In der Filmszene des Science-Fiction Films »Neptune Frost« zeigen die Protagonist*innen der neokolonialen Ordnung den Mittelfinger
»Neptune Frost«: Das Hackerkollektiv der Zukunft trägt Elektroschrott – und zeigt der neokolonialen Weltordnung den Mittelfinger | © Cinemalovers

Erinnerungen an die Zukunft

Afrikan­ischer Futur­ismus beim Freiburger Film­forum

Das Freiburger »Festival Of Trans­cultural Cinema« vom 12. bis 21. Mai 2023, widmete sich unter anderem dem Programm­schwerpunkt »Hacking Time Mines«. Vorgestellt wurden Filme und Gäste, die nicht nur Kritik an der Ausbeutung des af­rikanischen Kontinents üben, sondern auch kraftvolle Gegen­visionen präsentieren.

von Fabian Lutz

27.06.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 397

Im Burundi der Zukunft tanzt ein Hackerkollektiv in glitzernden Rüstungen aus Computerschrott. Auf den Müllbergen der Slums von Nairobi präsentiert sich die personifizierte Mutter Erde stolz in ihrem Mantel aus kaputten Taschenrechnern, PC-Lüftern und Kabeln. Sowohl das Science-Fiction-Musical »Neptune Frost« des Musikers Saul Williams und der Regisseurin Anisia Uzeyman (USA/Ruanda 2021) als auch der Kurzfilm »Terra Mater« (Schweiz/Ruanda 2023) von Kantarama Gahigiri präsentieren Zukunftsszenarien, in denen für die Menschen des afrikanischen Kontinents lediglich die Abfälle des globalen Kapitalismus übrigbleiben. Gleichzeitig agieren die Figuren beider Filme selbstbewusst und machen auch dem westlichen Publikum unmissverständlich klar: Es gibt eine globale Krise – und wir werden antworten, auf unsere Weise.

Nur der Schrott bleibt zurück

Sind das dystopische Zukunftsvisionen oder vielmehr Gegenwartsdiagnosen? Das Freiburger Filmforum zeigte diese und weitere futuristische Filme vom afrikanischen Kontinent im Rahmen des Programmschwerpunkts »Hacking Time Mines«, der unter anderem aus einer Kooperation mit der Filmproduktionsfirma docubox aus Nairobi entstanden ist. Im Mittelpunkt aller Filme steht eine Welt, die längst in die Brüche gegangen ist. Menschen werden für Rohstoffe ausgebeutet, die dem Weltmarkt nutzen, ihnen selbst aber nicht. Sie leiden an den Folgen einer Umweltzerstörung, die das Erbe jahrhundertealter kolonialer Systeme ist. Die Technologie verlässt das Land, nur der Schrott bleibt zurück. Notdürftig bedienen sich die Menschen auf den Müllhalden, etwa vor der Stadt Nairobi im Bezirk Dandora, wo »Terra Mater« gedreht wurde. Regisseurin Kantarama Gahigiri versteht ihr zehnminütiges Werk, das bereits in der Kurzfilmsektion der diesjährigen Berlinale lief, als »Angry Poem« und Weckruf. »Neptune Frost« hingegen ist ein Science-Fiction-Musical mit komplexer Handlung und damit sicher der herausforderndste Beitrag des Programmschwerpunkts. Mit seinem ätherischen bis aggressiv stotternden Elektrosoundtrack und seinen durchchiffrierten Botschaften bezieht sich der rauschhafte Film auf das Multimediaprojekt »MartyrLoserKing« des Mitregisseurs Saul Williams, der auch die Musik für den Film beigesteuert hat. »Neptune Frost« schildert die Begegnung des aus einer Coltanmine geflohenen Matalusa mit der intersexuellen Hackerin Neptune. Zusammen mit einem Hackerkollektiv proben beide den Aufstand gegen die ausbeuterische, neokoloniale Ordnung eines dystopischen Burundi.

Sind das dys­topische Zukunfts­visionen oder viel­mehr Gegen­warts­diagnosen?

