als etwa von den Kriegen in Syrien, Libyen und jüngst der Ukraine. Seit dem Waffenstillstand im Frühjahr 2022 besteht nun erstmals Hoffnung auf eine Friedenslösung, der allerdings noch viele Hindernisse im Weg stehen.

Die Konfliktebenen

Der Krieg im Jemen ist ein transnationaler Konflikt. Es handelt sich weder ,nur‘ um einen Bürgerkrieg, noch um einen ,klassischen‘ internationalen Krieg zwischen Staaten – sondern um einen Konflikt, in dem sich regionale und innerstaatliche mit internationalen Konflikten verschränken. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die innerjemenitischen Konfliktparteien bloße Marionetten internationaler Akteure in einem Stellvertreterkonflikt wären, die keinerlei eigener Agenda folgen. Vielmehr verfolgen alle staatlichen und nichtstaatlichen Beteiligten auf den verschiedenen Ebenen ihre jeweils eigenen Interessen, was den Konflikt erst zu einer solch komplexen Angelegenheit werden lässt.

Für den Krieg sind vor allem die Regionalmächte Saudi-Arabien, der Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) von Bedeutung, während sich der östliche Nachbarstaat Oman überwiegend in einer neutralen Rolle und als Basis humanitärer Unterstützung anbietet. Im Hintergrund des Krieges spielt auch die seit Jahren in der Region stattfindende Konfessionalisierung von Konflikten eine Rolle. Diese beruht darauf, dass die beiden Hauptrivalen Saudi-Arabien und Iran beide konfessionelle Staaten sind, die Religion gezielt nutzen, um ihren regionalen Einfluss auszuweiten. Konkreter: Der Iran unterstützt und benutzt schiitische Gruppen in verschiedenen Staaten der Region für seine eigene Regionalpolitik, Saudi-Arabien benutzt sunnitische.

Diese regionalen Konfliktparteien sind wiederum mit den rivalisierenden, globalen Akteuren NATO und Russland verknüpft: Hier gehört der Iran zusammen mit Syrien zum Hauptverbündeten Russlands. Saudi-Arabien und Israel wiederum zählen zu den Hauptverbündeten der USA und damit auch der NATO (auch wenn beide keine NATO-Mitglieder sind). Auch die VAE zählen traditionell zu den pro-westlich ausgerichteten Staaten der Region, spielen aber in der scharfen Konfrontation Saudi-Arabiens mit dem Iran eine Zwischenrolle und versuchen sich in den letzten Jahren etwas vom saudischen Einfluss freizuspielen, was auch für den Konflikt im Jemen von Bedeutung ist.

Jemenitische Verhältnisse

Auf innerstaatlicher Ebene betrachtet ist der Jemen ein sehr fragmentierter Staat, in dem unterschiedliche Sprachen gesprochen werden, verschiedene islamische Richtungen existieren und insbesondere die traditionellen Stämme und Stammesföderationen bis heute eine wichtige Rolle spielen. Für den Konflikt sind die verschiedenen Sprachen jedoch von weitaus geringerer Bedeutung als etwa die religiöse Zugehörigkeit.

Seit der Auswanderung der allermeisten Jüdinnen und Juden sind zwar fast alle Jemenit*innen muslimisch, allerdings gehören sie völlig verschiedenen Strömungen des Islams an. Eine Mehrheit von etwa 60 bis 65 Prozent sind sunnitische Muslim*innen, die überwiegend der schafiitischen Rechtsschule angehören. Diese Sunnit*innen dominieren den ehemaligen Südjemen, aber auch die südlichen Regionen des ehemaligen Nordjemen vor allem um die Stadt Taizz. Die Zaidit*innen, eine schiitische Gruppe, die sich in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts unter Zayd ibn ʿAlī von der Linie der dominanten Shia trennte, machen zwischen 30 und 35 Prozent der Bevölkerung aus. Die Zaidit*innen sind zwar eine schiitische Gruppe, allerdings gehören sie seit dem 8. Jahrhundert nicht derselben Religionsgemeinschaft an, wie die Schiit*innen im Iran, Irak, Bahrain, Libanon oder Aserbeidschan und gelten als relativ Sunnismus-nahe. Im Zentrum und Norden des ehemaligen Nordjemens zwischen der Hauptstadt Sanaa und ihrer eigentlichen Hochburg Saʿda leben mehrheitlich Zaidit*innen.

