Narendra Modi in der Mitte hält Wladimir Putin (links) und Xi Jingping (rechts) an der Hand, im Hintergrund die Landesflaggen
Mulipolärität der autoritäten Männer: Wladimir Putin, Narendra Modi und Xi Jingping auf einem Nebentreffen beim G20 Gipfel 2019 in Osaka, Japan | Foto: MEAphotogallery CC BY-NC-ND 2.0

Unipolar war gestern

Die multipolare Welt­ordnung befördert den Autoritarismus

Das Eintreten vieler Linker für das Konzept der Multipolarität verteidigt faktisch Autoritarismus. Derzeit werden autoritäre Staaten wie Indien, Russland, Pakistan, Türkei oder Iran regionale Hegemonialmächte. Die Volksrepublik China agiert als Weltmacht. Das macht die Welt nicht besser. Was sagt die Linke dazu? Ein Debatten-Beitrag, der zuerst in der Zeitschrift The India Forum erschien.

von Kavita Krishnan

17.03.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 395

Multipolarität ist das politische Credo, an dem sich die Linke in ihrem Verständnis von internationalen Beziehungen orientiert. Nahezu alle linken Strömungen in Indien und weltweit setzen sich seit langem für eine multipolare Welt ein, im Gegensatz zu einer unipolaren, die von den imperialistischen USA dominiert wird.

Zugleich ist die Multipolarität zum Schlüsselbegriff in der gemeinsamen Sprache globaler autoritärer und faschistischer Kräfte geworden. Sie ist ein Schlachtruf der Despoten, mit dem sie ihren Krieg gegen die Demokratie als einen Krieg gegen den Imperialismus tarnen. Dass das Konzept dazu eingesetzt wird, um autoritäte Regime zu legitimieren, wird in erheblichem Maße durch die lautstarke Befürwortung der Multipolarität als Ausdruck antiimperialistischer Demokratisierung durch die globale Linke begünstigt.

Multipola­rität ist zu einem Grund­pfeiler autoritärer Kräfte geworden

Indem die Linke politische Konfron­tationen zwischen National­staaten scheinbar neutral als Nullsummen-Spiel darstellt, in dem es um Uni­polarität versus Multi­polarität geht, hält sie eine Fiktion aufrecht, die immer schon irreführend und ungenau war. Diese Vorstellung ist ein gefährliches Narrativ, weil sie das Autoritäre als Korrektiv gegenüber den als omnipotent imaginierten USA verharmlost.

Wie verheerend das Engagement der Linken für eine wertfrei vorgestellte Multipolarität ist, zeigt sich im Fall ihrer Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine. Die globale und die indische Linke haben (in unterschiedlichem Maße) den russischen faschistischen Diskurs befördert, indem sie die Invasion als multipolare Herausforderung des unipolaren Imperialismus verteidigten.

Die Freiheit, faschistisch zu sein

Als der russische Präsident Wladimir Putin am 30. September 2022 die illegale Annexion von vier ukrainischen Provinzen ankündigte, erläuterte er, was Multipolarität und Demokratie für ihn bedeuten: Er definierte Multipolarität als Freiheit von den Versuchen der westlichen Eliten, ihre »verkommenen« Werte von Demokratie und Menschenrechten als universelle Werte zu etablieren. Werte, die der Bevölkerungsmehrheit im Westen und erst recht anderswo »fremd« seien.

Putin will die »unipolare Hegemonie« universeller Menschenrechte stürzen

Putins rhetorischer Trick bestand darin, zu behaupten, dass die Konzepte einer auf Regeln basierenden Ordnung, Demokratie und Gerechtigkeit allein ideologische und imperialistische Diktate des Westens seien. Diese Konzepte würden die Souveränität anderer Nationen verletzen. Als Putin seine Empörung über die Verbrechen westlicher Länder zum Besten gab – darunter Kolonialismus, Imperialismus, Invasionen, Besetzungen, Völkermorde und Putsche –, konnte man den eigentlichen Anlass seiner Kriegsansprache fast vergessen. Indem Putin die Selbstverständlichkeit aussprach, dass die westlichen Regierungen »kein moralisches Recht haben, sich einzumischen oder auch nur ein Wort über Demokratie zu verlieren«, schloss Putin die vom Krieg betroffenen Menschen geschickt aus der Betrachtung aus.

