»Jedes Objekt steht in einem Beziehungsgeflecht«
Interview zur Ausstellung »Afrika. Die vergessenen Sammlungen«
In den Magazinen vieler italienischer Museen schlummern Sammlungen afrikanischer Artefakte, über die fast nichts bekannt ist. Aus diesem Grund gibt es in Turin ein Forschungsprojekt, das sich mit diesen ‚vergessenen‘ Beständen beschäftigt. Das erste Ergebnis war die Ausstellung »Afrika. Die vergessenen Sammlungen«, die vom 27. Oktober 2023 bis zum 25. Februar 2024 gezeigt wurde.* Sie förderte nicht nur Objekte ans Licht, sondern auch die weitgehend verdrängte Geschichte des formellen und informellen italienischen Kolonialismus, die mit ihnen verbunden ist. Die iz3w sprach mit den Kuratorinnen Enrica Pagella und Cecilia Pennacini.
iz3w: Was sind »vergessene Sammlungen« und wie kam es zu der Idee, eine Ausstellung darüber zu machen?
Enrica Pagella: Es gab mehrere Faktoren, die zusammenkamen. Einer war die Situation des Museums für Anthropologie und Ethnographie der Universität Turin, das seit 1984 für die Öffentlichkeit geschlossen ist. Es suchte nach Partnern und Ausstellungsräumen, um die Aufmerksamkeit auf sein Erbe zu lenken. Außerdem hat das italienische Kulturministerium mit der Wiedereinsetzung des »Nationalen Komitees für die Wiederherstellung und Rückgabe des Kulturerbes« ab 2019 neue Impulse gesetzt. Die staatlichen Museen wurden gebeten, eine Bestandsaufnahme der in ihren Sammlungen dokumentierten außereuropäischen Objekte vorzunehmen. Jene aus den ehemaligen italienischen Kolonien dienten dabei als Ausgangspunkt. Die Untersuchung zeigte den Reichtum und gleichzeitig die Vielfalt und Komplexität dieses Erbes, das seit Jahren in den Depots vergraben ist. Der wichtigste Bestand befindet sich derzeit im Museum der Zivilisationen in Rom. Es folgt dem Museum für Vorgeschichte und Völkerkunde aus dem 19. Jahrhundert nach und hat vor kurzem auch die Sammlungen des ehemaligen Kolonialmuseums übernommen. Aber es gibt auch Museen wie die Königliche Waffenkammer in Turin, die das bevorzugte Ziel für Waffen und Trophäen war, die in den Schlachten der Kolonialzeit geplündert wurden. Hinzu kommen etwa die Sammlungen, die von piemontesischen Akteur*innen stammen, die ab den 1830erJahren in Ostafrika und später in Belgisch-Kongo tätig waren.
Sie haben mit Museen verschiedener Art zusammengearbeitet. Haben Sie damit einen neuen Umgang mit dem afrikanischen Erbe angestoßen?
Cecilia Pennacini: In der Ausstellung waren Objekte aus der königlichen Waffenkammer, aus einigen königlichen Residenzen von Savoyen, aus dem Museum für Anthropologie und Ethnographie der Universität, aus den Städtischen Museen von Turin und aus dem Museum der Zivilisationen in Rom zu sehen. Es wurden jedoch auch viele andere öffentliche und kirchliche piemontesische Museen, die Objekte afrikanischer Herkunft aufbewahren, in die Forschung einbezogen. In der Turiner Akademie der Wissenschaften wurde ein Arbeitskreis mit den Leiterinnen und Leitern einiger dieser Museen gebildet. Sie haben afrikanische Objekte für die Ausstellung bereitgestellt, die normalerweise nur in Depots lagern. Der Arbeitskreis koordiniert weiter die Erforschung und Aufwertung dieses Erbes und wird auch Schulungsinitiativen durchführen, um Instrumente für die historische und anthropologische Interpretation der Sammlungen anzubieten. Vorrangiges Ziel ist die Online-Katalogisierung der Objekte, um die Geschichte in voller Transparenz zu erzählen und auch den Herkunftsgemeinschaften die Möglichkeit zu geben, sie kennen zu lernen. Nur wenn wir die Werke und ihre Wege kennen, können wir ihre Bedeutung verstehen und uns vorstellen, sie zukünftig auszustellen. Diese Zukunft sollte auf der Grundlage der Zusammenarbeit mit den Museumsinstitutionen der Herkunftsländer wie auch mit den diasporischen Gemeinschaften in Italien aufgebaut werden.
Traditionell gibt es in Europa eine Trennung zwischen Kunst- und Völkerkundemuseen, letztere werden nicht selten mit denen der Naturwissenschaften kombiniert. Hatten Sie die Absicht, diese Gewohnheit zu stören, indem Sie ausgerechnet in den Königlichen Museen eine Ausstellung über »Afrika« zeigten?