Historisch spielte diese Gruppe auch eine wichtige politische Rolle, denn die zaiditischen Imame beherrschten über Jahrhunderte hinweg von Saʿda aus große Teile des nördlichen Jemen. Nach der osmanischen Periode beherrschte der zaiditische Imam von 1911 bis 1962 das Königreich Jemen, das erst nach einem Militärputsch und blutigen Bürgerkrieg zur Jemenitischen Arabischen Republik (vulgo: Nordjemen) wurde, die sich schließlich 1990 mit der Demokratischen Volksrepublik Jemen (vulgo: Südjemen) vereinen sollte. Neben diesen beiden Hauptgruppen gibt es noch etwa ein Prozent Zwölferschiit*innen – also jene Schiit*innen, die auch im Iran und Irak dominieren.

Für viele Akteure ist der Krieg die einzige Einnahmequelle

Hinzu kommen knapp 100.000 Sulaymani Bohras, eine Sekte der Ismailit*innen – der neben Zwölferschiit*innen und Zaidit*innen dritten großen Strömung der Schia. Die Sulaymani Bohras leben im äußersten Norden des Nordjemens an der Grenze zur traditionell ebenfalls jemenitischen – seit dem saudi-jemenitischen Krieg von 1934 aber saudischen Stadt – Najran. Dort, wo ihr Oberhaupt, der Da’i al-Mutlaq, seinen Sitz hat und sie vor allem um die Jahrtausendwende in einen Konflikt mit dem wahhabitisch orientierten Gouverneur Saudi-Arabiens gerieten. Wahhabitische und salafistische Strömungen fanden in den letzten Jahren teilweise auch unter der sunnitischen Bevölkerung des Jemen Zulauf, was von vielen Zaidit*innen und anderen Schiit*innen zunehmend als Bedrohung wahrgenommen wurde.

Schleichender Staatszerfall

Schließlich ist der Jemen auch stark von Stämmen und Stammesföderationen geprägt, die im Norden teilweise auch über die fluide Grenze zwischen Saudi-Arabien und den Jemen hinweg agieren und damit Teil des saudisch-jemenitischen Grenzkonfliktes wurden. In vielen Teilen des Jemen waren Stämme, die oft über gut bewaffnete Milizen verfügten, wesentlich relevanter als der Staat. So musste die jemenitische Regierung immer in einer Art innerstaatlicher Diplomatie versuchen, die Interessen verschiedener Stämme und religiöser Gruppen auszutarieren. Das daraus resultierende dynamische Gleichgewicht zwischen Staat, Stämmen und Religionsgemeinschaften wurde nach den Anschlägen vom 11. September 2001 destabilisiert, als der damalige Präsident Ali Abdullah Salih sich militärische Unterstützung der USA sicherte, um unliebsame Stämme zu bekämpfen. Damals genügte oft der Hinweis an die USA, irgendwo würden sich ‚Terroristen‘ verschanzen, um die US-Armee zu einem Luftschlag zu bewegen, der dann vielfach keine al-Qaida-Kämpfer, sondern Zivilist*innen oder rivalisierende Stammesangehörige traf. Bereits 1994 hatten sich im Zuge des ersten jemenitischen Bürgerkriegs, in dem die Regierung in Sanaa gegen postsozialistisch orientierte südjemenitische Separatist*innen kämpfte, im Norden erste zaiditische Milizen gebildet, die vor allem gegen den wachsenden saudischen Einfluss und die von Saudi-Arabien unterstützten Wahhabit*innen kämpften. Aus diesen Gruppen ging im Zuge der US-Invasion des Irak und des wachsenden US-Engagements im Jemen die Huthi-Bewegung hervor, die sich einerseits gegen die Marginalisierung der zaiditischen Kerngebiete als auch gegen den wachsenden wahhabitischen Einfluss wandte.

