Gefängnis Insassen im Knast - Filmstill aus Papillon
»Papillon« USA 2017

Vom Ein- und Wegsperren

Warum die ganze Gesellschaft entknastet werden muss

Eine Millionenbevölkerung lebt auf dieser Welt hinter Gefängnismauern. Selbst in Ländern mit einer funktionierenden Rechtsstaatlichkeit sind die InsassInnen vom Recht auf Bewegungsfreiheit ausgeschlossen. In Unrechtsstaaten ist der Knast gar ein Ort ungemilderter Grausamkeit. In fast allen Fällen gilt: Eine Inhaftierung schafft mehr Probleme als sie löst.

von Katrin Dietrich

20.12.2018
Veröffentlicht im iz3w-Heft 370

Wir leben in einer Disziplinar- und Kontrollgesellschaft. Von klein auf lernen wir, dass von Normen und Regeln abweichendes Verhalten sanktioniert wird. In den verschiedenen Institutionen, die alle oder manche von uns durchwandern müssen, hat sich ein ganzes Arsenal an Sanktionsmechanismen herausgebildet: Schlechte Noten in der Schule, Geldkürzungen beim Taschengeld oder bei der Arbeitslosenhilfe sowie der Entzug von Bewegungsfreiheit durch Einschluss in Psychiatrien oder Gefängnissen. »Das Gefängnis ist eine etwas strenge Kaserne, eine unnachsichtige Schule, eine düstere Werkstatt, letztlich nichts qualitativ Verschiedenes«, schrieb der französische Philosoph Michel Foucault. Denn all diesen Institutionen gemeinsam ist die Herstellung und Zurichtung produktiver, nützlicher Subjekte.

Ein neues Para­digma der Diszipli­nierung

Foucaults Studie über den Komplex »Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses« aus dem Jahr 1974 behandelt die Entwicklung des modernen Strafsystems im Übergang zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Die Abschaffung von physischer Bestrafung zugunsten der Haftstrafe galt als Erfolg des Humanismus. Das moderne Gefängnis sollte jedoch nicht nur bestrafen, es sollte auch bessern. Die architektonische Manifestation dieses neuen Paradigmas der Disziplinierung sah Foucault in den Entwürfen des englischen Philosophen Jeremy Bentham. Dieser entwickelte Ende des 18. Jahrhunderts den idealen Gefängnisbau in Form eines Panopticons, welches erlaubt, dass HaftinsassInnen ihre WächterInnen nicht sehen können und somit nie genau wissen, ob oder wann sie von ihnen beobachtet werden. Ihr Verhalten passt sich so einer imaginierten permanenten Kontrolle an. Umgesetzt wurde die panoptische Architektur in zahlreichen Gefängnissen weltweit – aber auch in Psychiatrien und Krankenhäusern, Armenhäusern und Fabriken vor allem des 19. Jahrhunderts. Die Idee lebt bis heute fort.

Die Volksrepublik China ist gerade dabei, das panoptische Prinzip mittels künstlicher Intelligenz zu perfektionieren. Das so genannte »System der sozialen Vertrauenswürdigkeit« bedeutet nichts anderes als die totale Überwachung, 24 Stunden am Tag. Straßen und Gebäude sind mit Videokameras inklusive Gesichtserkennungs-Software bepflastert, PolizistInnen tragen Videobrillen und selbst in Klassenzimmern werden SchülerInnen mit Kameras beobachtet. Jede/r darf nonkonformes Verhalten den Behörden online melden. Auf großen Bildschirmen im öffentlichen Raum werden »TäterInnen«, die zum Beispiel über eine rote Ampel gegangen sind, an den virtuellen Pranger gestellt.

Doch Beschämung ist nicht der einzige Sanktionsmechanismus. Fehlverhalten führt zum Abzug von Sozialpunkten, was wiederum Kürzungen von Sozialleistungen oder Probleme bei der Suche nach Jobs oder Wohnung nach sich ziehen kann. Positives Verhalten wird belohnt. Noch wird die neue Technologie nur probehalber in einigen Regionen eingesetzt. Sollte sie überall Anwendung finden, dürfte China das erste Freilichtgefängnis der Welt werden.

Eine rechtsfreie Zone

Foucault führte in seinem Klassiker der Knastkritik aus, dass sich zeitgleich mit dem modernen Gefängnis auch die Kritik daran und erste Reformbestrebungen entwickelten. Es war und ist auch heute unter ExpertInnen kaum umstritten: Das Gefängnis macht aus StraftäterInnen keine »besseren« Menschen, im Gegenteil, es ist ein Ort, an dem die Spezies und das Milieu »kriminell« immer wieder re/produziert wird. Anfang der 1970er Jahre gründete Foucault mit weiteren MitstreiterInnen die Groupe d’Information sur les Prisons, die sich unter anderem mit Demonstrationen für eine Verbesserung von Haftbedingungen einsetzte. In dieser Zeit fand die Kritik an ein- und ausschließenden Institutionen wie Knast, Psychiatrie, Jugend- oder Behindertenheimen breite Unterstützung in der Linken. Heute scheint diese Kritik bis auf wenige Ausnahmen verstummt zu sein.

Richtet man den Blick auf die globalen Knastverhältnisse, wird deutlich, dass sie nötiger ist denn je. Etwa 10,3 Millionen Menschen sitzen weltweit hinter Gittern. Die überwiegende Mehrheit sind Männer, aber auch circa 700.000 Frauen befinden sich aktuell im Gefängnis. Selbst Kinder, das heißt Menschen unter 18 Jahren, zählen zur Knastbevölkerung, ihre Zahl wird auf eine Million geschätzt. Die meisten HaftinsassInnen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sitzen in den USA, El Salvador und Russland ein.

