
Weltklasse
Vielstimmige Klasse, vielstimmige Analyse
Klassen und Klassenauseinandersetzungen wurden schon oft totgesagt. Doch dann erscheinen sie in einem neuen Gewand wieder und bedürfen neuer Analysen und Strategien. Zurzeit gibt es einen Schwenk hin zu emanzipativen Kämpfen von Frauen und von Unterdrückten in autoritären Regimen wie im Iran.
Die bekannteste Definition der Arbeiterklasse* stammt von Karl Marx und definiert diese als »doppelt freie Lohnarbeiter«: ‚frei‘ einerseits von sämtlichen anderen Mitteln, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, frei andererseits aber auch, sich den Arbeitgeber* weitgehend autonom aussuchen zu können (MEW 23, S. 742). Als Marx diese Definition 1867 prägte, hatte der Klassenbegriff schon eine längere Geschichte. Und diese Begriffsgeschichte ist durch und durch eurozentrisch geprägt: Begonnen mit der Begriffsherkunft aus dem römischen Militärwesen (classis) über die naturwissenschaftlichen Klassifikationen des Schweden Carl von Linné bis hin zur ersten vor-revolutionären sozialen Klassifizierung durch den französischen Arzt und Ökonom François Quesnay (1694 – 1774), der eine classe productive (Landwirtschaft), class de propriétaires (Grundeigentümer) und eine classe stérile (Manufakturarbeiter, Händler und Gewerbetreibende) unterschied.
In der Französischen Revolution wurde in dieser Tradition auch der Begriff der classe ouvrière, der Arbeiterklasse, geprägt. Bald danach wurde sie als »gefährliche Klasse« identifiziert, die als Problem begriffen wurde. Dieses ‚Problem‘ wurde im frühen 19. Jahrhundert vor allem in Frankreich und Deutschland als »soziale Frage« tituliert.
Karl Marx war bewusst, dass er diese Kategorisierung nicht erfunden hat und dass sie aufgrund ihrer Begriffsgeschichte zu problematisieren ist. Was er wesentlich hinzufügte, war eine Begründung dieses Klassenverhältnisses im gesellschaftlichen Produktionsprozess und – damit quasi einen Grundsatz der Soziologie begründend – eine Relationalität des Klassenbegriffs. Zentral wird damit neben dem Klassenbegriff im Allgemeinen eben auch der Begriff »Arbeiterklasse«. Dessen Ursprung vermutet der niederländische Sozialhistoriker Marcel van der Linden »im 19. Jh., um damit ‚respektable‘ ArbeiterInnen zu bezeichnen und diese von SklavInnen und anderen unfrei Arbeitenden, von Selbstständigen (einem Teil des Kleinbürgertums) und von den armen Marginalisierten (dem Lumpenproletariat) abzugrenzen«.*
Vaterlandslose Gesell*innen
Global gesehen stellt sich das Klassenverhältnis allerdings ganz anders dar. Marcel van der Linden betont hier klipp und klar, dass diese Einteilung in Klassen »aus vielerlei Gründen auf den Globalen Süden schlichtweg nicht anwendbar« sei: Arbeit fand und findet im globalen Rahmen nicht ausschließlich und auch nicht in der Tendenz in seiner »doppelt freien« Form statt. Sie ist nicht ausschließlich männlich konnotierte Industrie- oder Handarbeit, sondern etwa auch Subsistenzarbeit, Sklaverei und Schuldknechtschaft oder weiblich konnotierte Reproduktionsarbeit. Widerstand oder Bewegung ist in diesem Kontext so auch nicht unbedingt gewerkschaftlich oder parteipolitisch organisiert, sondern kann sich beispielsweise auch in »Brotrevolten« (Food Riots) oder Gebärstreiks äußern. Eine den »Westen und den Rest« (Stuart Hall) voneinander abgrenzende Sichtweise, die von bestehenden, hegemonialen Staaten auf die Funktionsweise von Gesellschaften schließt, blendet dagegen beispielsweise die migrantische Lebensweise der Arbeiter*innenklasse aus.