EP: Für die Königlichen Museen, insbesondere die Sammlungen des Königlichen Zeughauses, ist Afrika ein wichtiger Bestandteil. Dabei sind besonders der Austausch und die diplomatischen Geschenke mit Äthiopien vor der kolonialen Aggression von großem Interesse. Leider ist seit den 1950er-Jahren alles auf die Lagerung beschränkt. Es ist jedoch an der Zeit, den Kurs umzukehren, nicht zuletzt zum Nutzen der Diaspora-Gemeinschaften hier in Italien.
»Es ist an der Zeit, den Kurs umzukehren, nicht zuletzt zum Nutzen der Diaspora-Gemeinschaften hier in Italien.«
Eine interdisziplinäre Herangehensweise ist bei dem Thema fundamental. Das ‚Material‘, das im 19. und 20. Jahrhundert aus Afrika nach Italien kam, umfasst eine große Vielfalt an Artefakten, Fotografien und Filmmaterial. Hinzu kommen die Ergebnisse umfangreicher geografischer, geologischer und naturwissenschaftlicher Forschungen. Dieser immense Fundus wurde dem Publikum früher triumphal in großen Sonderausstellungen in Rom, Neapel, Turin und Mailand präsentiert. Seitdem wurde er zugunsten der Entwicklung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen aufgesplittert und verteilt. Dieser Prozess hat die dokumentarischen Herkunftsketten zerrissen. Aus diesem Grund müssen wir heute auch die Geschichte der Institutionen, der Diplomatie, der Literatur und der Propaganda einschließen. Jedes Objekt steht in einem Beziehungsgeflecht, das untersucht werden muss, um zu seiner komplexen Wahrheit zu gelangen.
Die Ausstellung erzählt auch die informelle italienische Kolonialgeschichte, zum Beispiel im Kongo. War das von Anfang an beabsichtigt oder hat sich das durch die vorgefundenen Bestände entwickelt?
CP: Die ursprüngliche Idee entsprang dem Bedürfnis, die Existenz der Sammlungen zu erklären, indem man die Besucher*innen über den Kontext der Ankäufe und den Weg der Objekte informiert. Der »Kongo-Freistaat« war zunächst Privatbesitz von König Leopold II. von Belgien und später eine belgische Kolonie. Doch es gab dort eine bedeutende Präsenz von Italienern, vor allem Männer, darunter Techniker, Ingenieure, Ärzte, Militärs und Richter. Sie brachten eine große Anzahl öffentlicher und privater Sammlungen in Italien hervor, die oft von erheblichem künstlerischem Wert sind. Im heutigen Italien erinnert man sich nur noch wenig oder eher gar nicht mehr an die Teilnahme an einer der sicherlich dunkelsten und gewalttätigsten Seiten des Kolonialismus. Daher war es uns wichtig, den Blick auf diese Episode zu erweitern, mit der so viele Objekte zusammenhängen.
Wie sind Sie vorgegangen, um nicht in die Falle des »kolonialen Blicks« zu tappen, also die historische Inszenierung des Italieners als »heroischer Entdecker« usw. zu reproduzieren?
CP: Angesichts der Art dieser Objekte bestand die Gefahr einer Ausstellung von ‚Trophäen‘. Es war daher notwendig, eine streng historische Ausstellung zu konzipieren, die den Werdegang der Zeitzeug*innen bzw. Sammler*innen und den breiteren Kontext der Erwerbungen erzählt. Dabei ist es wichtig, die verschiedenen Wege hervorzuheben: Geschenke von äthiopischen Häuptlingen und Kaisern, die trotz allem den diplomatischen Weg suchten; ethnografische und naturalistische Sammlungen, die mit wissenschaftlichen Zielen gesammelt wurden; Kunstwerke, die wahrscheinlich über afrikanische Vermittler auf dem entstehenden afrikanischen Kunstmarkt erworben wurden; Werke, die gewaltsam als Kriegsbeute geplündert wurden. Eine möglichst genaue Klärung dieser Umstände ist unerlässlich, damit die Öffentlichkeit die Bedeutung dieser massiven Diaspora von Kulturgütern verstehen kann.
Angesichts der Notwendigkeit, dieses Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, haben Sie zum Beispiel mit dem Künstler Bekele Mekonnen zusammengearbeitet, der an der Universität Addis Abeba lehrt. Welche Aufgabe hatte er?
