»Die wahre Revolution steht uns noch bevor«

O-Töne zum arabischen Frühling aus schwuler Sicht

Während des arabischen Frühlings war die Hoffnung auf eine Demokratisierung der Länder im Nahen Osten und in Nordafrika groß. Welche Hoffnungen hegten Lesben und Schwule zwischen Teheran und Tanger, was erwarteten sie vom arabischen Frühling? Fünf schwule Aktivisten aus Iran, Ägypten, Sudan und Marokko sprachen 2011 mit Klaus Jetz darüber, wie sie die Zeitenwende erleben, wie sie die Chancen für mehr Akzeptanz für Lesben und Schwule einschätzen, was sie vom Westen erwarten.

 

von Klaus Jetz

20.08.2011
Veröffentlicht im iz3w-Heft 326
Teil des Dossiers Queers in Bewegung

»Die Menschen in der Region wollen endlich grundlegende Menschenrechte, Freiheit und wahre Demokratie«, schreibt ein Aktivist aus Kairo, der anonym bleiben will. Der Kampf für die Befreiung von totalitären Regimes gleiche dem, was in Osteuropa vor 20 Jahren stattfand. Differenzierter sieht das Hossein Alizadeh, der aus dem Iran stammt und seit über zehn Jahren in den USA lebt. Dort hält er für die International Gay and Lesbian Human Rights Commission IGLHRC den Kontakt zu Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen aus dem Nahen Osten und Nordafrika. In Osteuropa habe es große finanzielle und gesellschaftliche Unterstützung aus dem Westen gegeben, um der Demokratie zum Erfolg zu verhelfen. Im Mittleren Osten und Nordafrika (MENA) müsse in sozialer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht noch viel passieren, bevor die Gesellschaften reif seien für den demokratischen Übergang. Zudem seien Religion und Traditionen die stärksten beharrenden Kräfte in diesen Gesellschaften.

Arsham Parsi floh vor sieben Jahren als schwuler Mann aus dem Iran, gründete im kanadischen Toronto Iranian Railroad for Queer Refugees IRQR. Seither kümmert er sich um homosexuelle iranische Flüchtlinge in aller Welt. Für ihn ist wichtig, dass die Bewegungen in den verschiedenen Ländern sich gegenseitig beeinflussen, auch hätten sie das gleiche Ziel: »Die meisten Leute in der MENA-Region werden sich ihrer Rechte als Individuen bewusst und sagen schlicht und einfach Nein zur Diktatur. Früher waren sie sich der Macht des Volkes überhaupt nicht bewusst. Das hat sich geändert. Sie sind es leid, unterdrückt zu werden.« Es gehe nicht nur um Iran, Ägypten oder Bahrain, sondern um die gesamte Region.

»Hoffnung allein genügt nicht, man muss auch kämpfen«

Auch Ali Sudan (Name geändert, KJ), Gründer und Vorsitzender der Organisation Freedom Sudan, vergleicht die aktuelle Lage in der MENA-Region mit Osteuropa vor 20 Jahren. Die Ereignisse könnten gar in die Bildung der Vereinigten Arabischen Staaten münden. Grundsätzlich stelle sich aber die Frage, ob sich nach den Umwälzungen der Islam oder die Demokratie durchsetze, und als LGBT-Aktivist frage er sich, ob Lesben und Schwule im »neuen Nahen Osten« willkommen seien oder eben nicht. Werde die Demokratie gestärkt, gebe es Anlass zur Hoffnung, obsiege die Religion, habe man noch einen langen Kampf als LGBT-Organisation vor sich.