Ist die Arbeiter*innenklasse die Klasse derjenigen, die arbeiten?
Das ist kein neues, aktuelles Phänomen, wenn es auch heute besondere Tragweite hat: Im vergangenen halben Jahrhundert hat sich die globale Migration verdreifacht, der Löwenanteil – 80 bis 90 Prozent – davon ist Arbeitsmigration. Auch wo Arbeit nicht das Motiv der Migration ist, spielt sie eine relevante Rolle in der Migration. Arbeiter*innenbewegungen und entsprechende Organisationen sind immer durch diese interkulturellen Kontakte entstanden. Unter diesem Aspekt haben etwa Steven Hirsch und Lucien van der Walt aufgezeigt, dass global gesehen nicht der Anarchosyndikalismus in Spanien eine historische Ausnahme war, wie man es sich hierzulande vorstellt. Eher ist, wenn man den zeitlichen und geografischen Analyserahmen ausweitet, die deutsche Sozialdemokratie und der aus ihr resultierende politische Marxismus ein Sonderweg der globalen Arbeiter*innenbewegung.
Ein Beispiel für die Unhaltbarkeit des westlich eingeschränkten Klassenbegriffs ist der erste schriftlich dokumentierte Streik der Geschichte: der Streik von Deir el-Medina im Jahr 1159 vor unserer Zeitrechnung, im alten Ägypten unter der Herrschaft von Ramses II. Die Streikenden waren die Erbauer der Königsgräber. Die schriftlich dokumentierte Tatsache ihres Streiks ist deswegen so interessant, weil sie eben doppelt freie Lohnarbeiter waren. Auf der anderen Seite zeigt der Global Slavery Index auf, dass es numerisch noch nie in der Wirtschaftsgeschichte so viel Sklaverei gab wie heute (in Deutschland werden zurzeit 47.000 moderne Versklavte geschätzt).
Schlussfolgerung: Weder ist »doppelt freie Lohnarbeit« etwas mit dem Kapitalismus Entstehendes, noch die spezifische Arbeitsform des Kapitalismus. Gemeinsam mit Karl Heinz Roth prägte Marcel van der Linden daher als Fazit eines Sammelbandes »Über Marx hinaus« im Jahr 2009 eine neue Begriffsdefinition der Arbeiter*innenklasse: »All diejenigen Menschen, die sich im widerständigen Prozess der Enteignung, der disziplinarischen Zurichtung und der Entäußerung sowie Verwertung ihres Arbeitsvermögens befinden, konstituieren das globale Proletariat […]. Diejenigen von ihnen, die sich dabei im Prozess der widerständigen Ausbeutung und Verwertung ihres Arbeitsvermögens befinden, bilden […] die Weltarbeiterklasse« (S. 592).
An und für sich
Das Marx’sche Begriffsverständnis dagegen führte zu wesentlichen Differenzen in Klassenauffassungen, die zum einen mit dem Begriff der gesellschaftlichen Produktion zusammenhängen: Vor allem in den Debatten der Neuen Linken in den 1970er-Jahren, teilweise mit Ausläufern bis heute, wurde heftig darüber gestritten, welche Arbeit überhaupt als produktiv gelten könne. Ausgeschlossen war damit schon einmal die reproduktive Haus- und Care-Arbeit. Die Fragestellung nach der Produktivität ist dabei durchaus von Relevanz, aber sie taugt nicht, um Klassenzugehörigkeiten zu identifizieren. Vor allem in der italienischen Schule des Operaismus, in der diese Debatte intensiv geführt wurde, hatte das praktische Konsequenzen. Einerseits gründete sich ein feministischer Flügel des Operaismus und daraus die globale Kampagne zum »Lohn für Hausarbeit«. Andererseits war eine spätere Konzentration auf »immaterielle« oder auch »affektive« Arbeit im dann sogenannten Postoperaismus zu verzeichnen. Während die bisherige Klassengeschichtsschreibung aufgrund von Eurozentrismus und methodologischem Nationalismus (Roth/ van der Linden) die Industriearbeit zu sehr fokussierte, wurde sie im Postoperaismus zu sehr vernachlässigt: Denn selbstverständlich wird heute – mehr denn je – »klassische« Industriearbeit geleistet, einschließlich Bergbau, etwa zur Förderung seltener Erden: Und zwar erneut kaum in »doppelt freier« Form.
