»Der wahre Horror ist geschlechter­spezifische Gewalt«

Weibliche Gruselfiguren in indonesischer Folklore

Audiobeitrag von Meike Bischoff

14.12.2022
Teil des Dossiers Grauen ohne Grenzen

Meike Bischoff hat mit Evi Mariani vom Medienprojekt Multatuli aus Jakarta über Kuntilanak und Sundel Bolong gesprochen, zwei weibliche Gruselfiguren in der indonesischen Folklore. Ohne sie ist der Horrorfilm in Indonesien kaum vorstellbar. Oder anders gesagt: Wer über den indonesischen Horrorfilm etwas Substantielles sagen möchte, das mit Gesellschaftskritik zu tun hat, kann über diese weiblichen Gruselfiguren nicht schweigen.

 

Shownotes


Skript zum Audiobeitrag

Erstausstrahlung am 6. Dezember2022 im südnordfunk # 103 auf Radio Dreyeckland | Autorin: Meike Bischoff

Akustisch untermalt ist das Gespräch mit Evi Mariani mit kurzen Szenen aus Horrorfilmen wie Impetigore von Joko Anwar (2019)*, Kuntilanak von Rizal Mantovani (2018) und Sundelbolongvon Sisworo Gautama Putra (1981) sowie Sounds aus dem Videospiel DreadOut. Zu hören sind die Figuren Sundel Bolong * und Kuntilanak *, zwei mystische Figuren, die im indonesischen Horrorgenre sehr präsent sind.

Evi Mariani über die weiblichen Gruselfiguren

Evi Mariani: Die meisten Horrorfilme kritisieren nicht das System per se. Die meisten indonesischen Horrorfilme werden produziert, einfach damit sie sich gut verkaufen und die Leute sich gruseln. Über den Filmemacher Joko Anwar könnte man vielleicht behaupten, dass seine Arbeit von höherer Qualität sei als die anderer. Filme, in denen du Gesellschaftskritik siehst, sind nicht unbedingt aus dem Horrorgenre. Gesellschaftskritik gibt es hier (in Indonesien) in der Bildenden Kunst, auch im Theater. In der Musik, naja (ein wenig). Unabhängige Musiker*innen sprechen in ihren Texten schon über Umweltschutz oder soziale Ungleichheit. Aber um ehrlich zu sein, das sind nicht so viele; die meisten wollen nur unterhalten.

Bildende Kunst, Performances und Theater präsentieren uns mehr Gesellschaftskritik als Filme und Musik. Denn Filme und Musik sind ja eine große Industrie und eher darauf ausgerichtet, Profit zu generieren, wenn Du verstehst was ich meine.

Sprecherin: Evi Mariani ist Mitbegründerin und Geschäftsführerin von Projekt Multatuli in Jakarta, Indonesien. Multatuli ist eine journalistische Initiative, die den Ungehörten und Marginalisieren eine Stimme geben möchte und über das Ungesagte berichtet. Das Projekt hat es sich zur Aufgabe gemacht, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die an der Macht sind, sagt Evi Mariani. Es gäbe da diese Informationsungleichheit in Indonesien, die es anzusprechen gilt, führt sie weiter aus. Denn die dominante Praxis zentriere sich auf Jakarta, und die Perspektive sei überwiegend männlich. Die Mainstreammedien bedienten lieber die Eliten statt die Unterprivilegierten. Um diese Praxis zu durchbrechen, hat Evi während der Pandemie 2021 mit anderen Journalist*innen Project Multatuli gegründet.

»In Indonesien ist der wahre Horror die hohe Sterblichkeits-

rate unter Schwangeren.«

Evi Mariana: Eine Freundin von mir hat diesen sehr guten Essay über indonesische Folklore aus feministischer Perspektive geschrieben. Darin führt sie auf, dass viele Frauenfiguren in Horrorfilmen auftauchen: Wir haben Kuntilanak, wir haben Sundel Bolong – beide sind Frauen. Im indonesischen kommerziellen Horror ist das Format, das sich am besten verkauft, eine gruselige Geistergeschichte. Viele dieser folkloristischen Figuren wie Gespenster oder Dämoninnen sind weiblich.

