Große Malerei an einem Gerüst in den Straßen von Shaheen Bagh. Das Bild stellt eine ältere weibliche Person im Profil, nach links blickend mit einem Falken dar.
Kunstwerk in Shaheen Bagh während der Proteste. Darstellung der Shaheen Bagh Dadi’s (Großmütter) und des Shaheen Falken | Foto: DTM CC BY-SA 4.0

»Wir werden unsere Papiere nicht zeigen«

Kultureller Wider­stand gegen Indiens Staats­bürgerschafts­reform

Im Winter 2019 reformierte die hindunationalistische BJP-Regierung in Indien das Staatsbürgerschaftsgesetz und stellte damit die indische Staatsangehörigkeit von Millionen Muslim*innen infrage. Der Widerstand dagegen wurde von muslimischen Frauen in Delhi initiiert und breitete sich im ganzen Land aus. Die Bewegung ist ein Beispiel dafür, dass die autoritäre Modernisierung Indiens sowie der hindunationalistische Kulturkampf der BJP-Regierung mit einer demokratischen Opposition konfrontiert bleiben. Dieser Artikel ist Teil des Projekts »Cultural Resistance in Times of Rising Authoritarianism in India«, aus dem sich schon in der iz3w 396 ein Artikel (Humor im Hindu­nationa­lismus) findet.

von Sunil Kumar

28.09.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 398

Im Winter 2019 protestierte eine Gruppe muslimischer Frauen aus Shaheen Bagh, einem Arbeiter*innenviertel im Südosten Delhis, gegen eine Reform des indischen Staatsbürgerschaftsgesetzes (Citizenship Amendment Act/ CAA). Innerhalb von kurzer Zeit wurden die Frauen zum Gesicht des Widerstands. Sie inspirierten weitere Proteste im ganzen Land, welche soziale Bewegungen, Gewerkschaften und neu politisierte Bürger*innen zusammenbrachten.

Die höchst umstrittene Änderung des Gesetzes von 1955 wurde von der Regierung der National Democratic Alliance (NDA) unter Premierminister Modi durch das indische Parlament gepeitscht und vom indischen Staatspräsidenten am 12. Dezember 2019 umgehend gebilligt. Anders als das ursprüngliche Gesetz erklärt der neue Text die Religionszugehörigkeit zu einem wesentlichen Kriterium für die Staatsbürgerschaft. So sah der neue Gesetzestext eine Regelung vor, nach der Hindus, Sikhs, Buddhist*innen, Jains, Pars*innen* und Christ*innen, die bis zum 31. Dezember 2014 aufgrund religiöser Unterdrückung aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan nach Indien eingewandert waren, die Staatsbürgerschaft erhalten.

»Die Kunst be­findet sich hier im Protest, die Wahr­heit wurde irgend­wo ermordet«

Muslimische Einwanderer*innen wurden hingegen nicht von diesen Bestimmungen erfasst. Dies löste große Angst bei Muslim*innen aus und stieß landesweit auf Empörung. Besonders kontrovers wurde das Gesetz in Assam aufgenommen, wo zur selben Zeit ein landesweites Überprüfungsverfahren (National Register of Citizens/ NRC) stattfand. Das Register sollte die Namen und relevante Informationen zur Identifizierung ‚echter‘ indischer Staatsbürger*innen in Assam enthalten. In dem nordöstlichen Bundesstaat gibt es eine große muslimische Minderheit. Die Ergebnisse der Erfassung stellten die indische Staatsangehörigkeit von 1,9 Millionen Menschen in Assam infrage. Sie mussten zusätzliche Dokumente einreichen, um ihre Staatsangehörigkeit nachzuweisen. Machten sie das nicht, so riskierten sie eine Inhaftierung in speziell errichteten Gefängnissen oder ihre Abschiebung – ohne zu wissen, wohin.

