Auf dem Trockenen

Krise wohin man schaut? Zuerst einmal nicht: Klotzen, nicht kleckern heißt es im mexikanischen Wahlkampf mit Blick auf die Industriepolitik: Über hundert neue Industrieparks versprach die Präsidentschaftskandidatin Claudia Sheinbaum Anfang April. Realistisch oder nicht – in der US-Industrie hört man das gern: Angesichts der unsicheren Weltlage hat man seine Zulieferbetriebe lieber im nahen, wenn auch teureren Mexiko sitzen als im billigen Asien. Irgendwo hieß es zwar einmal: »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel«. Von wegen. Sie verkriecht sich in ihrem Hinterhof.

Will­kommen in der Zangen­krise

Nearshoring heißt das Phänomen, von dem Länder wie Mexiko in naher Zukunft profitieren werden und das zugleich von einer Krise zeugt. Es kann als Gegentendenz zur bisherigen Strategie des Offshorings verstanden werden. Letzteres war, als Flucht vor industriellen Überkapazitäten und hohen Kosten aus dem Zentrum in die Peripherie, ebenfalls eine Krisenlösungsstrategie. Nun erweist sich die Verästelung der Lieferketten in einer immer unvorhersehbareren Weltlage wiederum selbst als Achillesferse des Kapitalismus: Wo die Lieferketten bis zum Bersten überdehnt sind, steigt das zerstörerische Potenzial weltpolitischer Ereignisse, Kriege oder Pandemien. Und umgekehrt tragen wirtschaftliche Krisen zur Verschärfung der politischen Konflikte bei. So scheint in den vergangenen vier Jahren eine Krise die nächste zu jagen: Pandemie, Klimaerwärmung, ein Angriffskrieg, Energiepreiskrise, Lebensmittelpreisexplosion – und während man im Zentrum versucht, der Inflation mit Zinserhöhungen Herr zu werden, oder Herrin, stehen viele Staaten der Peripherie angesichts explodierender Schuldendienste mit dem Rücken zur Wand.

Krise wohin man schaut?

Die Wechselwirkungen dieser Vielfachkrise untersuchen wir in diesem Dossier. Dabei werden die Karten neu gemischt. So ist die Strategie, wirtschaftliche Stagnation durch ressourcenintensives Wachstum zu überwinden, angesichts der ökologischen Krise nicht mehr gangbar. Das analysiert Klaus Dörre im Einleitungsinterview (Das Neue ist ungewiss): Wir stecken in der »Zangenkrise«, weil Wachstum die Umwelt katastrophal zerstört und Nullwachstum immer die Ärmeren trifft. Ergänzend fragt Joachim Becker: Welches Akkumulationsregime könnte überhaupt auf den fossilen, neoliberalen Kapitalismus folgen (»Zwischen Skylla und Charybdis«)?

Wirtschaftskrisen werfen die Gesellschaft in einen »Zustand der momentanen Barbarei« zurück, schrieben Karl Marx und Friedrich Engels 1848 im Kommunistischen Manifest. Heute mag man da in vielen Ländern der Peripherie seufzen: »Momentan« wäre schön. Wie etwa im Dauerkrisenstaat Tunesien (Austerität und Autoritaris­mus), dessen Regierungen auch nach dem Umsturz im Arabischen Frühling keine Antwort auf die sozialen Fragen lieferten, und das nun in die Präsidialdiktatur abgleitet. Dass die kapitalistische Dauerkrise gerade in den Ländern der Peripherie auf verschiedenen Ebenen in eine »politische Ökonomie der Barbarei« übergegangen ist, zeigen Ana Elisa Cruz Corrêa und Scheilla Nunes Gonçalves am Beispiel Brasilien und der dortigen tödlichen Gewalt gegen Schwarze Frauen (Trümmer­frauen des peripheren Kapital­ismus).

Auf eine Dekade der Krise blickt auch das Nachbarland Argentinien zurück, wo die jährliche Inflationsrate zwischenzeitlich über 270 Prozent erreichte und der neue Präsident Javier Milei mit einer wirtschaftslibertären Schocktherapie reagiert (Alles oder Nichts). Eine ganz andere Strategie der Krisenregulierung fährt man da in China, wo die Regierung bemüht ist, die Fassaden einer durch Verschuldung und Immobilienspekulation induzierten Boomökonomie staatsinterventionistisch aufrechtzuerhalten (Zwei Wege im Schla­massel). Und von einem Extremfall der Vielfachkrise berichtet unser Interview über die aktuelle Situation in Haiti, wo der einzige prosperierende Wirtschaftssektor die Kriminalität ist und Banden das Land kontrollieren (»Es geht nicht nur um Beute­züge«).

Kurzum: Märkte, politische Systeme und die Umwelt sind zusammenhängend in der Krise. Das hat vielfältige Ursachen, die einerseits verzahnt sind, und andererseits auf ein überstrapaziertes Wirtschafts- und Regulierungssystem treffen. Das kann schon einmal ratlos machen: Nach einem trockenen 2023 wird in Mexiko das Wasser knapp. »Die Energieversorgung und der Wassermangel könnten zum Flaschenhals werden«, warnt Johannes Hauser, Geschäftsführer der Deutsch-Mexikanischen-Handelskammer, am 19. April 2024 in der Stuttgarter Zeitung. Und im Januar titelte das mexikanische Medium Milenio: »Die Wasserknappheit macht Mexiko-Stadt für Nearshoring-Investitionen uninteressant.« Willkommen in der Zangenkrise.

die redaktion

 

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Für den Inhalt dieser Publikation ist allein die Aktion Dritte Welt e.V. verantwortlich; die hier dargestellten Positionen geben nicht den Standpunkt von Engagement Global gGmbH, Brot für die Welt, dem Katholischen Fonds und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wieder.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 392 Heft bestellen
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