Nicht nur Vergangenheit und Zukunft, sondern auch Tradition – in Sprache und Ritual – und technologische Vision treten in eine untrennbare Verbindung. Denn gehackt werden sollen in diesem Programmschwerpunkt nicht nur die Coltanminen, sondern die ganze Zeitordnung. Das koloniale Projekt einer linearen Zeitordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird kritisch gebrochen. Im Mittelpunkt stehen andere Denkweisen von Raum und Zeit. Es geht also nicht nur darum, Zukunftsvisionen für den Kontinent auszumalen – vielmehr fusionieren die Zeithacker*innen der Filme Vergangenheit und Tradition, Zukunft und Vision. Oder um es in einem Bild der Sprache Lingala auszudrücken: »Lobi Kuna«, das Zugleich von Gestern und Morgen. Im gleichnamigen Kurzfilm »Lobi Kuna« (Belgien/Demokratische Republik Kongo 2018) besucht ein Fotograf aus dem Kongo das Königliche Museum für Zentral-Afrika bei Brüssel. Er fühlt sich von den geraubten Ausstellungsstücken angezogen wie abgestoßen. Schließlich schlägt er eine Vitrine ein, nimmt sich eine große Schädelskulptur – und setzt sie sich selbst auf den Kopf. Raum und Zeit brechen zusammen und bald findet er sich nicht nur im Kongo, sondern auch in einer unbestimmten Zukunft wieder. Vor futuristischer Kulisse, die dem Inneren eines Raumschiffs ähnelt, wird der Mann aus der Gegenwart mit dem Kopfschmuck der Vergangenheit willkommen geheißen. Die Debatte um Restitution führt hier in eine futuristische Utopie: Die geraubten Schätze kehren zurück in eine Zukunft, die dem kolonialen Raub eine positive Perspektive gegenüberstellt. Eine versöhnliche Heimkehr.

Das gebrochene Narrativ des Films, dessen Skript der Regisseur Matthias De Groof zusammen mit Mehkar Azari Kiyoso entwickelte, erinnert in seinen überraschenden Montagen an die dissoziativen Zustände eines Fiebertraums. Filme von US-Regisseur*innen wie David Lynch oder Charlie Kaufman (»Anomalisa«), Erben des surrealistischen Kinos, kommen einem in den Sinn. Doch mit diesem Kino westlicher Tradition würden sich diese experimentellen Science-Fiction-Filme vermutlich nicht vergleichen wollen.

Filmszene aus »Neptune Frost«
Neptune Frost (2021) © Cinemalovers

Afronaut im Kongo

Maisha Maene, der seinen Kurzfilm »Mulika« (Demokratische Republik Kongo 2022) in Freiburg persönlich präsentiert, weist auf eigene Erzählweisen hin und fordert auch eine ästhetische Dekolonisierung: »Decolonize Storytelling!« Das betrifft die Raum- und Zeiterfahrung im Film, ebenso Sprache und Klang. Das gilt auch für »Neptune Frost«, der die lokalen Dialekte seiner Figuren im wahrsten Sinne des Wortes zur Sprache bringt und so einen eigenen filmischen Rhythmus und Ausdruck schafft, der nicht ins Englische, Deutsche oder Französische übersetzbar ist.

Vergangen­heit und Zukunft, Tradition und Vision treten in eine un­trenn­bare Verbin­dung