Vom Studierenden­protest …

Unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes kam es in Assam zu massiven Protesten, gegen die die Polizei hart vorging: Am 12. Dezember wurden drei Demonstrierende von der Polizei erschossen und noch zwei weitere in deren Umfeld kamen ums Leben. Insgesamt wurden 430 Vorfälle im Zusammenhang mit Anti-CAA-Protesten registriert und 573 Personen im Bundesstaat verhaftet. Auch über Assam hinaus kam es zu großen Protesten: In Delhi demonstrierten Studierende der mehrheitlich muslimischen Jamia Milia Islamia Universität (JMI) ab dem 13. Dezember 2019 auf dem Campus. Ein für zwei Tage später geplanter Marsch von Studierenden und Bürger*innen zum Jantar Mantar, der historischen Sternwarte im Zentrum Delhis, wurde von der Polizei aufgehalten. Es kam zu Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei. Die Polizei brach das Eingangstor der Universität auf und betrat, ohne offizielle Anordnung, den Campus. Sie brach die Türen und Fenster der Bibliothek auf, verschoss Tränengas und schlug die dort anwesenden Studierenden erbarmungslos zusammen. Ebenso verprügelte die Polizei Menschen, die in der Moschee außerhalb des Universitätsgeländes beteten und beschädigte dort geparkte Fahrzeuge. Es gab zahlreiche Verletzte und Festnahmen. Auch studentische Wohnheime wurden durchsucht. Shahzad, ein Wissenschaftler der JMI, demonstrierte bei eisiger Winterkälte nackt am Tor Nr. 7 der Universität gegen diese Grausamkeiten der indischen Polizei (iz3w 383). Sein Protest war inspiriert von Mahatma Gandhis Konzept des Satyagraha – sich selbst Schmerzen zuzufügen, um gegen die staatliche Repression zu protestieren.

Unterstützung erhielten die Studierenden sowohl von der Dozent*innen-Gewerkschaft der JMI als auch von der lokalen Bevölkerung. Die Vizekanzlerin der Universität, Nazma Akhtar, protestierte gegen das illegale Eindringen der Polizei. Die Gewalt gegen die Studierenden löste im ganzen Land Betroffenheit und Wut aus und führte zu spontanen Solidaritätsprotesten in anderen Universitäten.

Die Ereignisse mobilisierten auch die unmittelbare Nachbarschaft von Shaheen Bagh, einem Viertel von Delhi in dem vorwiegend Menschen aus der unteren Mittelschicht wohnen, deren Kinder die JMI besuchen. Am 25. Dezember blockierten Protestierende einen wichtigen Abschnitt der Straße 17A, die die Mathura Road in Delhi mit dem Industriegebiet Noida auf der anderen Seite des Yamuna-Flusses verbindet, was Massen von Menschen aus der ganzen Stadt anzog. Der von muslimischen Frauen und einfachen Bürger*innen organisierte Sitzstreik wurde unter anderem von Intellektuellen, die sich für Gerechtigkeit und Demokratie einsetzen, von Bürger*innen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Organisationen der Bauern und Bäuerinnen und sogar von Filmschauspieler*innen unterstützt.

… zur Massen­bewegung

Dies war einzigartig, denn zum ersten Mal führten die viel verhöhnten armen, vorgeblich ungebildeten, in die Burka gekleideten Frauen, die in ihren Häusern eingesperrt waren, einen Protest an. Ihrem Protest schlossen sich auch Frauen anderer Religionen, christliche Nonnen, Studierende, Arbeiter*innen und Bauernorganisationen in ganz Indien an. Muslimische Frauen jeden Alters beteiligten sich an der Bewegung, die mit dem Mythos aufräumte, dass es muslimischen Frauen nicht erlaubt sei, ihr Haus zu verlassen. Die 82-jährige Bilkis Dadi (»Großmutter Dadi«) aus Shaheen Bagh nahm regelmäßig an der Blockade teil und wurde zu einem Symbol des Widerstands. Sie forderte den indischen Premierminister heraus: »Wir gehören von Geburt an zu Hindustan. Ich kann mich an die Namen vieler Generationen meiner Vorfahren erinnern. Können Sie das auch von Ihren sagen?« Bilkis Dadi wurde vom Time-Magazin in die Liste der 100 einflussreichsten Menschen des Jahres 2020 aufgenommen. Die Polizei verbarrikadierte die Straße, wusste aber im Grunde nicht, wie sie die kleinen Kinder, Mütter und Großmütter davon abhalten sollte, jeden Tag dorthin zu kommen oder wie sie die Menschenmenge vertreiben sollte.