»Alle Menschen fürchten sich vor dem Unbekannten«, so Ali. »Deshalb müssen die Menschen über LGBT informiert und aufgeklärt werden. So überwinden sie ihre Angst, Homosexualität wird enttabuisiert und die Homophobie geht zurück.« Stelle die Familie fest, dass ein Mitglied homosexuell ist, werde er oder sie wegen der Schande mit Sicherheit umgebracht. Die Polizei werde damit erst gar nicht behelligt. Ali schildert einen Fall aus Khartum, der traurige Berühmtheit erlangte. Er handelt von einem Mann, der seinen eigenen Bruder tötete, weil er von dessen Homosexualität erfuhr. Von der Polizei, die die Leiche am Nil-Ufer fand, hatte das Opfer keinen Schutz zu erwarten. Im Gegenteil. Die Todesstrafe wäre ihm sicher gewesen. So droht LGBT im Sudan Gefahr von mehreren Seiten.

Von Ächtung bis Todesstrafe

Es verwundert nicht, dass die befragten Aktivist*innen die homosexuellenfeindlichen Einstellungen in ihren Gesellschaften als Hauptproblem ausmachen. »Die marokkanische Gesellschaft ist sehr religiös und eine der konservativsten der Welt. Die Religion hat großes Gewicht in Politik und Gesellschaft«, so Samir Bargachi, ein junger Journalist und Aktivist aus Tanger. Auch der Aktivist aus Kairo meint, die Gesellschaft sei »konservativer, rückschrittlicher, homophober und weniger tolerant geworden gegenüber Menschen mit einer anderen sexuellen Identität oder einer anderen Religion. Das hat sich auch nicht geändert während oder nach der Revolution.« Die ägyptische Gesellschaft sei patriarchalisch, fördere männliche Geschlechterrollen, Sexualität sei ein Tabu. »Man kann schwulen Sex haben oder bisexuell sein, aber man darf nicht drüber reden, aus Achtung vor unseren rigiden Traditionen. All das trägt zur Intoleranz gegen alle bei, die anders sind.«

Auch Hossein Alizadeh schreibt, die gesamte Region sei zutiefst homophob, das Ausmaß der Verfolgung und Diskriminierung sei von Land zu Land sehr unterschiedlich. »Im Iran oder in Saudi-Arabien steht auf schwulen Sex die Todesstrafe, andere Länder, etwa Marokko oder Syrien, sehen Haftstrafen vor. In Ländern ohne homophobe Strafgesetze wie Ägypten, Jordanien oder der Türkei greifen die Behörden bei der Verfolgung auf vage Moralbestimmungen oder Betrugsvorwürfe zurück.« Egal wie das Strafrecht aussieht, so Hossein, »in fast allen Ländern der Region sind die gesellschaftliche Diskriminierung und kulturelle Ächtung von Homosexuellen ein schmerzlicher Teil des Lebens.«

Auch Ali schreibt, dass im Sudan Homosexualität nicht einfach nur illegal ist. »Der Sudan ist eines der wenigen Länder, die für LGBT die Todesstrafe vorsehen. Die Todesangst hat sich in unsere Herzen gefressen.« Die LGBT-Community treffe sich im verborgenen, besonders lesbische Frauen litten unter der Situation, da sie von ihren Familien gezwungen werden, einen Mann zu heiraten und ein Leben zu führen, das ihren Wünschen und Vorstellungen widerspricht. »Einige verleugnen sich selbst, passen sich ihrer Umgebung an und versuchen ihr wahres Ich zu verbergen. Andere sehen nur im Selbstmord einen Ausweg.«

Das Wahre nicht verbergen

Dennoch sind die Hoffnungen groß. Hossein spricht von einem regionalen Dialog der Aktivist*innen. Das Internet spiele eine große Rolle. »Aktivisten aus der Region kamen zusammen und stießen einen fruchtbaren Erfahrungsaustausch an. Im Libanon, Iran, in Palästina und der Türkei haben sie eine neue Sprache über Homosexualität geschaffen, die eine jahrhundertealte abwertende Terminologie ersetzt. In einigen progressiven religiösen Zirkeln haben Gelehrte damit begonnen, uralte Vorstellungen von Homosexualität als Sünde zu hinterfragen.« Es geht um einen neuen sprachlichen Umgang mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen jenseits der Sprache der Religiösität und jenseits der Vorstellung von Sünde. Natürlich habe man noch einen weiten Weg vor sich, jetzt müssten Bündnisse mit progressiven Kräften, auch religiösen Gruppen geschmiedet werden. Denn die Unterstützung durch Religionsgelehrte mache es homophoben Gruppen schwer, homosexuelle Aktivist*innen als unislamisch abzulehnen.

