Blick auf das Camp Corail - Notunterkünfte in einem von internationalen NGOs errichteten Viertel auf Haiti
Camp Corail – ein von Hilfsorganisationen für Überlebende des Erdbebens errichtetes Viertel. Mittlerweile ist es zu einem neuen Elendsviertel mit etwa 300.000 Einwohner*innen geworden. | Foto: medico international / Holger Priedemuth

‚Hilfe‘ zementiert die Gewalt

In Haiti ergänzen sich Staat, inter­nationale NGOs und Gangs

Das Problem der Ganggewalt in Haiti ist eng mit der Kolonialgeschichte und den Diktaturen des ausgehenden 20. Jahrhunderts verknüpft. Paramilitärs waren eine wesentliche Säule der Herrschaft im materiellen wie sozialpsychologischen Sinne. Heute leben Gangstrukturen fort, auch in Gebieten, die von internationalen NGOs ‚versorgt‘ werden.

von Katja Maurer

18.03.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 389

Wie sollte man sich Gangmitglieder in Haiti vorstellen? Die haitianische Schriftstellerin Yanick Lahens meint: als glückliche Menschen. In ihrem jüngsten, kürzlich auf Deutsch erschienenen Roman »Sanfte Debakel« taucht neben anderen Figuren auch ein Gangster auf. Joubert, genannt Yo Yo, ist ein Auftragsmörder, der auf diese Weise seinem privaten Elend der aussichtslosen Armut und der Ohnmacht entwachsen ist. »Joubert ist ein glücklicher Mann«, schreibt Lahens.

Das Phänomen der Banden und Gangs ist nicht neu. In Haiti gelten die äußerst brutalen Touton Macoutes, die paramilitärische Miliz der Duvalier-Familie, welche das Land von 1957 bis 1986 diktatorisch beherrschte, als Vorläufer des Bandenwesens. Ähnlich wie in Lahens Roman, in dem ein Richter und damit symbolisch das Recht ermordet wird, ist es in Haiti nie gelungen, die Verbrechen der Diktatur aufzuarbeiten. Immerhin sorgte die neue Verfassung von 1987 dafür, dass das Militär abgeschafft wurde. Das Ende der Diktatur bedeutete jedoch nicht das Ende der Armut und so blieben die Banden in den Armenvierteln weiter von wesentlicher Bedeutung für die ökonomische Subsistenz und die inoffizielle Ordnung. Die jüngste Entwicklung in Haiti ist die undurchdringliche Verwobenheit von ökonomisch-politischer Elite und den unterschiedlichen Gangs.

Gangs und NGOs

Die Rede von sogenannten Failed States kommt nicht ohne rassistisch eingefärbte Zuschreibung und neokoloniale Deutung aus und ist immer eine der Auslassungen. Nach dem Ende der Diktatur, die jahrelang von der US-Politik als das ‚kleinere Übel‘ unterstützt wurde, entwickelte sich in Haiti ein neuer Kreislauf der Gewalt. Mit Auflösung der Armee entstanden paramilitärische Gruppen, die sich aus ehemaligen Armeeangehörigen und Tonton Macoutes speisten. Ihnen gelang es, 1990 den frisch gewählten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide zu stürzen. Der darauffolgende Staatsverfall ging unter anderem auf internationale Sanktionen zurück. Er verschärfte den Prozess der Segmentierung Haitis, was sich auch in dem Entstehen unterschiedlicher bewaffneter Gruppen ausdrückte, die wirtschaftlich und politisch mit unterschiedlichen Parteien und Personen verknüpft waren. An Stelle der ohnehin schwachen sozialen Infrastruktur traten in Folge der Sanktionen internationale NGOs, meist aus den USA, die nach eigenen Vorstellungen Hilfsangebote aufbauten. Zwischen 1990 und 1996, der Rückkehr von Aristide, wurde Haiti zur Republik der NGOs. Mit fatalen Folgen.

