imposanter Eingang zu einer Synagoge in Buenos Aires
Libertad Synagoge in Buenos Aires | Foto: Emilio | CC BY-SA 2.0

Neue Heimat, alter Hass

Antisemitismus ist auch in Lateinamerika auf dem Vormarsch

Jüdische Menschen in Lateinamerika erleben Feindschaft von links wie rechts. Während die Linke ihren Antisemitismus kaum reflektiert, gibt sich die neue Rechte einsichtig. Es ist jedoch eine oberflächliche Läuterung.

von Nikolas Grimm

15.11.2020
Veröffentlicht im iz3w-Heft 381
Teil des Dossiers Antisemitismus

»Mexikos Juden: Anständig oder zionistisch?« fragt die mexikanische Journalistin Sanjuana Martínez 2014 auf dem Nachrichtenportal Sin Embargo. Zuvor hat Israel mit einer Bodenoffensive auf anhaltenden Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen reagiert. Von den mexikanischen Jüdinnen und Juden fordert sie ein klares Bekenntnis gegen diese Politik: »Das Schweigen macht euch zu Komplizen.«

Eigentlich ist Lateinamerika im internationalen Vergleich keine besonders antisemitische Region. Doch gerade die Vorstellung, Juden seien für die Politik Israels verantwortlich, ist dort sehr verbreitet. Damit einher geht ein Zweifel an der »Loyalität« der jüdischen Mitbürger*innen: Nach einer Studie der Anti-Defamation League sind rund 32 Prozent der Mexikaner*innen der Auffassung, jüdische Menschen seien Israel gegenüber loyaler als ihrem Heimatland. Noch mehr sind es in Brasilien (70 Prozent) und Argentinien (57 Prozent).

Ungefähr 400.000 Juden und Jüdinnen leben aktuell in Lateinamerika, gut die Hälfte davon in Argentinien. Große jüdische Gemeinden gibt es auch in Brasilien (93.800) und Mexiko (67.500). Viele sind Nachfahren von Familien, die im 19. und 20. Jahrhundert vor Antisemitismus in Osteuropa und dem Nationalsozialismus flohen. Doch auch in Lateinamerika stießen sie auf Feindschaft. Für die extreme Rechte, die im 20. Jahrhundert in reaktionär-katholischen Kreisen entsteht, ist der Hass auf Juden konstitutiv. Die gegenwärtige Rechte gibt sich hingegen oft dezidiert anti-antisemitisch, wie etwa im Fall von Brasiliens Rechtsaußen Jair Bolsonaro. Gleichzeitig treibt vor allem die politische Linke die Identifikation der lokalen jüdischen Bevölkerung mit der politischen Situation im Nahen Osten voran. Verkehrte Welt also? Ein Blick auf die Geschichte der Rechten Lateinamerikas verrät, dass die Abkehr vom Antisemitismus eine oberflächliche ist.

Die Pianistin Martha Argerich am Klavier während einem Konzert
Die Pianistin Martha Argerich | Foto: Adriano Heitmann | CC BY-SA 2.0

Entstehung des rechten Antisemitismus

Der Machtverlust der Katholischen Kirche, die Säkularisierung und Demokratisierung sowie eine erstarkende Arbeiterbewegung sind das Trauma des traditionellen lateinamerikanischen Rechtsextremismus. Der Anti-Modernismus der reaktionär-katholischen Kreise artikuliert sich antisemitisch. Die jüdische Einwanderung in die Region erfolgt verhältnismäßig spät und vor allem in Folge der Pogrome im russischen Zarenreich ab Ende des 19. Jahrhunderts. In Argentinien werden die Einwander*innen aus Osteuropa pauschal als »Russen« bezeichnet. In der konservativen katholischen Oberschicht macht man sie bald für soziale Spannungen und Streiks verantwortlich.

