»Heute gibt es viele, die den Kampf auf sich nehmen«
Interview mit der LGBTIQ-Organisation Sarajevski Otvoreni Centar
Sarajevski Otvoreni Centar (Sarajevo Open Centre, SOC) ist eine feministische Organisation aus Sarajevo, die sich seit etwa zehn Jahren für die Rechte von LGBTIQ (lesbians, gays, bisexual, transgender, intersex)-Personen einsetzt und unter anderem die erste Pride-Parade in Sarajevo 2019 mitorganisiert hat.
iz3w: Wie genau sieht eure Arbeit aus?
SOC: Wir arbeiten direkt mit und für die LGBTIQ-Gemeinschaft, indem wir psychologische und rechtliche Beratung zur Verfügung stellen. Wir bauen die LGBTIQ-Bewegung weiter auf und setzen uns für Gesetze ein, die die Rechte von LGBTIQ-Menschen schützen. Ein besonderer Teil unserer Arbeit widmet sich der Sensibilisierung und Weiterbildung von Staatsakteur*innen hinsichtlich der Rechte und Anliegen von LGBTIQ-Personen. Wir arbeiten zusammen mit der Polizei, Sozialarbeiter*innen, Angestellten im öffentlichen Dienst und gewählten Politiker*innen mit einem klaren Ziel: Wir wollen sicherstellen, dass jeder positive Wandel, den wir herbeigeführt haben, auch in rechtlicher und politischer Hinsicht umgesetzt wird. Der vermutlich sichtbarste Teil unserer Arbeit zielt darauf, öffentliches Verständnis für unsere LGBTIQ-Identitäten, Lebensform und Subkulturen zu schaffen. Daran arbeiten wir in den letzten zehn Jahren mit Kampagnen, Festivals und Kunst.
Was sind die größten Herausforderungen, denen ihr euch gegenüberseht?
Es gibt viele Hürden bei der Arbeit, die wir bewältigen: von homophoben und transphoben Einstellungen bis hin zu dem lähmenden Gefühl, viel zu wenig verändern zu können, vor allem nicht durch Aktivismus aus der Zivilgesellschaft. Aber wir waren uns all dieser Aspekte von Anfang an bewusst und haben das in unsere strategischen Überlegungen einbezogen. Grundlegend sieht ein typischer Tag bei uns genau so aus: mit all diesen Herausforderungen zu jonglieren. Auf der einen Seite müssen wir uns um die individuellen Bedürfnisse in unserer Gemeinschaft kümmern, auf der anderen Seite aber auch aktiv sein und politisch Einfluss nehmen.
In Jugoslawien war es um Frauenrechte gut bestellt, viele Gesetze waren im Vergleich zu anderen europäischen Ländern progressiv. So war Vergewaltigung in der Ehe bereits in den 1970er-Jahren ein Straftatbestand, Frauen konnten ihren Namen bei einer Heirat schon in den 1960er-Jahren selbst wählen und viele Frauen hatten Arbeitsverträge. Hat das, gerade bei der älteren Bevölkerung, Spuren hinterlassen in Hinsicht auf Feminismus und Frauenrechte?
Das hat es auf jeden Fall! Ein halbes Jahrhundert Emanzipation hat das Leben von so vielen Frauen in vielerlei Hinsicht verbessert. Aber es gab natürlich auch Grenzen. In der privaten Sphäre gab es sehr stark das, was wir heute als »gläserne Decken« bezeichnen. Sie begrenzten und verhinderten die volle Partizipation von Frauen am öffentlichen Leben. Und es gab weiterhin viel Sexismus. Jugoslawische Filme und andere Kulturgüter aus dieser Zeit sind oft sehr schlecht gealtert. Sie sind grässlich, wenn man sie heute mit feministischem Blick betrachtet.
Es ist jedoch erschreckend zu sehen, wie der gewaltvolle Zerfall Jugoslawiens, sowie der lange ökonomische und kulturelle Abstieg die erreichten Fortschritte ins Gegenteil verkehrt hat. Es war wie eine Rückkehr in die dunklen Zeiten: Nationalismus, Konservativismus und Traditionalismus gewannen die Oberhand. Manchmal fragt man sich, was ohne die Kriege alles möglich gewesen wäre, wenn der Anfangspunkt unserer Kämpfe der Status Quo aus Jugoslawien gewesen wäre. Anstatt an Traumata von so viele Frauen (und Männern), hätten wir bei wirklich gleichen Rechten für alle ansetzen können. Wir hätten ein Vorbild für andere sein können. Doch nun sind wir hier.
In der internationalen Berichterstattung über Bosnien nach dem Krieg wurden bosnische Frauen oft auf eines von zwei Bildern reduziert: Entweder die verzweifelte muslimische Frau, die mit ihren Kindern vor ethnischer Säuberung flieht, oder das Opfer sexualisierter Kriegsgewalt. Wie hat sich die Wahrnehmung von Frauen im Laufe der Zeit verändert und was konnte getan werden, um Frauen von diesem Image zu befreien?