Sein Landsmann Arsham schreibt, die Iraner*innen wüssten um die Bedeutung der aktuellen Ereignisse für ihr Leben. »Ein iranisches Sprichwort aus der Schah-Zeit sagt, Rechte werden nicht geschenkt, wir müssen für sie kämpfen.« Das mag vielleicht auf Europa nicht mehr zutreffen, weil viele Rechte erstritten worden sind. Aber vor allem iranische LGBT kämpfen für eine bessere Zukunft. »Wir alle wissen, dass es Freiheit nicht umsonst gibt und wir sind bereit, einen hohen Preis zu zahlen. Hoffnung allein genügt nicht, man muss auch kämpfen.«

Samir Bargachi meint, zur Zeit gebe es in Marokko eine »reife und interessante Debatte über individuelle Freiheiten«. Er sehe für Marokko nicht die Gefahr einer Radikalisierung in Richtung politischer, fundamentalistischer Islam. »Die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass der Wandel nicht in einen islamistischen Staat führt. Aber in den Nachbarländern ist diese Gefahr größer.« Das bestätigt der Kairoer Aktivist. Er schreibt, man habe Angst davor, »dass eines Tages Islamisten das Land übernehmen könnten, was eine riesige Enttäuschung wäre für alle Ägypter, egal ob homo- oder heterosexuell, die für einen säkularen Staat gekämpft haben.«

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Die Gefahr sieht auch Hossein: »Was im Irak passierte, kann sich in anderen Ländern wiederholen: Ein brutaler weltlich orientierter Diktator tritt ab und islamistische Gruppen übernehmen. Sie zeichnen sich nicht durch Toleranz gegenüber Frauen, Homosexuellen oder christlichen Minderheiten aus. Wenn sie andere gesellschaftliche Kräfte unterdrücken, dann wird der demokratische Prozess nur ein kurzlebiger sein und einer Theokratie wie im Iran weichen.« Angst hat auch Ali, weil sich die Situation im Nord-Sudan verschärfe. »Wir werden (nach der Teilung) ganz und gar vom islamischem Recht regiert. Es wird immer strenger, der Nord-Sudan verwandelt sich in ein Gefängnis.« Im Süden wiederum gebe es kein islamisches Recht, und es sei dort an der neuen Regierung, für die Menschenrechte von LGBT zu sorgen. Ali fürchtet im Norden, auch in Libyen, Saudi-Arabien und im Iran, eine weitere Radikalisierung in Richtung eines politischen, fundamentalistischen Islams, der den Zielen der LGBT-Community diametral entgegenstehe.

Und was erwarten die Aktivist*innen von Europa? Internationale Solidarität, partnerschaftliches Miteinander, eindeutige Unterstützung für den Reformprozess, für die Menschenrechte. Und die muss dauerhaft sein. Darin sind sich alle einig. »Wir im Sudan brauchen Hilfe im Kampf für unsere Rechte. Das wichtigste ist, dass die Todesstrafe für LGBT abgeschafft wird. Wichtig ist aber auch, dass die Araber über Homosexualität aufgeklärt werden, damit die Homophobie zurückgeht, dass HIV- und Aids-Prävention stattfindet, dass LGBT-Flüchtlinge aus der Region in Europa angemessen behandelt werden.« Und aus Kairo heißt es: »Ich erwarte, dass Deutschland und Europa die ägyptische Revolution, unsere Forderung nach einer neuen Verfassung und nach einem säkularen Rechtsstaat unterstützen, der die Menschenrechte, Vielfalt und Wahlfreiheit achtet.« Denn »die Revolution ist ja nicht vorbei, die wahre soziale und politische Revolution steht uns ja noch bevor.«

 

Klaus Jetz ist Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbandes Deutschland (LSVD).

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 326 Heft bestellen
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