Mit lokalen Projekten trugen NGOs zur »Archipelisierung« Haitis bei

Der Anthropologe Djems Olivier schrieb 2021 in der Zeitschrift NACLA unter dem Titel »Politische Anatomie der bewaffneten Gangs in Haiti«, dass Aristide nach seiner Rückkehr ein in den USA entwickeltes Programm zur Entwaffnung der Gangs implementierte. Internationale NGOs erhielten mehr Geld für soziale Programme in den Armenvierteln, während man die Gangs mit Gewalt zu verfolgen suchte. Olivier stellte fest, es sei zu einer »Archipelisierung« der Armenviertel gekommen, weil ausländische NGOs mit ihren Hilfsprogrammen entlang einzelner Viertel und eigens von ihnen geschaffener lokaler Strukturen eine Fragmentierung befördert hätten. Parallel existierten die Gangs weiter. Olivier sieht fließende Übergänge zwischen den lokalen, von NGOs geschaffenen Initiativen und Gangs. Die Gangs weisen also nicht nur eine Verschränkung mit Teilen der haitianischen Elite auf, sondern entsprechen auch der gesellschaftlichen Fragmentierung durch ein Wohlfahrtssystem der internationalen NGOs. Diese handelten nach ihrer eigenen Logik, welche zumeist auf der problemlosen Abwicklung von Projektgeldern beruht. Eine nötige öffentliche, auf Rechten basierende soziale Infrastruktur, die für das ganze Land gelten würde, ist durch diese Form der ‚Hilfe‘ privatisiert und ersetzt worden. Dass die kleinteilige territoriale Aufteilung durch diese Hilfsstrukturen mit jenen der Ganggebiete korrespondiert, ist eine bittere Erkenntnis, gehört aber zu der Erzählung über Ganggewalt unbedingt dazu.

Erdbebenhilfe spitzt das Verhältnis zu

Das Erdbeben im Jahr 2010 leitete eine internationale Hilfsaktion bislang unbekannten Ausmaßes ein, welche die öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Strukturen Haitis noch weiter schwächte. Das Versprechen des UN-Sonderbeauftragten Bill Clinton, Haiti wiederaufzubauen und dabei die Bedingungen zu verbessern, wurde nicht eingehalten. Im Gegenteil, die sozialen, politischen und ökonomischen Probleme wurden noch verschärft. Das Ergebnis sind hunderte territoriale Gangs, die mittlerweile die Hälfte des Landes kontrollieren.

Beunruhigend ist, dass die Gangs ihre angestammten Territorien verlassen. Ebenso wie die verbreitete Grausamkeit ihrer Taten stellt das eine neue Stufe der Eskalation dar. Die Bilanz der Gangsterisierung ist erschreckend. 2021 gab es über 1.000 Fälle von Kidnapping. Dass Priester während der Messe aus ihren Kirchen entführt werden, Schülerinnen auf dem Weg zur Schule oder Angestellte auf dem Weg zur Arbeit verschwinden, ist in Haiti Alltag geworden. Mindestens 498 Menschen wurden 2021 ermordet. Darunter waren zwar auch gezielte Tötungen von Journalist*innen, viele Morde sind aber schlicht eine Form von Terror, um ganze Nachbarschaften aus ihren Stadtteilen zu vertreiben.

Diese neue Form der Eskalation begann 2018. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die G-9-Gang um Jimmy Chérizier, die im November 2018 70 Menschen im Stadtteil La Saline ermordete und mehrere Frauen vergewaltigte. In einer ausführlichen Untersuchung des Massakers wies die haitianische Menschenrechtsorganisation Réseau National de Défense des Droits Humains (RNDDH) nach, dass das Umfeld des damaligen Präsidenten Jovenel Moïse durch Waffenlieferungen an die Gangs indirekt an dem Massaker beteiligt war. Dieses war von fataler Bedeutung. Es beendete eine von vielen Schichten und politischen Gruppierungen getragene Protestbewegung: Die Petrocaribe-Bewegung, die systematisch den Verbleib von vier Milliarden billigen Krediten der venezolanischen Regierung untersuchte, wäre ein entscheidender Anknüpfungspunkt für eine haitianische Lösung der Krise gewesen. Stattdessen hielten die internationalen Unterstützer*innen, allen voran die USA, an Moïse und der Regierungspartei PHTK fest.

