Klassenkampf gegen Kettensäge
Immer wieder Kürzungen und Ausverkauf in Argentinien
Auch wenn sie mit vom Fahrtwind verwehter Frisur inszeniert ist: Die Kettensägen-Kürzungspolitik des argentinischen Präsidenten Javier Milei bleibt vor allem Klassenkampf von oben – und trifft auf Arbeitskräfte, die seit Jahrzehnten erkämpfte Errungenschaften zäh verteidigen.
»Der Einzige, der in diesem Land und der Welt Reichtum schaffen kann, ist der Unternehmer, nicht der Politiker«, tönt Milei in einem Videoclip der ihm nahestehenden rechtslibertären Seite »La Derecha Diario«, gepostet in einem Influencer-Tweet und sogleich retweetet vom Hausherrn Elon Musk mit seinem üblichen Zusatz: »True.« Diese Gegenüberstellung von Kapital und Staat ist konstitutiv fürs neoliberale Weltbild. Nicht nur im »Anarchokapitalismus« von Leuten wie Milei wird weitgehend ignoriert, wie der Staat eigentlich das Kapital vor sich selbst schützt. Sie zielen auf eine allmähliche Ersetzung der staatlichen »korrupten, verkrusteten« Einrichtungen durch Privatisierung, und schließlich auch der Währung und Staatsgewalt.
Gegen die vereinigten Arbeitskräfte
Die ökonomische und politische Verkrustung bildet sich Milei freilich nicht nur ein. Gegen das Zusammenspiel des politischen und gewerkschaftlichen Peronismus, des auf die Regierung Juan Peróns ab 1947 zurückgehenden populären Sozial-Protektionismus, mit Bürgertum und Staatsapparat wendet sich auch die in deutschen Betrachtungen meist übergangene sozialistische Opposition, das seit zehn Jahren auch im nationalen Parlament vertretene trotzkistische Wahlbündnis FIT (Front der Linken und Arbeitskräfte). Seit Jahren streitet es mit den Gewerkschafts-Dachverbänden immer wieder um die Ausweitung von Großstreiks in wirksamere und durchaus mögliche paros activos mit flächendeckenden Straßenprotesten und Blockaden (piquetes).
Die sozialistische Opposition wirbt für die Einheit der Klasse
Für Milei und seine Leute halten solche Proteste die Tüchtigen auf dem Weg zur Arbeit auf, ihr obiges »Diario« startete als Antwort auf »La Izquierda Diario«, das beliebte Internetmagazin der FIT-Partei PTS. Gezielt wird immer auf die organisierten Arbeitskräfte, wie sie im anti-neoliberalen Argentinazo 2001 aus verschiedenen Sektoren, vor allem der städtischen »Mittelklasse« und den erwerbslosen Piqueteros, zum Aufstand zusammenkamen. Sie begannen mit Vollversammlungen ihre Wohnviertel und auch einige Betriebe selbst zu organisieren (recuperadas) und jagten unter den Schlachtrufen »Unidad de los trabajadores« (»Einheit der Arbeiter«) und »Que se vayan todos« (»Sie sollen alle weg«) mehrere Regierungen aus dem Amt (iz3w 366). Ersteres rufen sie bis heute, zweiteres haben sich die Milei-Leute für sich zurechtgedreht: der ganze Staatssektor, die unlautere Konkurrenz, »soll weg«.
Die Klassenspaltung durchschauen
Die Klassenkonstellation ist in Argentinien geprägt von gigantischem Großgrundbesitz, tiefen Widersprüchen zwischen nationalem und internationalem Kapital, ähnlich zwischen Industrie- und Handelskapital. Es gibt eine umfangreiche prekäre Elends- und Bandenökonomie, vor allem in den villas genannten informellen Armenvierteln der großen Städte, und dazwischen viele Solo- und Kleinselbständige (monotributismo). Dennoch bleibt der Gegensatz zwischen der Mehrheit, die für ihren Lebensunterhalt ihre Arbeitskraft verkaufen muss, und denen, für die dieser Lebensunterhalt niedrig zu haltende Kosten sind, deutlich bestehen.
Nach ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln sehen sich die Arbeitskräfte denen gegenüber, die über Boden und Betriebe verfügen. Im Produktionsprozess ergibt sich hingegen das buntscheckige, nach Lohn/Preis, Zugängen und Kompetenzunterstellung abgestufte, intersektionale Belohnungssystem, in dem empfunden alle mit allen konkurrieren. Konkret steht jede Arbeitskraft mit vielen anderen Einzelnen und Gruppen in einem wechselseitigen Abwertungsverhältnis. Es gibt in Argentinien eine starke Tradition, diese Klassenspaltung zu durchschauen und zu überwinden. Aus den Erfahrungen der europäischen Klassenkämpfe brachten die italienischen, spanischen und polnischen Arbeitskräfte, die ab Ende des 19. Jahrhunderts massenhaft ins Land strömten, die Lektion mit, dass die Klasse nicht einfach da ist, sondern für sich werben muss, sich ausdehnen und sich mehr Mittel verschaffen. Das machten sie so erfolgreich, dass die Rückzugslinie der anderen Seite erst bei Peróns üppigem Sozialstaat gezogen werden konnte. Um diese Errungenschaften wird seither ein langes Rückzugsgefecht geführt, in dem die neoliberale Militärdiktatur 1976-83 und der IWF-Ausverkauf der 1990er-Jahre bis zu Milei die heftigsten Gegenangriffe waren.