Mus­limische Frauen jeden Alters beteilig­ten sich an der Beweg­ung

Die Shaheen Bagh-Bewegung inspirierte Sitzstreiks und Demonstrationen gegen die Staatsbürgerschaftsreform CAA und das Überprüfungsverfahren NCR. An vielen Orten standen erstmalig muslimische Frauen an vorderster Front. Diese Frauen nannten sich in Anklang an ihre Nachbarschaft Shaheen. Gleichermaßen ist Shaheen das persische Wort für Falke. Die in Shaheen Bagh versammelten Menschen feierten den Neujahrstag und den Tag der Republik am 26. Januar wie Feste und lasen gemeinsam die Präambel der indischen Verfassung: »Wir, das Volk von Indien«. Sie bekräftigten ihren Anspruch auf die Werte der sozialistischen, säkularen und demokratischen Republik – entgegen der Entschlossenheit der Regierung, die das Säkulare beseitigen will. Über vielen Protesten wehte die indische Flagge. Man wollte die Republik nicht den rechten Schlägern überlassen, die unter ihrem Banner Angriffe auf Minderheiten im Namen des Rinder-Schlachtverbots sowie nationalistische Terroranschläge durchführen. Die Parole des Widerstands war Ham kagaz nahin dikhayenge – »Wir werden unsere Papiere nicht zeigen«.* Die Protestierenden drückten damit aus: Wir sind Hindustani, nicht aufgrund eines offiziellen Papiers, sondern aufgrund unserer Herkunft. Für die Frauen war es ein spürbarerer Moment der Veränderung.

Der Protestort in Shaheen wurde von der Polizei abgeriegelt. Die einzige Möglichkeit, dorthin zu gelangen, war zu Fuß zu gehen oder eine elektrische Rikscha zu nehmen. Die Rikscha-Fahrer*innen boten denjenigen, die nicht bezahlen konnten, kostenlose Fahrten an. Der Busbahnhof am Protestort wurde in ein Zentrum für Kinder und eine Bibliothek umgewandelt, die nach Fatima Sheikh und Savitribai Phule benannt wurde, zwei Pädagoginnen aus dem 18. Jahrhundert, die als Symbol des Dalit- und des muslimischen Feminismus gelten. Viele spendeten Bücher berühmter und radikaler Autor*innen auf Englisch, Hindi und Urdu.

Kultur gegen den Autoritaris­mus

Die Wände auf beiden Seiten der Straße waren mit Plakaten, Schriftzügen und Graffiti gegen CAA und NRC, zu Problemen des Landes und dem Widerstand der Menschen dagegen beklebt. Ein Foto des populären Politikers und Sozialreformers B. R. Ambedkar (1891-1956) mit dem Slogan »Rettet die Verfassung, rettet Indien« war an vielen Stellen zu sehen. Am Protestort herrschte eine festliche Atmosphäre, die zu Debatten, Diskussionen und Begegnungen einlud. Im Camp der Freiwilligen wurden regelmäßig Kulturworkshops, Mal- und Schreibworkshops und andere Aktivitäten organisiert. Es entstanden kreative und revolutionäre Slogans und Graffiti wie »Die Kunst befindet sich hier im Protest, die Wahrheit wurde irgendwo ermordet«.

Frauen brachten ihre Kinder mit zum Protest, nähten, strickten, erledigten andere Haushaltsarbeiten und verliehen damit dem Protest einen ganz eigenen Charakter. Nicht nur schämten sie sich nicht, sondern verkündeten auch selbstbewusst von der Bühne, dass wenn jemand einen Pullover gegen die Kälte brauche, er sich doch einfach Wolle besorgen solle. So verschmolzen das alltägliche Leben und die Proteste miteinander. Auch die diffamierende Propaganda der Regierungspartei BJP und bezahlter Protestierender in den regierungsnahen Medienkonzernen konnte die Proteste nicht erschüttern.