Der Core-Group, der neben den USA, Frankreich, Kanada oder den UN auch Deutschland angehört, kommt eine Schlüsselrolle in der haitianischen Entwicklung zu. Sie ist aus der Erdbebenhilfe entstanden und entscheidet nicht nur über die Budget-Hilfen des Staates, sondern auch darüber, wer die Amtsgeschäfte führt. Nach der Ermordung von Moïse im Jahr 2021 erhoben Ariel Henry und Claude Joseph Anspruch auf den Posten des Regierungschefs. Die Core-Group entschied sich für Ariel Henry und hält seither an ihm fest, wie sie zuvor auf Moïse setzte. Diese Treue muss erstaunen, denn RNDDH hat Henry engste Kontakte zu den Hintermännern des Auftragsmordes an Moïse nachgewiesen.

Es kann noch schlimmer kommen

Hinzu kommt, dass Henry eine schwache Figur macht. Gangchef Chérizier führt ihn immer wieder vor. Er veranstaltet Pressekonferenzen, in denen er die Absetzung Henrys fordert und gewinnt auch im Kampf um Symbole. Am Todestag des berühmten Revolutionsführers Dessaline legte Chérizier in aller Ruhe Blumen nieder. Danach kam Henry mit großer Entourage und absolvierte sichtlich gestresst den Termin, offenkundig fürchtete er sich vor Chérizier.

Während die G-9-Gang noch nachvollziehbare Ursprünge aufweist, ist die Manzowo-Gang, die beispielsweise wichtige Zugangsstraßen kontrolliert, in ihrer Brutalität und Haltlosigkeit ein für viele Haitianer*innen erschreckendes Symbol dafür, dass es immer noch schlimmer kommen kann. Die Entführung der 17 US-Missionar*innen im vergangenen Jahr war nur ein weiterer Beleg dafür. Dass die Gang die Stromgeneratoren des einzigen Kinderkrankenhauses der Region Port-au-Prince entwendeten und dieses so über Monate lahmlegte, stellt eine neue Dimension in der Ganggewalt dar. Nach diesem Ereignis kam es deshalb landesweit zu Streiks und Protesten gegen die Gewalt in Haiti.

Wie einst im Kampf für die Absetzung von Moïse und für das Ende der ausländischen Einmischung kam es zu Demonstrationen, Predigten in den Kirchen und Auftritten von Kulturschaffenden, die sich schon 2018 in der großen Bewegung gegen die Korruption engagiert hatten. Tatsächlich organisieren sich mittlerweile in den Stadtteilen Selbsthilfegruppen, um die Ganggewalt einzudämmen. Interessanterweise sind darunter häufig Frauen, die öffentlich verkünden, dass sie sich selbst bei Gefahr um Leib und Leben nicht aus dem Stadtteil verdrängen lassen. Es gibt Berichte über bewaffnete Frauengruppen, die sich der Ganggewalt entgegen stellen. Nachprüfbar sind die wenigsten.

Katja Maurer ist Mitarbeiterin bei medico international und war Chefredakteurin des Magazins »rundschreiben« und Co-Autorin des Buchs »Haitianische Renaissance. Der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation«.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 389 Heft bestellen
Unsere Inhalte sind werbefrei!

Wir machen seit Jahrzehnten unabhängigen Journalismus, kollektiv und kritisch. Unsere Autor*innen schreiben ohne Honorar. Hauptamtliche Redaktion, Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit halten den Laden am Laufen.

iz3w unterstützen