Dabei kämpfen Menschen in den ehemaligen Kolonien weiter für ihre Freiheit. In den imperialistischen Ländern gehen andere Menschen auf die Straße, um Demokratie und Gerechtigkeit zu fordern und gegen Rassismus, Kriege und Invasionen zu protestieren. Aber diese Menschen hat Putin nie unterstützt. Vielmehr hat er Gleichgesinnten in der ganzen Welt – rechtsextremen, rassistischen, antifeministischen, homophoben und transphoben politischen Bewegungen – zu verstehen gegeben, dass die Unterstützung der Invasion der Ukraine auch in ihrem Sinne ist: als Teil eines Unterfangens, dem es um die Überwindung der »unipolaren Hegemonie« universeller demokratischer Werte und Menschenrechte geht, um »wahre Freiheit, eine historische Perspektive« zu erreichen.

Putin nimmt eine eigene ‚historische Perspektive‘ ein, um eine angeblich überlegene, spezifisch russische Zivilisation zu verteidigen, in der Gesetze LGBT-Personen entmenschlichen und die Benennung historischer Fakten kriminalisiert wird. Er bekräftigt die Freiheit Russlands, demokratische Normen und internationale Gesetze zu missachten. Das antidemokratische Projekt seiner »eurasischen Integration« begreift Putin als multipolare Herausforderung der »imperialistischen« EU und westlichen Unipolarität.

Die Sprache des globalen Autoritarismus …

Die Rede von Multipolarität und Antiimperialismus findet auch im nationalistischen chinesischen Totalitarismus Anklang. In der gemeinsamen Erklärung von Putin und dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping im Februar 2022, kurz vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, erklärten beide ihre Ablehnung universell akzeptierter Standards für Demokratie und Menschenrechte. Sie bevorzugen kulturrelativistisch angepasste Standards: »Eine Nation kann die Formen und Methoden der Demokratie wählen, die am besten zu ihren [...] Traditionen und einzigartigen kulturellen Merkmalen passen.« Diese Ideen wurden in der Erklärung ausdrücklich »den Bemühungen der russischen Seite um ein gerechtes multipolares System der internationalen Beziehungen« zugerechnet.

Die Forderung nach einer Demokratie gemäß universeller Standards, wie sie in der chinaweiten Protestbewegung gegen die Unterdrückung im Namen einer Zero-Covid-Politik erhoben wird, steht diesem kulturrelativistischen Demokratieverständnis der chinesischen Regierung klar entgegen. In einem chinesischen Weißbuch aus dem Jahr 2021 über »Chinas Ansatz zu Demokratie, Freiheit und Menschenrechten« werden Menschenrechte als »Glück« dank Wohlfahrt und Sozialleistungen definiert. Sie gelten nicht als Schutz vor ungezügelter staatlicher Macht.

Händehalten zwischen fünf Regierungschefs (Tremer, Modi, Jingping, Putin, Zuma)
Die Regierungschefs der BRICS Staaten bei ihrem multipolaren Treffen in Hangzhou in China 2016 | Foto: Beto Barata/PR | cc-by-2.0

Die Definition von »chinaspezifischer« Demokratie als »gute Regierungsführung« und von Menschenrechten als »Glück« ermöglicht es Xi, die Unterdrückung der uigurischen Muslim*innen zu rechtfertigen. Er behauptet, dass Lager für diese Minderheiten, in denen sie dazu erzogen werden, ihren Islam »chinesisch auszurichten« zu »guter Regierungsführung« und größerem »Glück« führen.

… im »hinduistischen Staat« Indien

Auch in der hindu-nationalistischen Führung Indiens gibt es starke Anklänge an den autoritären Diskurs einer multipolaren Welt, in der die alten Zivilisationsmächte wiederaufsteigen, um ihren vormaligen Ruhm wiederherzustellen. Die Hegemonie der liberalen Demokratie weicht in dieser Vorstellung wieder vor der Tradition zurück.

Mohan Bhagwat, Vorsitzender der paramilitärischen Freiwilligenorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh, nahm Ende 2020 in einer Diskussionsveranstaltung seiner Organisation zur »Rolle Indiens in globaler Perspektive« dazu Stellung. Er sprach mit Bewunderung davon, dass »in einer multipolaren Welt«, welche die USA herausfordere, »China jetzt aufgestiegen ist. Es kümmert sich nicht darum, was die Welt von ihm denkt. Es folgt seinem Ziel, zum Expansionismus der früheren Kaiser zurückzukehren«. Und weiter: »In der multipolaren Welt spielt jetzt auch Russland sein Spiel. Es versucht, voranzukommen, indem es den Westen unterdrückt.«

