Der Ohnmacht entgegentreten
Rezensiert von Felix Lang
14.12.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 394
Mit Sicherheit ist Geographie der Gewalt. Macht und Gegenmacht in Lateinamerika keine leichte Kost. Die Beschreibungen und Ausmaße der durch die Narcos (Drogenhändler*innen) oder Paramilitärs begangenen Gräueltaten machen sprachlos. Es ist schwer begreifbar, dass diese Gewalt zum Alltag für viele Menschen in der Region geworden ist.
In dem Sammelband gehen die beteiligten Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und Aktivist*innen aus Lateinamerika und Deutschland der Logik der Grausamkeiten differenziert und kritisch auf den Grund. Die insgesamt 21 Artikel reichen von thematischen Einordnungen, wie der Beitrag von Verónica Gago zur Ausbreitung von Finanzdienstleistungen im Prekariat als neuer »Finanzextraktivismus«, bis zu vertiefenden Analysen von Beispielen, wie Dina Alves‘ Abhandlung zum Feminizid an der schwarzen Favela-Bewohnerin Luana in Brasilien. Die thematischen Sprünge und die sehr unterschiedlichen Schreibstile führen dazu, dass es nicht immer einfach ist, dem Buch zu folgen. Gleichzeitig wird das Buch so zu einem äußerst breit angelegten Gesamtwerk über Gewaltherrschaft. Die Autor*innen fokussieren sich dabei auf die neuen Formen der Gewalt seit dem Ende der Militärdiktaturen vorwiegend im Verlauf der 1980er Jahre. Allerdings stehen diese Gewaltformen nicht für sich, sondern werden im Kontext eines übergeordneten rassistischen und postkolonialen Systems analysiert.
Besonders eindrücklich ist ein Interview mit den mexikanischen Journalist*innen Carlos Martínez, Daniela Rea und Marcela Turati, die trotz aller Widerstände und lebensbedrohlicher Gefahren unermüdlich über die Gewalt im Land berichten. Andere Beiträge widmen sich der femizidalen Gewalt. Nach Emanuela Borzacchiello entstehen in Mexiko »viele heutige Ciudad Juárez« (als symbolisches Epizentrum der Brutalität) mit einer extremen Gewaltbereitschaft gegenüber Frauen. Dies geschieht durch ein Ineinandergreifen von Kriminalität, Politik und Wirtschaft, hohen sozialen Ungleichheiten und der Parallelität von Gewalt im privaten und öffentlichen Raum.
Nicht zuletzt spielt der in Lateinamerika stark verankerte Neoliberalismus eine zentrale Rolle. So wird beispielsweise im Wettbewerb der Städte um Wirtschaftsansiedlungen der Raum für private Investor*innen und Großprojekte geöffnet. Für die Durchsetzung dieser Projekte wird staatliche Gewalt eingesetzt, wie Alke Jenss in einer Fallstudie über die Stadt Oaxaca in Mexiko ausführt.
Trotz dieser bedrückenden Gesamtlage zeigen die Autor*innen auch Alternativen und Lösungswege auf. So erzählt Heriberto Paredes Coronel in seiner Fotodokumentation die Geschichte eines zeitweise von der organisierten Kriminalität besetzten Gebiets an der mexikanischen Pazifikküste, das von der indigenen Nahua-Dorfgemeinschaft zurückerkämpft wurde. In einem anderen Beitrag stellt Rita Laura Segato fest, dass die emanzipative Feminisierung der Politik in Lateinamerika, unter anderem mit der Bewegung Ni Una Menos (Nicht eine weniger) in Kolumbien, schon in vollem Gange ist. Der bewaffnete Konflikt dort sei ohne die zunehmende Intervention der Frauen nicht zu beenden. Diese Akzente machen Hoffnung. Darin und in der Vielfalt der aufgezeigten Perspektiven liegen die großen Stärken des Buches.