Im Stech­schritt verstolpert

Editorial zum Dossier Auto­ritarismus

Im Stechschritt marschiert eine Gruppe Uniformierter die Kaplanstraße im Zentrum Tel Avivs hinunter. Sie tragen ein Transparent mit der Aufschrift: »Mit Feuer und Blut schützen wir die Diktatur«. Die Szene mutet dystopisch an. Es ist, zum Glück, keine echte Miliz, sondern eine Protest-Performance, die auf die Bedrohung der israelischen Demokratie aufmerksam macht. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verfolgt mit einem ultrareligiös-rechtsextremen Parteienbündnis den autoritären Umbau des Staats. Netanjahu verachtet den Rechtsstaat, spätestens seit er wegen Korruptionsvorwürfen mit einem Bein im Gefängnis steht. Die ‚Ultras‘ verachten ihn, weil er ihrer Idee einer theokratischen Gesellschaft im Weg steht. Damit ist die Koalition eine perfekte Ehe, die jedoch angesichts der anhaltenden Massenproteste kriselt. Die Justizreform, mit der Netanjahu den Einfluss des Höchsten Gerichts beschränken wollte, liegt derzeit auf Eis. Nun buhlt er mit der Einführung einer Nationalgarde um die Gunst der Koalitionspartner. Diese soll nach dem Wunsch der Rechten direkt dem Sicherheitsministerium von Itamar Ben-Gvir unterstellt werden, dessen Partei die Ausbürgerung ‚illoyaler‘ arabischer Israelis fordert. Die Opposition warnt vor der Einrichtung einer rassistischen rechten Miliz.

Medienberichten zufolge hat sich Justizminister Yariv von der autoritären Justizreform in Polen inspirieren lassen. Er hätte aber auch bei der Türkei abschreiben können. Und die schrillen Töne, mit denen vor einer Verschwörung der Justiz gegen die nationale Politik gewarnt wird, erinnern an hetzerische Reden von Trump oder Bolsonaro. Netanjahu liegt mit seiner autoritären Wende im Trend. Weltweit leben heute mehr Menschen in nicht-demokratischen Systemen als umgekehrt. Ist Autoritarismus die neue Norm?

Der Auto­ritaris­mus will nicht ge­hasst, sondern ge­liebt werden

Hinter diesen Beispielen stecken allerdings sehr unterschiedliche Sachverhalte: Es geht um ehemals liberale Demokratien, die eine autoritäre Wende vollzogen haben, ebenso wie Staaten, die nie liberal waren, um Theokratien wie säkulare Militärdiktaturen oder Monarchien. Und auch in den demokratischen Rechtsstaaten stehen erkämpfte Rechte wieder auf dem Spiel – wie etwa das Recht auf körperliche Selbstbestimmung in den USA.

Muss also das Unterfangen, so vielfältige politische Systeme unter ein und denselben Begriff Autoritarismus zu fassen, nicht scheitern? Uns geht es nicht um die Beschreibung eines konkreten Staatstypus, sondern um das Aufzeigen einer weltweiten Tendenz: Die Spielräume für die Einzelnen, für politische Oppositionen, NGOs und für Journalist*innen werden in großen Teilen der Welt kleiner. Gleichzeitig gibt es verbindende autoritäre Strukturprinzipien: Autoritäre Herrschaft fordert die Unterordnung der Regierten unter ein Leitprinzip. Sie verneint die Legitimität davon abweichender Interessen, die Mündigkeit der Einzelnen und verachtet vermittelnde Institutionen.

Der Autoritarismus will nicht gehasst, sondern geliebt werden. Von der bloßen Gewaltherrschaft unterscheidet er sich, indem er auf die Affirmation durch die Beherrschten setzt. In diesem Dossier untersuchen wir, wie dieses autoritäre Verhältnis wo ausgestaltet ist: Es geht etwa um die evangelikale Sympathie für autoritäre Herrschaft in Lateinamerika, den Umbau des indonesischen Strafrechts nach nationalistischen oder islamistischen Vorstellungen und um »nihilistischen Autoritarismus« in Russland.

Eine dichotome Entgegenstellung von Liberalismus und Autoritarismus wäre irreführend. Sie verkennt den die bürgerliche Gesellschaft prägenden Widerspruch zwischen demokratischen politischen Entscheidungsstrukturen und nicht demokratisch organisierten, privaten Eigentumsverhältnissen. Auch die Unterordnung unter den Markt ist autoritär: Das zeigt sich in Krisenzeiten, wenn die wirtschaftlichen ‚Sachzwänge‘ an den Regierten vollstreckt werden. Die Polizeiknüppel, die in Zhengzhou die Arbeiter*innen zurück in die Chipfabrik prügeln und jene, die in Paris der Erhöhung des Rentenalters den Weg freischlagen, fühlen sich, in sehr unterschiedlichen politischen Systemen, ähnlich an.

Die andere Seite von Repression ist antiautoritärer Widerstand. Wir zeigen ihn etwa am Beispiel der Gegenkultur in Indien. Und am 22. April gingen zum sechzehnten Mal in Folge allein in Tel Aviv über 100.000 Menschen auf die Straße. Netanjahus Marsch in den Autoritarismus kommt ins Stolpern und könnte an mangelnder Unterordnung scheitern.

die redaktion

Das Dossier Autoritarismus wurde gefördert durch die Amadeu-Antonio-Stiftung und die Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 396 Heft bestellen
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