Es war bereits vor dem »Arabischen Frühling« absehbar, dass die USA durch die militärische Unterstützung des Regimes zu mehr Autoritarismus und weniger innenpolitischer Inklusion und Ausgleich beitragen und damit den Staatszerfall des Jemens vorantreiben würden. Genau dieser Prozess beschleunigte sich dann noch einmal nach dem Arabischen Frühling 2011, dem Rücktritt Ali Abdullah Salihs und dem Amtsantritt von Salihs sunnitischem Vizepräsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi. Eine neoliberale Wirtschaftspolitik und die Korruption der politischen Eliten taten ihr Übriges zur Schwächung des Staates.

Vom Bürgerkrieg zum transnationalen Konflikt

Nach einer ersten Radikalisierung der Huthis um den US- Angriff auf den Irak 2003 und der Tötung ihres Führers Hussein Badreddin al-Huthi 2004, eskalierte der Konflikt mit der immer stärkeren Involvierung Saudi-Arabiens und des Iran nach dem Arabischen Frühling erneut. Spätestens nachdem die Huthis 2014 die Hauptstadt Sanaa eingenommen hatten, wurde aus dem schleichenden Bürgerkrieg ein offener militärischer Konflikt, der nun auch immer stärker unter Beteiligung der Regionalmächte Saudi-Arabien, Iran und den VAE stattfand. Schon vor 2014 hatte Saudi-Arabien die Huthis immer wieder beschuldigt, iranische Unterstützung zu erhalten, was durch die saudische Unterstützung für die Regierung Hadi zur selbsterfüllenden Prophezeiung wurde. Seit Beginn der offenen Militärintervention Saudi-Arabiens im März 2015, während der sich Hadi und seine Regierung überwiegend im saudischen Exil befanden, unterstützte auch der Iran offen die Gegner Saudi-Arabiens. Während sich auf der einen Seite Ex-Präsident Salih mit seinen einstigen Erzfeinden, den Huthis verbündete, ehe er dann von diesen 2017 in einem Machtkampf ermordet wurde, wurden auch die Risse in der Unterstützung Hadis immer deutlicher: Südjemenitische Separatist*innen sammelten sich ab 2017 im Southern Transitional Council (STC) und übernahmen 2019 in einem internen Bürgerkrieg die ehemalige südjemenitische Hauptstadt Aden. Dabei unterstützten die VAE den STC, während Saudi-Arabien die Hadi-Loyalist*innen unterstützte.

Der Krieg in der Ukraine bindet Gelder für humanitäre Hilfe

Die VAE traten in den letzten Jahren immer stärker aus dem Schatten Saudi-Arabiens und betreiben eine eigenständige Interessenpolitik im Jemen. Heute kontrollieren die Milizen des mit den VAE verbundenen STC die Regionen um Aden und die südjemenitische Hafenstadt Mukalla, sowie die Insel Socotra. Am 30. April 2018 verlegten die VAE ohne vorherige Abstimmung mit einer der jemenitischen Regierungen mehr als hundert Soldaten mit Artillerie und gepanzerten Fahrzeugen nach Socotra, was de facto einer Besetzung der Insel gleichkam und von vielen Beobachter*innen als erster Schritt zu einer Annexion gesehen wird. Die VAE investieren dort in neue Infrastrukturprojekte und haben sogar wöchentliche Direktflüge von Abu Dhabi auf die Insel eingerichtet. Für die Einreise, die völlig von den VAE kontrolliert wird, wird kein jemenitisches Visum mehr verlangt und die landschaftlich und botanisch einzigartige Insel wird mittlerweile für Abenteuertourismus angepriesen.

Im Zuge des Bürgerkrieges gelang es phasenweise auch dschihadistischen Gruppen, Territorien zu kontrollieren. Insbesondere al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel konnte meist dünn besiedelte Regionen im Hadramaut, also im Ostteil des ehemaligen Südjemens unter Kontrolle bekommen. Daneben konnte sich auch ein Ableger des Islamischen Staates (IS) etablieren. 2020 gelang es den Huthis mit einer Offensive in der Provinz al-Bayda, den Großteil des Territoriums von al-Qaida und IS einzunehmen. Beide Gruppierungen sind aber weiterhin im Jemen aktiv.