In Indonesien werden viele Frauen Opfer des patriarchalen Systems. Kuntilanak zum Beispiel ist Opfer eines mangelhaften Zuganges zu Gesundheitsversorgung für werdende Mütter. In Indonesien ist der wahre Horror tatsächlich die hohe Sterblichkeitsrate unter Schwangeren, die ist weltweit immer noch eine der höchsten. Wir konnten bisher die Ziele für nachhaltige Entwicklung nicht erreichen. Auch Sundel Bolong ist ein Geist. Die Figur der Sundel Bolong wurde in Jakarta unter einer Brücke vergewaltigt. Sie ist ein Opfer sexuellen Missbrauchs und hat nie Gerechtigkeit erfahren. Also verfolgt und quält sie die Männer auf der Brücke, Nacht für Nacht.

Der wahre Horror ist tatsächlich sexueller Missbrauch sowie die hohe Müttersterblichkeitsrate, und das ist der Grund, warum in indonesischer Folklore viele böse Dämoninnen, Geister oder andere schreckenerregende Gestalten Frauen sind. Ich denke, du kannst es so betrachten. Aber du kannst es vielleicht auch als eine Art Misogynie sehen. Diese Perspektive können wir diskutieren. Und der wahre Horror ist neben der hohen Rate an sexuellem Missbrauch, dass die Opfer durch das Justizsystem keine oder nur selten Gerechtigkeit erfahren – und hier schließe ich die Polizei mit ein.

Kuntilanak kündigt ihre Präsenz üblicherweise durch ein spitzes Lachen an

Zur Bedrohung der Pressefreiheit: Das ist natürlich ein anderer Horror. Obwohl ich sagen muss, dass diese nicht so schreckenerregend ist wie Kuntilanak. Ich meine, Kuntilanak ist sehr gruselig – wirklich ernsthaft angsteinflößend. Digitale Bedrohungen sind für mich real und furchterregend, ja. Und mit einem fehlenden Schutz der Polizei wird es noch beängstigender. Aber meine Kultur hat mir eben diese Gruselgeschichten eingeflößt. Man verzeihe mir, dass ich so abergläubisch bin, doch deshalb ist Kuntilanak für mich immer noch schrecklicher als Drohungen gegen die Presse.

Sprecherin: Wikipedia schreibt (Zitat): Kuntilanak ist eine mythologische Kreatur in Indonesien, Malaysia und Singapur. [...]. sie nimmt üblicherweise die Gestalt einer schwangeren Frau an, die ihr totes Kind nicht auf die Welt bringen kann. Alternativ gibt es auch Beschreibungen von Kuntilanak als rachsüchtigem weiblichem Geist. Eine andere Geschichte bezieht sich auf Kuntilanak als Gespenst oder Weiße Frau der südostasiatischen Folklore. Sie wird oft als langhaarige Frau in Weiß dargestellt und repräsentiert lokale Variationen von Vampirinnen. Sie lockt ahnungslose Männer an, um Angst zu schüren und Rache zu üben.