Die gegen­wärtige Rechte gibt sich oft dezidiert anti-anti­semitisch

Im Rahmen der Niederschlagung eines Metallarbeiterstreiks 1919 nutzten schließlich paramilitärische Gruppen in Buenos Aires die Gunst der Stunde. Sie legten Feuer, zerstörten jüdische Geschäfte und Wohnungen, mordeten und vergewaltigten. Die Erinnerungen an das erste und zugleich letzte antisemitische Pogrom Lateinamerikas hält der argentinische Jude Pinie Wald, der damals verhaftet und gefoltert wurde, in seinem Buch »Koshmar« (1929) fest. Seine Folterer waren der Überzeugung, er sei der Vorsitzende eines geheim operierenden argentinischen Sowjets – eine Verschwörungstheorie.

Nicht nur in Argentinien verbinden sich Antikommunismus und die Sehnsucht nach katholischer Restauration mit offenem Antisemitismus. In Mexiko veröffentlichte der katholische Priester Vicente Martínez Cantú 1925 die Schrift »Der verborgene und bösartige Feind der Welt«, in der er Henry Fords Hetzschrift »Der internationale Jude« und die »Protokolle der Weisen von Zion« aufgreift. Der katholische Rechtsextremismus mündete vielerorts in den 30ern und 40er Jahren in offene Sympathie mit dem europäischen Faschismus und Nationalsozialismus.

Der prominenteste Vertreter dieses katholischen Philo-Nazismus ist der mexikanische Journalist Salvador Borrego, dessen Buch »Derrota Mundial« (Weltweite Niederlage, 1953) mit mehr als 50 Auflagen bis heute das einflussreichste antisemitische Werk Lateinamerikas ist. In ihm deutet Borrego die deutsche Niederlage 1945 zur Niederlage der christlichen Welt schlechthin um. Zeit seines Lebens war Borrego von der Idee besessen, Liberalismus und Kommunismus seien von den Juden erdachte politische Vehikel, mit der sie die Zerstörung des katholischen Glaubens verfolgen. Den Kommunismus deutet er als »globale atheistische Revolte«, die von den Juden in Gang gesetzt worden wäre, um den katholischen Glauben zu zerschlagen. Aus dieser Logik gilt ihm der Nationalsozialismus als »letzte Hoffnung« der christlichen Zivilisation. Den Holocaust leugnet der NS-Sympathisant konsequent.

Mit den Wahl­siegen linker Regierung­en um die Jahr­tausend­wende bekommt ein aggres­siver Anti­zionismus Aufwind in Latein­amerika

Borregos Verschwörungstheorien wurden von der extremen Rechten in ganz Lateinamerika rezipiert. Gleichzeitig hat auch in Lateinamerika die traditionelle, offen antisemitische Rechte ihre Halbwertszeit mit der Niederlage des Faschismus in Europa erreicht. Mit dem Sieg der kubanischen Revolution sind die rechten Bewegungen auf neue Verbündete angewiesen und versöhnen sich mit den USA. Statt auf faschistische Massenorganisationen setzt eine neue, pragmatische Rechte auf schmutzigen Krieg, antikommunistische Todesschwadronen und auf von Washington gestützte Staatsstreiche. Dass der Antisemitismus aber nicht gänzlich aufgegeben wird, zeigt das Beispiel Argentinien. Die Militärjunta (1976-1983) ließ den antisemitischen Teilen der Sicherheitskräfte weitgehend freie Hand. Rund zehn Prozent der während der Militärdiktatur Verschwundenen sind jüdischen Glaubens. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung Argentiniens beträgt hingegen nicht einmal ein Prozent.