EP: Bekele nahm an dem Projekt mit drei verschiedenen Aufenthalten in Turin teil. Der erste war der Untersuchung, dem Erkennen und der Diskussion über die Artefakte gewidmet. Der zweite der Schaffung seiner Installation am Ende der Ausstellung mit dem Titel »Der rauchende Tisch«: eine Metapher für die Berliner Konferenz und eine Erinnerung an das Vergessen und Verdrängen des italienischen Kolonialismus, der noch immer im Bewusstsein und in den anhaltenden Konflikten in Ostafrika brennt. Im Februar 2024 zogen wir während dem letzten Aufenthalt eine gemeinsame Bilanz und haben über neue Projekte nachgedacht. Die Kultur und die Sensibilität von Bekele waren für die Erzählung der Ausstellung von großer Bedeutung.
Wie waren die Reaktionen der Besucher*innen? Haben sie akzeptiert, dass afrikanische Objekte Teil der italienischen Geschichte sind?
EP: Das Besucherbuch vermittelt uns ein Bild von einer sehr bewussten Rezeption der Ausstellung. Fast alle haben sich Gedanken darüber gemacht, dass es notwendig ist, dieses Stück nationaler Geschichte ein für alle Mal an die Oberfläche zu bringen. Es ist im Übrigen tief im privaten Gedächtnis vieler italienischer Familien verankert, wie viele betont haben.
Sie haben ein Begleitprogramm organisiert, unter anderem in Zusammenarbeit mit afrikanischen Gemeinden in Turin. Ist es Ihnen gelungen, Besucher*innen anzuziehen, die normalerweise nicht in ‚bürgerliche‘ Museen gehen?
EP: Dank der Finanzierung durch das Kulturministerium ist es uns gelungen, ein öffentliches Programm zusammenzustellen, das Geschichte, Literatur, Musik, Kino, Kunst und sogar Essen miteinander verknüpft hat. Einen wesentlichen Beitrag zur Einbindung eines neuen Publikums leisteten die Frauenvereinigung für Subsahara-Afrika und das Interkulturelle Zentrum der Stadt Turin. Es wurden während der Vorbereitung der Ausstellung auch Kontakte mit verschiedenen Gemeinschaften geknüpft. Von denen wurden einige in den Videointerviews des Projekts »Stimmen aus vergessenen Sammlungen« wiedergegeben.
Rezeption der Geschichte des italienischen Kolonialismus
In einer Veranstaltung haben Sie den Journalisten und Pionier der Geschichtsschreibung des italienischen Kolonialismus, Angelo Del Boca (1925-2021), gefeiert. Er kämpfte lange fast im Alleingang gegen das weit verbreitete historische Narrativ von den Italiener*innen als »anständige Leute« und konfrontierte sie mit der realen Geschichte der Gewalt. Auf diesem Weg stieß er auf erbitterten Widerstand. Aber wie ist die Situation heute sowohl in der akademischen als auch in der politischen und öffentlichen Sphäre?
CP: Die Geschichte des italienischen Kolonialismus leidet nach wie vor unter einer grundlegenden Verdrängung im nationalen Bewusstsein. Der Zusammenhang, wie das faschistische Unternehmen mit dem kolonialistischen verschmolz, und Italiens anschließende Kehrtwende während des Zweiten Weltkriegs sind sehr komplex. Das hat neben den unzähligen Verletzungen auch die Unfähigkeit hervorgebracht, die Kolonialgeschichte mit Transparenz und Objektivität zu behandeln. In Ermangelung einer sorgfältigen historischen und juristischen Aufarbeitung der Geschehnisse in den Kolonien wucherte der Mythos von den »guten Italiener*innen«, den Del Boca in seiner jahrzehntelangen Arbeit als einsamer Forscher stets zu dekonstruieren suchte. In jüngerer Zeit wurde sein Vermächtnis von vielen Wissenschaftler*innen und Akademiker*innen aufgegriffen. Die Verdrängung geht jedoch weiter, es gibt immer noch viele politische Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung dieser Vergangenheit. Luca Guadagnino hat dies in seinem Film »Inconscio italiano« (das italienische Unbewusste) wirkungsvoll hervorgehoben. So leugnen auch heute noch einige Gruppen der extremen Rechten die kolonialen Verbrechen und halten an einer alten, beschönigten Sichtweise fest. Die ist heute auch angesichts des Globalisierungsprozesses, in den Italien eingebettet ist, unhaltbar geworden.
Wie hat sich diese Situation auf die Wahrnehmung Ihrer Ausstellung ausgewirkt?
CP: Einige Vertreter dieser extremistischen Gruppen polemisierten massiv gegen einige Teile der Ausstellung und griffen den 2021 verstorbenen Del Boca erneut mit den üblichen Argumenten an. Andererseits erfordert eine neue Positionierung Italiens in Afrika sicherlich ein ernsthaftes Nachdenken und eine Distanzierung von der kolonialen Gewalt, um so die italienische Zusammenarbeit in Afrika auf einer ganz anderen Grundlage neu zu beleben. Der Respekt vor den afrikanischen Akteur*innen könnte also auch unter diesem Gesichtspunkt eine neue kulturelle Agenda auferlegen.