Zwischen Horrorgenge, Computer Gaming und Realität

Autorin: Es gibt einen Haufen Horrorfilme über das Phänomen: Kuntilanak - Ghost in the Mirror; Rumah Kuntilanak; Kuntilanak 1 , 2 und – wie könnte es anders sein – dieses Frühjahr 2022 kam der unvermeidliche dritte Teil heraus. Das Internet ist voll mit Pranks: Bei diesen Streichen ziehen sich langhaarige Mädchen ein langes weißes Gewand an und erschrecken ihre Freund*innen. Des weiteren kann man jede menge Videos ansehen, bei denen die betreffenden Kuntilanak irgendwo gesichtet haben wollen. Außerdem taucht Kuntilanak als schwangere Frau in Weiß in mehreren Videospielen auf. Dreadout Ghostpedia beschreibt sie wie folgt: »Ehemals eine wunderschöne Frau, wurde sie brutal vergewaltigt. Nachdem sie herausfanden, dass sie schwanger war, wurde sie von ihren Nachbar*innen verflucht und lebendig begraben. Ihr rachsüchtiger Geist will alle Männer samt ihrer Familien bestrafen.« Die grundlegenden Informationen: Typ: feindselig. Geschlecht: weiblich. Haarfarbe: schwarz. Augenfarbe: weiß. Und: »Kuntilanak kündigt ihre Präsenz üblicherweise durch ein spitzes Lachen an.«

Es ist es eine ambivalente Beziehung: Einerseits die Kritik an dem patriarchalen System und seiner Gewalt und andererseits gibt es auch Ausbeutung. Denn oft sehe ich diesen Filmen hübsche junge westlich aussehende Frauen mit heller Haut als Protagonistinnen.

Evi Mariani: Hast du indonesische Horrorfilme gesehen?

Autorin: Ja. Ich kenne ein paar Filme von Joko Anwar: Satans Slaves, Impetigore…

Evi Mariani: Und fandest du sie gruselig?

Autorin: Ich grusele mich nicht so schnell, aber ich fand sie zum Teil gut gemacht.

Evi Mariani: Für uns Indonesier*innen, die mit diesen Geschichten von Kuntilanak oder Sundel Bolong aufgewachsen sind, geht uns das alles sehr nah. Diese Art der Kulisse, der Habitus oder die Ästhetik sind uns kulturell sehr nah. Unsere Fantasie sagt uns dann: Oh, Kuntilanak könnte gleich hier oder da auftauchen. Für uns sind indonesische Horrorfilme, die auf Folklore basieren, also gruseliger. Weil wir damit aufgewachsen sind.

Sprecherin: Die ehemalige Sexarbeiterin Alisa ist glücklich verheiratet und möchte das Familienleben mit ihrem Mann beginnen, einem ihrer ehemaligen Kunden. Dann wird sie Opfer einer Gruppenvergewaltigung und wird schwanger. Vor Gericht wird ihre Vergangenheit als Sexarbeiterin gegen sie verwendet, der Prozess gegen die Vergewaltiger wird vertagt. Gerechtigkeit erfährt sie nicht. Ein Schwangerschaftsabbruch wird ihr vom Arzt verweigert. Sie ist von Schuldgefühlen geplagt und stirbt schließlich bei der eigenhändig durchgeführten Abtreibung.

»Der Horror der Bedrohung der Pressefreiheit ist real.«

Der Trashhorrorfilm Sundel Bolong von Sisworo Gautama Putra aus dem Jahr 1981 gilt als Klassiker. Sundel Bolong heißt sinngemäß übersetzt: eine Sexarbeiterin mit einem Loch im Rücken. Der Film endet natürlich nicht mit dem Tod der Protagonistin. Sie kehrt nach der Beerdigung als Geist zurück, als Frau in Weiß, um sich an ihren Vergewaltigern zu rächen und sie zu töten, einen nach dem andern. Die Legende kommt aus der javanischen Kultur, es existieren verschiedene Variationen.

Evi Mariani erwähnte die Version mit der Brücke; eine andere Variante besagt, dass Sundel Bolong zur Prostitution gezwungen, vergewaltigt und dann mit einem Schlachtermesser erstochen wurde (daher rührt das Loch im Rücken, das von ihrem langen Haar verdeckt wird). Seitdem übt sie Rache an Männern. Andere glauben, dass sie in ihrem Grab bei der Geburt ihres Kindes starb, mit dem seltsamen Phänomen, dass das Baby aus ihrem Rücken herauskam und starb. Deshalb wandelt ihr trauernder Geist über die Erde und sucht nach dem verlorenen Kind.

