Wer ist eigentlich ›wir‹?
Editorial zum Dossier Identitätspolitik
»Identitätskämpfe sind Kämpfe um Fiktionen von Wirklichkeit«, schreibt Mithu Sanyal in ihrem Diskursroman »Identitti«, in dem eine PoC-Professorin als Weiße enttarnt wird. »Und manchmal sind sie Kämpfe mit ganz realen Opfern.« Mithu Sanyal bezieht sich hier zwar auf die Anschläge von Hanau und Halle, aber im internationalen Maßstab gibt es ebenfalls die realen Opfer: Seien es BIPoC in den USA, trans Aktivist*innen in Honduras, transnationale Feminist*innen in Lateinamerika, die gegen Femizide kämpfen, Schwarze Frauen in Brasilien, die am untersten Ende der Liste prekär Beschäftigter stehen, oder queere Menschen, die in Ländern wie Uganda mit dem Tod bestraft werden.
Vieles, was in dieser Gesellschaft als normal gilt, engt ein, schließt aus, unterdrückt, macht unsichtbar und verursacht Leid: Heteronormativität, Nationalismus und Rassismus, Androzentrismus, Zweigeschlechtlichkeit, Barrieren oder Grenzen. Davon sind am häufigsten jene betroffen, die nicht der dominierenden Identität entsprechen. Diese ist meistens: männlich, weiß, gutverdienend, passbesitzend und heterosexuell. Wer davon abweicht, gilt als ‚das Andere‘. Doch diese ‚Anderen‘ wehren sich gegen die Zumutungen, die ihnen aufgrund gesellschaftlicher Zuschreibungen widerfahren – und das oft gemeinsam. Hier beginnt die widerständige Identitätspolitik.
Das ist keine neue Erfindung. Die Schwarzen linken lesbischen Feminist*innen des Combahee River Collective prägten in den 1970er-Jahren den Begriff »identity politics«. Durch ihr intersektionales Verständnis der Unterdrückungszusammenhänge, denen sie als Schwarze, lesbische Frauen ausgesetzt waren, formulierten sie strategische Überlegungen mit dem Ziel, eine solche Politik zu machen, die die verschränkten Gewaltstrukturen als Ganzes angreift, also den Kapitalismus, das Patriarchat, Heteronormativität und Rassismus gleichermaßen abschaffen will.
Weltweit führen Menschen Kämpfe, die sich als identitätspolitisch charakterisieren lassen, doch selten werden sie von den Kämpfenden selbst so betitelt. Häufig geht es dabei um Anerkennung, Gleichheit und Bürgerrechte, gegen Kriminalisierung und Verfolgung, also das Recht verschieden sein zu können ohne Angst. Die Tuareg beispielsweise beziehen sich auf das Konzept indigener Identität, um sich für ihre Anliegen Gehör zu verschaffen. Queers wehren sich gegen die Kommerzialisierung und Einhegung ihres Aktivismus und gegen Hassverbrechen in Georgien, gegen Transfeindlichkeit und Antifeminismus – auch in der Linken – in Deutschland, und leiden unter trans- und homofeindlichen Gesetzgebungen in den USA. In Indien sind bestimmte Formen der Identitätspolitik in Gesetzestexte gegossen, die Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen aufgrund des Kastensystems gilt als anerkannt und wird politisch bekämpft, während jedoch weiterhin große Ungleichheit und patriarchale Gewalt herrscht (Partikularismus und Vielfalt in Indien). Aber geht es bei diesen Kämpfen wirklich um Identität, oder ist sie nur Auslöser, Katalysator, Bezugspunkt, Strategie?
Vieles, was in dieser Gesellschaft als normal gilt, engt ein
Eines ist sicher: Richtig ernst mit der Identitätspolitik meinen es vor allem die Rechten. Der der evangelikalen Rechten nahestehende US-republikanische Präsidentschaftskandidat Ron de Santis will die christlich-weiß-patriarchale »One Nation under God« erschaffen. Die AfD, FPÖ, Identitäre Bewegung & Co. fantasieren von der homogenen Volksgemeinschaft. Das ist so abstrus wie gefährlich. Es geht diesen Akteuren nicht, wie oft behauptet, um die kleinen Leute, sondern um weiße männliche Vorherrschaft und die Verhinderung emanzipatorischer Veränderung.
Jenseits der Attacken von rechts gibt es viele linke Kritikpunkte an Identitätspolitik: Der Essentialismus, die Klüngelei unter scheinbar Gleichen, Einschluss & Ausschluss, Folklore hier und Moralismus dort, die Zementierung des Bestehenden, seine neoliberale Einhegung. Lea Susemichel spricht dabei von »unbedingter Solidarität«, die auf Differenzen beruht, Veronika Kracher ruft dazu auf, sich mit der eigenen Verstrickung in Unterdrückungszusammenhänge zu beschäftigen, durch die Identitäten ja auch geschaffen werden (Seite 32). Steht am Ende eine Vereinigung der »vernünftigen Elemente von Klassen und Identitätspolitik« wie sie Ulrike Marz vorschlägt? Max Czollek forderte auf einem Vortrag in Freiburg im Oktober letzten Jahres, Identitätspolitik ernst zu nehmen und gleichzeitig über sie hinauszudenken. Damit könnten »Bündnisse mit Wucht« entstehen, in denen alle Beteiligten ohne Angst verschieden sein können.
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