Auch Premierminister Narendra Modi hat wiederholt Menschenrechtsverteidiger*innen als anti-indisch angegriffen, obwohl er Indien »Mutter der Demokratie« nennt. Dies funktioniert, indem Indiens Demokratie nicht durch die ‚westliche‘ Linse betrachtet wird, sondern als Teil seines »zivilisatorischen Ethos«. In einem verbreiteten Konzept der Modi-Regierung definiert sich die indische Demokratie durch »hinduistische Kultur und Zivilisation«, »hinduistische politische Theorie«, »hinduistischen Staat« und die traditionellen (oft regressiven) Kastenräte, welche Kasten- und Geschlechterhierarchien durchsetzen.

Diese Ideen korrespondieren mit einer partiellen Vernetzung der Hindu-Nationalist*innen mit rechtsextremen Kräften außerhalb Indiens. Der einflussreiche russische Rechtsintellektuelle Aleksandr Dugin nimmt dazu im Artikel »The Indian moment of multipolarity« dezidiert Stellung. Der faschistische Philosoph befürwortet, dass »Multipolarität [...] eine Rückkehr zu den zivilisatorischen Grundlagen jeder nicht-westlichen Zivilisation (und eine Ablehnung) der liberalen Demokratie und der Menschenrechtsideologie befürwortet«. Im Buch »The Fourth Political Theory« affirmiert Dugin mit Blick auf Indien die Kastenhierarchie als Gesellschaftsmodell. Indem er die Werte der brahmanischen Manusmriti direkt mit dem internationalen Faschismus verbindet, sieht Dugin »die gegenwärtige Ordnung der Dinge«, die von »Menschenrechten, Anti-Hierarchie und politischer Korrektheit« repräsentiert sei, als »Kali Yuga«: ein Unheil, das die Vermischung der Kasten (eine Rassenmischung, die wiederum durch die unheilvolle Freiheit der Frauen herbeigeführt werde) und den Abbau der Hierarchie mit sich bringe. Modis Wahlerfolg bezeichnet Dugin als einen Sieg der »Multipolarität«, eine Behauptung der »indischen Werte« und eine Niederlage der »liberalen Demokratie und der Menschenrechtsideologie«.

Wo Linke auf Rechte treffen

Doch die Linke verwendet weiterhin den Begriff Multipolarität, ohne sich im Geringsten bewusst zu sein, dass die Rechte dieselbe Sprache spricht. Umgekehrt verfolgt auch Putins Rede von Multipolarität den Zweck, in der globalen Linken Anklang zu finden. Ihre bequemliche Vertrautheit mit dem Begriff hindert die Linke – die stets hervorragende Arbeit geleistet hat, um die Lügen der US-imperialistischen Kriegstreiberei zu entlarven – daran, den gleichen kritischen Blick auf Putins (vorgeblich antikoloniale und antiimperialistische) Rhetorik anzuwenden.

Es ist bereits merkwürdig, dass die Linke sich die Sprache der Polarität überhaupt zu eigen macht. Der Diskurs der Polarität gehört zur realistischen Schule der internationalen Beziehungen. Der Realismus sieht die globale Ordnung als Wettbewerb zwischen den außenpolitischen Zielen einer Handvoll »Poles« – Großmächte oder aufstrebende Großmächte –, die ‚nationale Interessen‘ widerspiegeln. Der Realismus ist grundsätzlich unvereinbar mit einer marxistischen Sichtweise, die davon ausgeht, dass das ‚nationale Interesse‘ keine objektive Tatsache ist, sondern subjektiv durch den »politischen (und damit moralischen) Charakter der Führungsschicht, die außenpolitische Entscheidungen trifft und gestaltet« definiert wird, wie Achin Vanaik in einem Artikel über »Nationales Interesse« schreibt.

So stellt Vijay Prashad, einer der prominentesten Befürworter der Multipolarität in der globalen Linken, anerkennend fest, dass »Russland und China nach Souveränität streben, nicht nach globaler Macht«. Er erwähnt nicht, dass diese Mächte Souveränität als Freiheit entgegen der Bindung an universelle Standards der Demokratie, Menschenrechte und Gleichheit interpretieren.