Die zweite Differenz in der Auffassung von Arbeiter*innenklasse basiert auf der von Marx nur marginal behandelten Frage der »Klasse an sich« und »Klasse für sich«, die, ebenfalls vor allem in den 1970er-Jahren zu einem Disput zwischen strukturellem (Louis Althusser) und historischem (E.P. Thompson) Klassenverständnis wurde: Ist die Arbeiter*innenklasse einfach die Klasse derjenigen, die arbeiten oder ist sie erst dann Klasse, wenn sie sich dieser Gemeinsamkeit in einem historischen Prozess – dem Klassenkampf – bewusst wird?*
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Rätsel von morgen: Wer fegt wie ohne die arbeitende Klasse? | Foto: Neil Moralee CC BY-NC-ND 2.0
In seiner plumpen Form wird die zweite Formulierung zu reiner Ideologie, wenn dieses viel beschworene »Klassenbewusstsein« einseitig als sozialistische oder kommunistische Selbstidentifizierung verstanden wird. Wladimir Iljitsch Lenin zufolge war die Arbeiterklasse zu diesem Bewusstsein gar nicht in der Lage, sondern benötigte dazu eine Partei und/oder Intellektuelle. In einer konstruktiveren Variante bedeutet die »Klasse für sich« aber nur, dass die Klasse sich im historischen Prozess des dauerhaften Konflikts selbst herstellt (E.P. Thompson), indem sie eine gemeinsame Praxis entwickelt. In diesem Sinne war auch der wohl einflussreichste Klassentheoretiker der jüngeren Zeit, Pierre Bourdieu, letztlich ein strammer Marxist, wenn er dezidiert die akademische Klassenkategorisierung von der internen Klassenmobilisierung differenziert und erst in Letzterer eine »reale Klasse« ausmachte. Das weitgehende Fehlen einer solchen Mobilisierung – der Soziologe Klaus Dörre etwa spricht von der »demobilisierten Klassengesellschaft«, sein Kollege Hans-Günter Thien von der »verlorenen Klasse« (beide allerdings in Bezug auf Deutschland!) – hat schon oft zum desillusionierten »Abschied vom Proletariat« (so der Arbeitskritiker André Gorz) geführt.
Es rettet uns kein tief’res Wesen
Karl Heinz Roths und Marcel van der Lindens Definition von »Weltarbeiterklasse«, die etwa explizit die Redaktion der operaistischen Zeitschrift Wildcat teilt, würde schon mit dem »herkömmlichen« Klassenbegriff Sinn ergeben: Noch nie waren so viele Menschen global in Lohnarbeit wie heute. Erweitert man den Klassenbegriff in der global-sozialen Sichtweise, wie van der Linden und Roth vorschlagen, wird sie noch stimmiger und korrigiert damit auch die Fehlinterpretation einer »Diktatur des Proletariats« als vermeintlich undemokratisch, weil es immerhin ein Regime der übergroßen Mehrheit wäre. Diese Definition der Weltarbeiter*innenklasse setzt aber auch den »widerständigen Prozess« voraus.
Oder ist sie erst Klasse, wenn sie sich ihrer Gemeinsamkeit bewusst wird?