Linker Antisemitismus des 21. Jahrhunderts

Mit den Wahlsiegen linker Regierungen um die Jahrtausendwende bekommt ein aggressiver Antizionismus Aufwind in Lateinamerika. Gegen die Vormachtstellung der USA suchen die Linksregierungen neben China und Russland auch im Iran nach Bündnispartnern. Die Rhetorik von Venezuelas Präsident Hugo Chávez, der regelmäßig Israel mit Nazideutschland gleichsetzt, hat Folgen für die jüdische Gemeinde in Caracas: Wiederholt kommt es zu antisemitischen Schmierereien an jüdischen Einrichtungen. Im Januar 2009 schließlich besetzte ein bewaffnetes Kommando die Tiferet Israel-Synagoge in Caracas und verwüstete das Gebäude. Die Nähe Venezuelas zu Teheran birgt darüber hinaus noch andere Gefahren für die jüdische Bevölkerung der Region: Immer wieder wird das Land beschuldigt, Basis von Hisbollah-Operationen zu sein.

Sprengstofffunde bei mutmaßlichen Hisbollah-Angehörigen in Lima 2014 und La Paz 2017 wecken bei den jüdischen Gemeinden in Südamerika Erinnerungen an das Bombenattentat auf das jüdische Zentrum (AMIA) in Buenos Aires 1994, bei dem 85 Menschen getötet wurden und als dessen Urheber Iran und Hisbollah gelten.

Gleichzeitig ist der Antisemitismus auch als Weltbild, das in den Juden die Vertreter des Kapitals sieht, für Teile der lateinamerikanische Linke attraktiv. Als herausragende Figur eines solchen linken Antisemitismus kann der Journalist Alfredo Jalife-Rahme gelten, der in seinen Kolumnen für Mexikos wichtigste linke Tageszeitung »La Jornada« das politische Geschehen nach antisemitischem Strickmuster interpretiert. Analog zu extremen Rechten kann sich auch Jalife das Unglück der Nation nicht ohne jüdisches Zutun erklären. Für ihn besteht dieses freilich nicht im Kommunismus, sondern im Neoliberalismus. Den mexikanischen Politiker Joseph Marie Córdoba, unter anderem Berater der wirtschaftsliberalen Regierung von Salinas de Gortari (1989-1994), erklärt er darum fälschlich zum »Sepharden«, der die Währungskrise von 1994, »die schlimmste Finanzkrise in Mexiko seit dem Sturz von Tenochtitlan orchestriert hat«.

Neue Rechte, alte Vorstellungen

Die von der lateinamerikanischen Rechten verbreitete Legende, der Antisemitismus sei nur ein Problem der Linken, geht jedoch nicht auf. In Brasilien stellt die Anti-Defamation League im Jahr 2019 einen signifikanten Anstieg an antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung fest: 26 Prozent gegenüber 19 Prozent 2014. Neonazistische Organisationen erhalten großen Zulauf. Nach Angaben der NGO Safernet gab es allein im Mai 2020 über 200 neue Internetauftritte mit neonazistischen Inhalten aus Brasilien. Es sei »unbestreitbar, dass die wiederholten Manifestationen von Hass gegen Minderheiten durch Mitglieder der Regierung Bolsonaro Neonazizellen in Brasilien gestärkt haben«, so Safernet.

Man muss jedoch nicht in neonazistischen Kreisen suchen, um in Brasilien Antisemitismus zu finden. Es gibt ihn auch im direkten Umfeld Bolsonaros. Als Intellektueller mit Einfluss auf die Regierungspolitik gilt der rechte Verschwörungstheoretiker Olavo de Carvalho. Dessen Weltsicht dreht sich um eine vermeintliche Geheimgesellschaft, die sich aus »Großkapitalisten und internationalen Bankiers zusammensetzt, die sich für die Errichtung einer sozialistischen Weltdiktatur einsetzen«, wie er in einem Gespräch mit dem russischen Rechtsextremisten Alexander Dugin erklärt. Diese sei »vor über hundert Jahren auf Initiative der Rothschilds gegründet worden.« Vieles beim Alten also in der Neuen Rechten.

Nikolas Grimm ist Mitarbeiter im iz3w, Politikwissenschaftler und Lateinamerikanist.

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