 

»Unsere Fantasie sagt uns: Oh, Kuntilanak könnte gleich hier oder da auftauchen. Für uns sind indonesische Horrorfilme, die auf Folklore basieren, also gruselig. Weil wir damit aufgewachsen sind.«

Eva Mariani aus dem Medienprojekt Mutatuli aus Jakarta

Eva Mariani: Wir sind die drittgrößte Demokratie der Welt, nach Indien und den USA, richtig? Aber das heißt nicht, dass die journalistische Arbeit in Indonesien ohne Gefährdung vonstatten geht. Zuvor hatte dies eher physische Ausmaße, jetzt kommen auch noch digitale Bedrohungen hinzu. Tatsächlich haben wir im Projekt Multatuli letztes Jahr selbst einen digitalen Angriff erlebt, im Oktober 2021. Unsere Website war für drei Tage nicht erreichbar und die IT-Person, die das analysierte, bestätigte uns, dass es ein DDoS Angriff war. Das ist so das Übliche, das kann so ziemlich jeder und jede: unsere Website für 72 Stunden offline nehmen. Das sind die Art von Bedrohungen, die wir heute in Indonesien erleben. Wenn also die Organisation Reporter Ohne Grenzen auf ihrer Weltkarte zur Pressefreiheit Indonesien rot einfärbt, dann werde ich nicht erwidern: „Nein, wir sind hier völlig sicher.“ Obwohl ich sagen muss, dass es Medienschaffende in anderen Ländern schwerer haben.

Ich habe ja gerade erzählt, dass durch einen DDoS Angriff letztes Jahr unsere Website drei Tage lang nicht erreichbar war. Wir konnten den oder die Verantwortliche*n bisher nicht identifizieren. Aber die Chronologie war wie folgt: Der Angriff erfolgte vier Stunden, nachdem wir eine Story veröffentlicht hatten, die Kritik an der Polizei übte; obwohl ich natürlich nicht mit Sicherheit sagen kann, dass es die örtliche Polizei in Südsulawesi war, die uns angriff. Doch ich weiß, dass sie damals über unsere Berichterstattung überhaupt nicht glücklich war. Und wir sind nicht das erste Medium, das Probleme bekam, nachdem es die Polizei kritisierte. Wie du sagtest: Die Polizei sollte uns Medienschaffende schützen. Aber wer schützt uns Journalist*innen vor der Polizei? Das ist ein großes Problem in Indonesien, denn der Polizeiapparat ist eine der einflussreichsten Institutionen im Land. Sie haben die Unterstützung des Präsidenten, der Verwaltung, und sie haben die Unterstützung des Parlaments. Und es gibt keine unabhängige Stelle, welche die Polizei beaufsichtigen könnte – eine Aufpasserin, ein Überwachungsbeauftragter, da gibt es niemanden. Viele der Mainstreammedien haben eine sehr nahe Beziehung zur Polizei, und das ist tatsächlich ein Problem.

Der Horror der Bedrohung der Pressefreiheit ist also real. Es passiert und es ist nicht einfach, eine unabhängige Journalistin zu sein und zu versuchen, diejenigen an der Macht zur Rechenschaft zu ziehen. Und ich muss sagen, dass die Leute in Myanmar, in Thailand oder Kambodscha unter schlimmeren Bedingungen arbeiten als wir. Wir leben also nicht in einem absoluten Horror, aber es ist dennoch beängstigend.

Wenn du etwas veröffentlichst, das diejenigen an der Macht nicht mögen, haben sie eine ganze Reihe von digitalen Angriffen zur Auswahl, die dann auch von freiberuflichen Journalist*innen oder von Bots durchgeführt werden. Wir wissen also nicht, wer das ist. Die sind tatsächlich so etwas ähnliches wie Gespenster. (lacht)

Erstausstrahlung am 6. Dezember 2022 im südnordfunk # 103

Die Autorin Meike Bischoff hat mit der Journalistin aus Jakarta über eine digitale Verbindung gesprochen.

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