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An den Außenmauern der JMI entstanden im Laufe der Zeit Graffiti, die die polizeiliche Repression, die Lynchjustiz durch Mobs, den Widerstand in Shaheen Bagh und die Idee einer neuen Universität und eines neuen Indiens beschrieben; letzteres ist auf dem bekannten Campus der Jawaharlal Nehru University (JNU)* noch besser sichtbar. Die eingegipsten Hände der Student*innen, denen bei der Erstürmung der JMI-Bibliothek durch die Polizei Arme und Finger gebrochen wurden, fanden sich in Graffiti und Plakaten wieder, die von dem Slogan begleitet wurden: »Wann immer Unterdrücker die Macht des Staates nutzen, um Menschen zu unterdrücken, wird der Slogan ‘Es lebe die Revolution’ überall zu hören sein«.

Bella Ciao auf Hindi

Ein Bild von Ayesha Renna und drei anderen jungen Studentinnen, die Shaheen Abdullah, einen Kommilitonen, vor den Polizeiknüppeln schützen und dabei trotzig mit dem Finger auf die Polizisten zeigt und ihnen in die Augen schaut, wurde zum Symbol dieses Widerstands und war in den sozialen Medien und an Wänden überall zu sehen. Eine weitere Version dieses Bildes tauchte in der JMI auf; auf diesem schützt Ayesha die Landkarte von »Mutter Indien« (Bharat Mata)* vor Polizeiknüppeln. Auch eine riesige Landkarte Indiens mit weithin sichtbaren Lichtern, die in der Dunkelheit der Nacht leuchten, entstand am Ort des Protests. Auf der Karte war zu lesen: »Wir, das Volk Indiens, lehnen CAA, NPR*, NRC ab«.

Die Bewegung inspirierte viele, kreativ zu werden, zu schreiben, zu singen, Musik zu machen, zu malen und ihre Wut auszudrücken. Viele Menschen nutzten Twitter und andere Social-Media-Kanäle, um Informationen über den Kampf zu verbreiten und der Propaganda der regierungsnahen Medien und der IT-Abteilung der BJP entgegenzuwirken. Azadi (»Freiheit«) hallte durch die Straßen, ebenso Lieder wie Ham Dekhenge (»Wir werden sehen«) oder Dastoor (»Tradition«). Dies waren Lieder des Widerstands und eine Antwort auf die Drohung rechtsgerichteter Inder*innen, all diejenigen nach Pakistan zu schicken, die nicht der Meinung der Regierung sind. Die Bewegung inspirierte junge Rapper*innen und Sänger*innen und viele andere dazu, Lieder und Gedichte zu komponieren und zu verfassen, die sehr populär wurden. Sumit Roy schrieb »Go Protest« nach der Polizeigewalt gegen die JMI-Studierenden; Poojan Shahils Hindi-Version von »Bella Ciao« wurde eine Inspiration für viele. Die jungen Dichter*innen fanden in den täglichen Gesprächen in Shaheen Bagh neue Bedeutungen und Ideen für ihre Lieder und ihre Kreativität.

Die Proteste trugen zur weiteren Polarisierung der Meinungen im öffentlichen und privaten Raum bei, die sich bereits seit dem Amtsantritt von Modi abzeichnete. In der Bollywood-Filmindustrie in der es, mit Ausnahme einiger jüngerer Schauspieler*innen, die zu öffentlichen Themen Position beziehen, sonst eher ruhig zugeht, traten die politischen Gräben plötzlich offen zu Tage: Eine lautstarke Minderheit unterstützt die Regierung und ihre hindu-nationalistische Agenda, während eine andere Gruppe sich offen gegen den CAA und das NRC aussprach und die Proteste unterstützte. Etwa 300 prominente Filmschaffende erklärten sich solidarisch: »Wir begrüßen den kollektiven Protest zur Verteidigung der Vielfalt der Gesellschaft und der in der indischen Verfassung verankerten Grundsätze. Wir sind uns bewusst, dass wir nicht immer die Versprechen einhalten und schweigen, auch wenn wir Ungerechtigkeiten sehen. Doch heute verlangt die Situation, dass wir für unsere Prinzipien und Werte einstehen.« Der Widerstand von Shaheen Bagh gab einer Generation von jungen Menschen und vor allem muslimischen Frauen Hoffnung. Shaheen Bagh zeigte eine neue Kultur des Widerstands, die viele emotional, kulturell und politisch berührte – und wurde zu einem Symbol des Widerstands.

Sunil Kumar ist ein politischer Aktivist und Schriftsteller. Der ungekürzte Artikel in Englisch findet sich unter hier.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 398 Heft bestellen
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