Die Bedingungen, unter denen Gefangene leben müssen, variieren stark. In 122 Ländern gelten die Gefängnisse als überbelegt. In Ländern wie Benin, El Salvador oder den Philippinen liegt die Belegungsrate um die 300 Prozent über der Kapazitätsgrenze. Das hat unter anderem zur Folge, dass InsassInnen zusammengepfercht auf dem Boden schlafen müssen, dass die Versorgung mit Essen oder Medizin nur unzureichend gewährleistet ist und von Hygiene kaum die Rede sein kann. Wie ein aktueller Bericht von Penal Reform International ausführt, liegt ein Grund für die Überbelegung von Gefängnissen oftmals in der verschärften Kriminalisierung von Drogengebrauch.

Die Bedürfnisse von Älteren oder Menschen mit einer Behinderung, ob physisch oder psychisch, können Gefängnisse in vielen Ländern nicht annähernd erfüllen. Von Diskriminierung betroffene Gruppen wie LGBTIQs werden nicht ausreichend vor Gewalt geschützt. Menschenrechtsverletzungen im Knast sind nicht ausschließlich in Ländern des Globalen Südens zu suchen. Auch hinter deutschen Gefängnismauern regiert das Recht der Stärkeren und die Selbstmordrate ist deutlich erhöht.

Im Knast sind Menschen der Gewalt des Staates schutzlos ausgeliefert. Menschen verschwinden, manchmal heimlich und für immer hinter den Mauern und sind Folter, Misshandlung und sexualisierter Gewalt durch Polizei, Wachpersonal oder Mitgefangene ausgesetzt. Als »Schlachthaus« haben ehemalige InsassInnen etwa das Militärgefängnis Saidnaya in Syrien bezeichnet. Laut Amnesty International seien dort zwischen 2011 und 2015 bis zu 13.000 Menschen ohne Gerichtsverfahren erhängt worden, weitere Tausende seien an den Folgen von Folter und unmenschlicher Behandlung gestorben. Auch in anderen Unterdrückungsregimen ist das Wegsperren, Verschwindenlassen oder die gewaltsame »Umerziehung« politischer DissidentInnen verbreitet.

Vorbildliches Modell in Norwegen

Es gibt Menschen, die zeitweise vor sich selbst und vor denen andere in irgendeiner Form geschützt werden müssen. Ihr Wegsperren führt jedoch zu keinen Lösungen, welche strukturelle oder individuelle Ursachen von Gewalt beheben könnten. Im System Knast besteht der Umgang mit gewaltbereiten InsassInnen unter anderem in völliger Isolation – oder in wiederkehrender Umverlegung. Die so genannten »gefährlichen HaftinsassInnen« machen aber ohnehin nur einen Bruchteil der weltweiten Knastpopulation aus. Die meisten Menschen in Haft haben ein ganz anderes »Verbrechen« begangen: Sie sind arm.

Mit dem Abbau sozialstaatlicher Leistungen steigt die Anzahl armer GefängnisinsassInnen überall an. Aufgrund der in Deutschland so genannten Ersatzfreiheitsstrafe werden mittellose Menschen, die Buß- und Mahngelder nicht bezahlen können, etwa weil sie ohne Ticket Straßenbahn gefahren sind, in den Knast gesteckt. In anderen Ländern kann sich eine Untersuchungshaft über Jahre hinziehen, weil die Beschuldigten kein Geld für einen Rechtsbeistand haben.

Die Abschaffung des Knastsystems scheint nicht ohne eine grundlegende Veränderung der Disziplinargesellschaft möglich zu sein. Es reicht nicht, einfach die Tore zu öffnen. So bleibt einerseits die Frage nach einer solidarischen Gesellschaft auf der Agenda. Zum anderen ist die Einforderung von menschenrechtlich akzeptablen Haftbedingungen unersetzlich. Hinzu kommt der Blick aufs Detail. Der Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe, der Entkriminalisierung von ‚Delikten‘ wie Drogenkonsum, Sexarbeit, Schwarzfahren oder eines fehlenden Aufenthaltstatus wohnt auch in der bestehenden Welt eine immanente Vernunft inne.

Es lohnt sich, den Blick nach Norwegen zu wenden. Dort wurde das Gefängnis zwar nicht abgeschafft, aber im Sinne des Konzepts der Restorative Justice wurde der Fokus weg von der Bestrafung hin zur Wiedereingliederung von StraftäterInnen gelegt. Dies führte zum einen dazu, dass Haftstrafen viel seltener zum Einsatz kommen. Wer dennoch in einem norwegischen Gefängnis landet, verfügt dort über ein großes und komfortabel eingerichtetes Einzelzimmer. Die InsassInnen können an Weiterbildungen teilnehmen, arbeiten, Sport betreiben und Besuche ohne Aufsicht empfangen. Je nach Straftat werden sie verpflichtet, an Antigewalttrainings unter therapeutischer Leitung teilzunehmen. Bekannt geworden ist die norwegische Insel Bastoy, auf der sich Gefangene frei bewegen können, in richtigen Häusern zusammen leben und sogar einen Strand haben.

Knast als erholsame Auszeit? Zumindest statistisch betrachtet ist dieses Modell erfolgreich. In Norwegen sind die Kriminalitätsrate insgesamt und die Rückfallquote unter ehemaligen HaftinsassInnen weltweit am niedrigsten.

Katrin Dietrich ist Soziologin und Mitarbeiterin im iz3w.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 370 Heft bestellen
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