Ein kürzlich erschienener Aufsatz des Generalsekretärs der Marxistisch-Leninistischen Partei Indiens (CPI [ML]), Dipankar Bhattacharya, wirft ähnliche Probleme auf, wenn er die Entscheidung der Partei erklärt, die Solidarität mit der Ukraine mit der eigenen Vorliebe für Multipolarität in Einklang zu bringen. Bhattacharya formuliert: »Ungeachtet des internen Charakters der konkurrierenden globalen Mächte ist eine multipolare Welt für fortschrittliche Kräfte und Bewegungen weltweit in ihrem Streben nach einer Umkehrung der neoliberalen Politik, nach sozialem Wandel und politischem Fortschritt sicherlich vorteilhafter.« Die KPI [ML] begrüßt also den Aufstieg nicht-westlicher Großmächte, selbst wenn sie im Inneren faschistisch oder autoritär sind. Eine solche linke Formulierung legitimiert rechtsgerichtete Projekte, die sich als Verfechter der antiimperialistischen Multipolarität bezeichnen.

»China kümmert sich nicht darum, was die Welt von ihm denkt«

Bhattacharya sieht die Unterstützung des ukrainischen Widerstands als kaum vereinbar mit der »nationalen Priorität« des »Kampfes gegen den Faschismus in Indien«. Die Unterordnung von internationaler Solidarität mit Kriegsbetroffenen unter die »nationale Priorität« ist per se problematisch. Und wie sollte die Solidarität mit der Ukraine gegen eine faschistische Invasion im Widerspruch zum Kampf gegen den Faschismus in Indien stehen? Bhattacharyas Argumentation ist erzwungen. Er macht einen rätselhaften Umweg über die vorgebliche Notwendigkeit, kommunistische Bewegungen sollten sich davor zu hüten, »der internationalen auf Kosten der nationalen Situation Vorrang einzuräumen«.

Der einzig plausible Zweck dieses Umweges ist es, alte Gewissheiten wiederherzustellen. Da das Modi-Regime außenpolitisch primär mit den USA und dem Westen verbündet ist, wird behauptet, dass der Kampf gegen Modis Faschismus geschwächt würde, wenn Russland, ein multipolarer Rivale der USA, den Krieg verliert.

Einfache Feindbilder täuschen

Das verschleiert die einfache Tatsache: Eine Niederlage von Putins tyrannischer Invasion in der Ukraine würde alle ermutigen, die für die Niederlage von Modis Tyrannei in Indien kämpfen. Ebenso würden Erfolge der Menschen, die sich gegen Xis Tyrannei wehren, diejenigen ermutigen, die sich gegen Modis Tyrannei in Indien wehren.

Martin Luther King Jr. sagte: »Ungerechtigkeit an irgendeinem Ort bedroht die Gerechtigkeit an jedem anderen.« Wir schwächen unsere demokratischen Kämpfe, wenn wir die Kämpfe anderer im Muster einer außenpolitischen Freund-Feind-Ideologie betrachten. Wir haben die Wahl, entweder den Widerstand der Unterdrückten zu unterstützen – oder uns um das Überleben des Unterdrückers zu sorgen.

Wenn die Linke die ‚Pflicht‘ auf sich nimmt, Regime wie in Russland, China oder sogar Iran zum Zwecke der Multi­polarität zu unterstützen, versagt sie bei ihrer eigentlichen Aufgabe. Zuerst gilt es, die Menschen zu unterstützen, die gegen die Menschenfeindlichkeit dieser Regime kämpfen. Ein Nutzen, den die USA gegebenenfalls aus ihrer Unterstützung antiautoritärer Kämpfe zieht, wird bei weitem durch den Nutzen für das Überleben der betreffenden Menschen aufgewogen. Man sollte nie vergessen, dass die militärische Unterstützung der USA für die UdSSR im Zweiten Weltkrieg zur Niederlage Nazideutschlands führte.

Tyrannische Regimes interpretieren jede Opposition als Unterstützung für ausländische oder imperialistische Einmischung in ihre Souveränität. Wenn die Linke dasselbe macht, ermöglicht sie diese Tyranneien. Diejenigen, die um Leben und Tod kämpfen, brauchen uns jedoch für das Gegenteil: um ihre Autonomie und Souveränität zu respektieren, um zu entscheiden, welche Art von Unterstützung sie brauchen. Der moralische Kompass der globalen und indischen Linken muss dringend neu justiert werden. Dann kann sie den katastrophalen Kurs korrigieren, der sie dazu bringt, die gleiche Sprache wie Tyrannen zu sprechen.

 

Übersetzung aus dem Englischen: Larissa Schober

Kavita Krishnan ist eine marxistische feministische Aktivistin und Autorin. Die englische Originalfassung des Artikels.

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