Straffreiheit für Reiche
Milei wirkt nur neu, weil er mit Hightech und Video-Massenkommunikation verknüpft wird und angesichts der fantastischen Dauerinflation (iz3w 402) die sonst meist verbrämte »Schocktherapie« offen ankündigen konnte. Politisch wie ökonomisch weitet er jedoch bisherige Strategien des »starken, schlanken Staats« lediglich aus. Nur durch Backing des größten Flughafenbetreibers der Welt und anderer Geschäftsnetzwerke kam Milei zu seiner Bekanntheit, und nur durch die Unterstützung der vorletzten Regierung Macri kam er zu seinem Wahlsieg – seine innenpolitische Hardlinerin Patricia Bullrich war das auch schon unter Macri.
Wie andere Liberal-Konservative versucht Milei kontinuierlich die Gewaltgeschichte der Militärdiktatur herunterzuspielen, will die durch jahrelange Massenproteste geänderte Abtreibungsgesetzgebung wieder verschärfen, macht Kampagne gegen »Kulturmarxismus«, mit dem er seine Opposition von der FIT bis zum linken Peronismo markiert, und gegen das Wissen um den Klimawandel, das seinem Ausbau von fossilem Extraktivismus im Weg steht. Also schaffte er das Umweltministerium ab, kürzte Mittel für Umweltpolitik um 65 Prozent, benannte am 8. März den »Ehrensaal der Frauen« im Präsidentenpalast in »Saal der nationalen Helden« um und ersetzte die Frauen- durch Männerporträts. Und es geht natürlich gegen die Armen: Sämtliche Zahlungen an Solidarküchen wurden gestrichen, für sie vorgesehene Lebensmittel vergammeln.
Mileis libertäres Bekenntnis zu freier Liebe, Waffen, Drogen und Prostitution stört das konservative Einvernehmen nur auf den ersten Blick, weil die Quasi-Immunität der Reichen maximal etwas unverblümter erhalten bleiben soll. Das gilt auch als Einladung ans ausländische Kapital: Ab 200 Millionen Dollar Investitionssumme soll das argentinische Recht nicht mehr zuständig sein, eventuelle Streitfälle kämen vor ein internationales Schiedsgericht (iz3w 403). Auch Zugriff auf Bergwerke würde so rechtsimmun gewährt, obwohl die laut Verfassung eigentlich den Provinzen gehören.
Wo ist das Geld?
Milei reiht sich ein unter südamerikanische Staatschefs wie Bolsonaro und Cartes, die den Weg fürs Kapital freischießen oder nun eben freisägen. Im deutschsprachigen Universum loben vor allem Springer, NZZ und AfD das »funktionierende Politik-Experiment«, in Mileis »schwarzer Null« erkennen sie ihre eigene Lieblingspolitik, der auch hierzulande Infrastruktur und öffentliche Einrichtungen geopfert werden.
Auf Mileis Parole »No hay plata«, es gibt kein Geld vom Staat, antwortet die FIT, dass es ja offenbar doch Geld gibt: 39 Milliarden Pesos (ca. 36 Millionen Euro) für die Sicherheitskräfte, die einstweilen noch dem Staat unterstehen.
Digitales Schnupperabo
Drei Monate schnuppern, lesen, schmökern.
Währenddessen ist die Armut unter Milei rapide angewachsen und hat das Niveau der Zeit um 2000 erreicht – fünf Millionen Menschen sind seit seinem Amtsantritt unter die Armutsgrenze gefallen. Damit lebt die Hälfte der Bevölkerung in Armut, zwei Drittel der Kinder. Alle, die auf Renten angewiesen sind oder sein werden, sehen sich im »Mixer« (»licuadora«): Durch die zwar langsamer, aber weiter steigende Inflation nimmt ihre Kaufkraft ab, die Pensionssumme bleibt aber gleich, was den Staatshaushalt »entlastet«. Trotz Konsum- und Umsatzrückgängen, trotz explodierender Arbeitslosigkeit nach Massenentlassungen nicht nur aus dem Staatsdienst, trotz Einbruchs der Industrieproduktion und noch heftiger des Baugewerbes gibt es anderswo riesige Gewinnsteigerungen, etwa in der Pharma- und Milchwirtschaft – und »die Zahlen stimmen« endlich wieder, die Kenngrößen des »Investitionsklimas«.
Konsequente Klassenposition
Bisher ließ sich Mileis Kettensäge nicht aufhalten, aber doch bremsen. Trotz Bullrichs brutal durchgesetztem »protocolo anti-piquetes«, mit dem Kundgebungen auf die Gehwege beschränkt werden sollen, gab es zwei Generalstreiks, mehrere landesweite Proteste gegen Bildungs- und Rentenkürzungen, praktisch ständig Demos und Kundgebungen in Parlamentsnähe. Sie konnten zumindest dafür sorgen, dass nicht alle Maßnahmen durchkamen und vieles nicht sofort, ungeprüft und im Paket. Und sie konnten zeigen, dass Widerstand nach wie vor möglich ist, dass sich immer noch die Straße genommen werden kann. Die konsequente Klassenposition, wie sie die FIT und auch Teile des linken Peronismus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte entnehmen, scheint auch das beste Mittel, um Mileis libertären Märchen zu begegnen: nichts unwidersprochen lassen, nichts kampflos aufgeben, sich nicht verstreuen lassen, sich beharrlich weiter von unten selbst organisieren.