In Maisha Maenes Film bewegt sich ein »Afronaut« durch eine Stadt im Kongo. Wie das Kostüm von Kantarama Gahigiris »Terra Mater« besteht auch sein Raumanzug aus Schrottteilen. Mit seinem Film will Maene an den afrikanischen Traum von der Raumfahrt erinnern, den der Lehrer und Aktivist Edward Makuka Nkoloso aus Zambia in den 1960ern verfolgte. Mit seiner »Zambia National Academy of Science, Space Research and Philosophy« wollte Nkoloso das Rennen um die Reise zum Mond für sein Land entscheiden. Die Reise fand nicht statt, der Begriff »Afronaut« wurde durch seine Vision aber maßgeblich geprägt. Die Reaktionen auf einen solchen African Dream im heutigen Kongo zeigt Maisha Maenes Film dokumentarisch, ohne weitere Inszenierung. Manche Menschen auf der Straße lachen angesichts des Afronauten in seinem schillernden Kostüm, manche wirken befremdet, andere bestaunen den Mann aus dem All, der nach eigener Aussage die Zukunft zum Guten verändern will. Weitere Erklärungen gibt es in dem visuell eindrücklichen, durch Farbe, Licht und Schnittrhythmus geprägten Film nicht. Wie Gahigiris Film funktioniert er mehr als audiovisuelles Gedicht. Am Ende des Kurzfilms beschwören die Gestalt des Afronauten, ritueller Tanz und Trommel eine ekstatische Techno-Fusion aus Vergangenheit und Zukunft, die der in »Neptune Frost« sehr ähnelt.

Wie provokant, im positivsten Sinne, eine solche Ästhetik schließlich wirkt, macht der Vergleich mit »Pumzi« deutlich, einem Kurzfilm von 2009 aus Südafrika und Kenia. Der dramatische Plot um Wasserknappheit in einem Afrika nach dem Dritten Weltkrieg fragt wie »Neptune Frost«, »Terra Mater« und »Mulika« nach den Konsequenzen der globalen Umweltzerstörung, macht dies aber mit hollywoodtauglichen Streicherteppichen und einem dramatisch-schematisch inszenierten Showdown, der erst durch seine vieldeutige, metaphorische Auflösung eigenes Profil gewinnt.

Afro­futurismus nach Sun Ra

Nach den Vorführungen des Programmschwerpunkts schaltet das Kommunale Kino Freiburg per Video-Liveschalte ins Kino Unseen in Nairobi, wo die Filme zeitgleich laufen. Dort verrät die ruandisch-schweizerische Regisseurin Kantarama Gahigiri im Interview, dass ihre Vision des »Lobi Kuna« vom Afrofuturismus der 1960er- und 1970er-Jahre geprägt ist. Jazz-Ikone Sun Ra entwarf zu dieser Zeit farbenfrohe, bildkünstlerische, modische wie musikalische Stilfusionen aus verschiedenen Kulturen der Welt und verknüpfte sie mit seiner Vision einer Space-Age, die sich speziell an Afroamerikaner*innen richtete. In seinem psychedelischen Film »Space Is The Place« (1974), der das Programm »Hacking Time Mines« eröffnet, führt der Jazzmusiker seine Landsleute in ein Raumschiff und entkommt so der rassistischen Realität US-Amerikas. Funk-Ikone George Clinton (Parliament, Funkadelic) warf sich in seinen opulenten Bühnenshows ähnlich in Schale und betrat freudig das »Mother Ship«, der hypertechnologisierte Gegenentwurf zum Slave Ship, das die afroamerikanische Diaspora nicht nur in den USA begründete.

Mitten in ihrem Vergleich schränkt Kantarama Gahigiri aber schon ein: Sie sehe einen Unterschied zwischen diesem afroamerikanischen Afrofuturismus und einem Futurismus wie ihrem, der auf dem afrikanischen Kontinent entstünde. Maisha Maene sucht ebenfalls Distanz zum Begriff. Die Ästhetik Sun Ras, aber auch die der jüngeren Science-Fiction afroamerikanischer Prägung etwa in »Black Panther«, sehe er eher durch die US-amerikanische Kultur geprägt. Sein Film »Mulika« sei »African Futurism«. Das Publikum in Nairobi, das für die Diskussion ebenfalls live nach Freiburg zugeschalten wird, ist von den Zukunftsvisionen der Regisseur*innen jedenfalls begeistert. Nach dem Screening von »Terra Mater« wendet sich ein Mann sichtlich stolz an Kantarama Gahigiri: »You really brought the message home.«

Fabian Lutz ist Literaturwissenschaftler und Journalist für Print und Radio.

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