Für die Zivilbevölkerung bedeutete der langjährige Krieg eine der größten humanitären Katastrophen weltweit. Nicht nur die saudi-arabischen Luftangriffe auf das Huthi-Gebiet und die täglichen Kämpfe forderten Tausende von Menschenleben. Insbesondere die Versorgungsprobleme der Bevölkerung führten in den vergangenen Jahren zu vielen Tausenden Toten, darunter auch mehrere Tausend getötete oder verhungerte Kinder. Dabei instrumentalisierten die Kriegsparteien durch Blockaden von Lebensmitteltransporten die prekäre Versorgungslage der Bevölkerung.

International wurde der Krieg vor allem für Saudi-Arabien zum Desaster. Trotz massivem finanziellem und militärischem Einsatz, der die iranische Waffenhilfe für die Huthis um ein vielfaches überstieg, gelang es den Hadi-Loyalist*innen nie wieder, auch nur in die Nähe der jemenitischen Hauptstadt Sanaa zu kommen. Den Huthis gelang es hingegen zunehmend, mit iranischen Drohnen auch Angriffe in Saudi-Arabien und in den VAE durchzuführen.

Chance auf Frieden?

Als mit Beginn des Fastenmonats Ramadan eine Waffenruhe verkündet wurde, hatte der Krieg bereits ein Stadium erreicht, an dem allen Beteiligten klar sein musste, dass er mit militärischen Mitteln nicht entschieden werden kann. Insofern bestand durchaus Hoffnung darauf, dass der Krieg nun langsam zu einem Ende kommen könnte. In der Realität vor Ort hielt der Waffenstillstand allerdings nur in manchen Regionen. Zu sehr ist der Krieg mittlerweile auch als einzige Einkommensquelle für viele Akteure lebensnotwendig geworden. Ohne den von Saudi-Arabien oder den VAE gezahlten Sold wären hunderttausende Familienangehörige von Milizionären der Hadi- und der STC-Milizen ohne jedes Einkommen und auch die Huthis benötigen weiterhin die iranischen Hilfen.

Der Krieg in der Ukraine führt nun zudem zu enormen Preissteigerungen bei Getreide und bindet Gelder für humanitäre Hilfe. Im Mai war das World Food Programme (WFP) aufgrund von Finanzierungsengpässen gezwungen, alle Resilienz- und Existenzsicherungsmaßnahmen im Jemen einzustellen. Diese Kombination aus rapide steigenden Getreidepreisen und weniger zur Verfügung stehenden Mitteln wird im Jemen in den nächsten Monaten zu vielen weiteren Hungertoten führen.

Mit dem Rücktritt von Abed Rabbo Mansur Hadi und der Installierung eines »präsidialen Führungsrates« für eine Übergangsperiode zu Beginn des Waffenstillstands im April 2022 wäre theoretisch eine gute Voraussetzung für Friedensverhandlungen geschaffen. Ohne eine Annäherung der jeweiligen Regionalmächte Saudi-Arabien, Iran und den VAE und ohne eine ökonomische Alternative für die Milizionäre der unterschiedlichsten Kriegsparteien kann allerdings wenig Hoffnung in einen solchen Prozess gesetzt werden. Immerhin stimmten die Konfliktparteien Ende Mai einer Verlängerung der Waffenruhe zu. Mittlerweile landen sogar schon erste Passagiermaschinen wieder im Flughafen Sanaa, der lange überhaupt nicht angeflogen wurde. Alles wird jedoch davon abhängen, ob alle drei Hauptkonfliktparteien und ihre Unterstützer in einen Friedensprozess eingebunden werden und die materielle Basis für eine Zukunft ohne Krieg geschaffen werden kann.

Thomas Schmidinger ist Politikwissenschaftler und Sozial- und Kulturanthropologe. Er lehrt an der Universität Wien, der Fachhochschule Oberösterreich und der University of Kurdistan in Hewlêr (Irak).

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