So einen widerständigen Prozess gibt es, keine Frage. Er scheint allerdings kaum miteinander vermittelt, sondern wirkt momentan eher wie ein bezugsloses Nebeneinander von zahlreichen Einzelkämpfen. Die entsprechenden sozialwissenschaftlichen Analysen haben dafür in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Begriffe geprägt: die »Subalternen« (Gayatri Chakravorty Spivak), das »Prekariat« (Guy Standing), oder die »Überflüssigen«. Ohne ganz falsch zu sein, basieren diese Begriffe meist auf dem, was Marcel van der Linden kritisiert: Sie differenzieren oft vermeintlich »neue Klassen« oder andere Klassifikationsmodelle in Abgrenzung von der Konzeption der westlich und eurozentristisch gedachten Klasse der »respektablen« (männlichen, weißen) Arbeiter – tendenziell dann aber letztere wieder aus der Analyse ausschließend.
Was dabei leicht in Vergessenheit gerät, ist das strukturelle Verhältnis: dass nämlich der Kapitalismus immer diese untere Klasse braucht, egal, welche individuellen Personen oder kulturell definierten Großgruppen gerade in einem konkreten Ausbeutungsverhältnis stecken. Je nach Bedarf, aber auch nach Führungsweise des Klassenkampfs, dominieren verschiedene Fragmente der Arbeiter*innenklasse (mit bestimmten Qualifikationen, Kulturen oder sozialen Hintergründen). Das Klassenverhältnis ist dynamisch. Eine (durchaus wichtige) Analyse wie die der »Prekarität« macht nicht Klasse aus, sondern weist darauf hin, dass sich die Klasse unter verschiedenen Aspekten (kapitalistisch-technischen, widerständig-politischen und sozial-reproduktiven) stets neu zusammensetzt.
Die Verwilderung des Patriarchats in Brasilien
Viele indigene Kämpfe sind in diesem Sinn (nicht ausschließlich, aber auch) Kämpfe gegen eine Proletarisierung (also im weiteren Sinne gegen die von bürgerlichen Ökonomen und Marx im 19. Jahrhundert genannte »ursprüngliche Akkumulation« welche dem Kapitalverhältnis vorausgeht, siehe etwa Land- und Wasserkämpfe), also Kämpfe darum, nicht im Sinne des Kapitalismus klassifiziert zu werden (John Holloway). So gesehen hat die arbeitende Klasse, wie Alexander Demirović es 2020 ausgedrückt hat, »keinen Wesenskern«, oder bildet, in den Worten Roths und van der Lindens, ein »Multiversum«. Klasse ist eben keine, schon gar keine individuelle, Identität, sondern eine soziale Position, die, wie ich es in einem Buchtitel benannt habe, »nichts gemeinsam« hat (Nothing in common). Die Konsequenz daraus ist aber, dass das »sich gemein machen« zur Klasse als ein aktiver und kollektiver Prozess durchaus möglich ist. Erst das bringt die Klasse im Sinne E.P. Thompsons hervor.
Für eine aktuelle Analyse (und Grundlage politischer Emanzipation) der Klassenzusammensetzung ist dabei relevant, dass die Arbeiterklasse des 21. Jahrhunderts explizit eine Arbeiter*innenklasse ist: Die Hälfte der global »doppelt frei« Lohnarbeitenden ist weiblich; und dass Subsistenz- und Reproduktionsarbeit geschlechtlich massiv ungleich verteilt sind, ist keine Neuigkeit. Es ist kein Zufall, dass eine der spannendsten Entwicklungen der vergangenen Jahre die globalen feministischen Streikbewegungen und die von diesen Bewegungen kontextualisierten Kämpfe (etwa in Iran und Syrien) sind. Diese Entwicklung führt damit zwei emanzipative Traditionen zusammen. Das ist kein Zufall, sondern basiert auf dem aktuellen Stand der Klassenauseinandersetzung. Dabei sind die feministischen Streiks auch eines der wenigen Beispiele, in denen sich die Kämpfe miteinander vermitteln, in denen Erfahrungen ausgetauscht werden – in denen also Klasse gemacht werden kann.