Das war und ist immer noch Teil unserer Realität. Dieses Bild repräsentiert Frauen, die unvorstellbare Traumata überlebt und selten Gerechtigkeit und Unterstützung erfahren haben. Es ist schrecklich, wenn diese Frauen im politischen Diskurs instrumentalisiert werden, um das Bild eines unterentwickelten und rückwärtsgewandten Bosnien-Herzegowina zu zeichnen. In Bosnien werden diese Bilder auch oft genutzt, um nationalistischen Hass zu schüren. Es gibt mittlerweile viele Feministinnen, die Frauen neue Gesichter verleihen, etwa die Plattform Sve su to vještice (It‘s all Witches) oder die lokale Nisam tražila (MeToo)-Initiative. Aber wir schämen uns auch nicht für irgendeine Art von Kriegsbildern – sie gehören ebenso zu unserer Realität und sollten nicht von den Bildern junger, erfolgreicher und glücklicher Frauen ohne Trauma ersetzt werden.
2008 gab es einen Angriff auf die Eröffnung des Queer Sarajevo Festivals, bei dem acht Personen verletzt wurden. Am 8. September 2019 fand die erste Sarajevo Pride statt. Was hat sich in den Jahren dazwischen verändert? Wie präsent waren die Ereignisse von 2008 noch während der Durchführung der Sarajevo Pride?
In unserem Gespräch geht es viel um Trauma. Das Queer Sarajevo Festival war ein traumatisches Erlebnis für die LGBTIQ-Bewegung und unsere Rolle war es, der Bewegung und ihren Mitgliedern danach wieder ein Gefühl von Stärke, Stolz und Kraft zu vermitteln. Das haben wir mit der Pride-Parade geschafft. Trotz schmerzhafter Momente und Stunden, die unsere Arbeit, unsere Vorbereitungen und unsere Beharrlichkeit auf die Probe gestellt haben, konnten wir eine erfolgreiche und friedliche Pride organisieren.
Mit der zunehmenden Sichtbarkeit von LGBTIQ-Aktivismus werden die Protagonist*innen auch angreifbarer. Wo erfahrt ihr den stärksten Widerstand gegen eure Arbeit und wie versucht ihr damit umzugehen?
In Bosnien hatten die meisten heterosexuellen Cis-Personen nie die Gelegenheit, Menschen der LGBTIQ-Gemeinschaft kennenzulernen, die offen diesen Teil ihrer Identität lebten. Die Repräsentation von LGBTIQ-Personen, oder vielmehr das Fehlen einer adäquaten Repräsentation ist ein großes Problem. Ebenso die negativen Stereotypen im Mainstream-Diskurs, die sich scheinbar immer wieder vervielfachen. Gegen diese Vorurteile anzukommen ist sehr schwierig – insbesondere, wenn Teile der Gesellschaft ein Interesse daran haben, sie aufrechtzuerhalten und zu verstärken. Gemäß diesen Vorurteilen gelten LGBTIQ-Personen leider immer noch als ‚krank‘ und ‚unnatürlich‘. Diese falsche Darstellung hat die Kraft, die betreffenden Menschen zu Sündenböcken zu machen, die im politischen Ränkespiel in Bosnien missbraucht werden.
Kann eure Arbeit und die anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen dieser Entwicklung etwas entgegensetzen?
»Es gibt mittlerweile viele Feministinnen, die Frauen neue Gesichter verleihen.«
Natürlich, wir konnten das Bild der LGBTIQ-Gemeinschaft in den Augen der breiten Öffentlichkeit vermenschlichen. Wir konnten den konservativen Kräften, die ein Interesse daran haben die aktuelle politische Situation zu bewahren, etwas von ihrer Kraft nehmen. Sämtliche politische Akteur*innen, über die gesamte Bandbreite des politischen Spektrums, reproduzieren sehr konservativen Werte und traditionelle Normen. Die vergangene Pride stellt sich gegen diese konservativen Bemühungen, macht laut auf die negativen Effekte von Gewalt Ungleichheit aufmerksam und zeigt, dass Familie und Identität auf anderen Säulen als Heteronormativität und Patriarchat aufbauen können: auf Verständnis, Liebe und Respekt.
Was waren die schönsten und lohnendsten Momente während der letzten Jahre, bei denen ihr euch dachtet »Deshalb ist unsere Arbeit wichtig«?
Innerhalb der letzten zehn Jahre haben wir einiges erreicht. Da ist etwa die Einführung von Antidiskriminierungs- und Strafgesetzen zum Schutz von LGBTIQ-Personen. Oder da sind Fortschritte bei Staatsbeamt*innen, die langsam aber sicher LGBTIQ-Perspektiven in die Entwicklung von Menschenrechtsgesetzen und öffentlichen Programme einbeziehen. Die LGBTIQ-Bewegung und ihre Verbündeten sind mittlerweile eine politische Kraft.
Unser größter Erfolg ist, dass unsere Arbeit für die Rechte und Anliegen von LGBTIQ-Personen Türen geöffnet und diese Kämpfe ,populär’ gemacht hat. Dies ist einer der offensichtlichsten Indikatoren für den Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung. Der widerstandsfähige Ansatz des SOC hat es möglich gemacht, die anfänglichen Hindernisse im Kampf für die LGBTI-Gleichstellung für die neue und nächste Generation von Aktivist*innen zu beseitigen. Vor zehn Jahren war das SOC nahezu die einzige Organisation, die sich für diese Themen einsetzte. Heute gibt es sehr viele Einzelpersonen, zivilgesellschaftliche Organisationen und informelle Gruppen, die Teile dieses Kampfes auf sich nehmen.