»Der Klima­gipfel wird uns keinen seis­mischen, trans­forma­tiven System­wechsel bescheren«

Interview mit Kumi Naidoo

Audiobeitrag von Martina Backes

28.11.2023
Teil des Dossiers Klimakrise und Migration

Als Klimaaktivist, ehemaliger Chef von Greenpeace und Amnesty international sowie Direktor des Startups African Civil Society Initiative stellte Kumi Naidoo sowohl Menschenrechte als auch Umweltfragen über Jahre ins Zentrum seines Aktivismus. Derzeit konzentriert er sich darauf, politische Aktionskunst als Kommunikationsmittel voranzubringen. Der südnordfunk sprach mit dem südafrikanischen Rechts- und Politikwissenschaftler über Klimakommunikation und zivilen Ungehorsam.

Audiobeitrag von Martina Backes

28.11.2023
Teil des Dossiers Klimakrise und Migration

Portrait Kumi Naidoo als Key Note Speaker
Kumi Naidoo beim International Student Week in Ilmenau 2017 | Foto: Ivan Semyonov | CC BY-NC-ND 2.0

Skritp des Interviews mit Kumi Naidoo

Erstausstrahlung Radio Dreyeckland am 5. Dezember 2023

südnordfunk: Du sagtest kurz nach dem enttäuschenden Desaster des gescheiterten Klimagipfels von Kopenhagen: Der Klimakampf ist wie ein Marathonlauf. Seither hast Du viele Weltklimatreffen aktiv miterlebt. Gibt es irgendetwas, das dich für den diesjährigen Gipfel in Dubai noch hoffnungsvoll stimmen kann?

Kumi Naidoo: Leider sind die Vereinten Nationen und mit ihr das System, das die Klimaverhandlungen betreut und führt, in gewisser Weise Geschwister. Wenn es die UNO nicht gäbe, würden wir versuchen, sie zu gründen. Wenn es die Klimaverhandlungen nicht gäbe, würden wir versuchen, sie zu schaffen. Denn das ist es, was gebraucht wird, um die Welt gemeinsam voranzubringen, um die Herausforderungen, denen die Menschheit gegenübersteht mit Bedacht zu meistern. Zugleich ist wichtig zu sehen, dass alle globalen Regierungsinstitutionen, sei es die UNO, die Weltbank, der IWF und so weiter, die Machtdynamiken in der Welt so beeinflussen, wie sie nun mal sind. Was ist auf dem Weltklimagipfel regelmäßig die größte Delegation? In Glasgow hatte die damalige britische Regierung etwa 300 Delegierte, doch die größte Delegation kam von der fossilen Brennstoffindustrie mit über 500 Delegierten. Das ist so, als ob Alkoholismus der Fokus einer Konferenz ist und die größte Delegation die Alkoholindustrie - obwohl sie das Problem verursacht.

Wir sollten dem Treffen in Dubai also mit realistischen Erwartungen entgegensehen und uns nicht auf eine große Enttäuschung einschwören. Im Vorfeld der Pariser Klimaverhandlungen haben viele Menschen viele Kampagnen geführt. Paris gilt als Schlüsselmoment für die gesamte Klimabewegung, um den Verhandlungsprozess (nach dem Scheitern in Kopenhagen 2009) wieder auf den richtigen Pfad zu bringen. Ich meine, wir sollten nicht den Weg hin zu irgendeinem Klimagipfel derart betonen, denn das wäre eine Sackgasse. Unserer Meinung nach sollte damals der Weg nicht in Paris enden, sondern durch Paris hindurchführen, weiter nach vorne. Und so sollten wir auch Dubai als einen Schritt im Kampf für Klimagerechtigkeit und gegen den Klimawandel sehen. Ein einzelner Klimagipfel wird uns keinen erdbebenartigen, transformativen Systemwechsel bescheren, sodass wir die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, tatsächlich lösen.

Die gesamten globalen Regierungsvereinbarungen leiden unter einem Demokratiedefizit, einem Kohärenzdefizit, einem Einhaltungsdefizit und einem Defizit an Rechenschaftspflichten. Das ist doch das Problem des Systems als solches. Und dennoch: Wenn wir an die vorherigen Klimagipfel denken, dann hätten die wenigsten gedacht, dass wir bei dem Thema Verluste und Schäden jemals etwas erreichen würden. Jahrelang hatten wir dafür gekämpft, dass im Rahmen des Abkommens eine Sprache für erlittene Verluste und Schäden akzeptiert wird.

Es hat 30 Jahre gedauert, Loss and Damage in dem Abkommen zu verankern. Aber die Regeln der Vergabe sind noch nicht gesetzt, und die sind in vielerlei Hinsicht entscheidend. Die werden nun in Dubai ja erst verhandelt.

Ich würde mich – selbst wenn die Vorschriften klar geregelt werden, nicht darauf verlassen. Trotz klarer Regeln haben wir – wie bei dem Grünen Klimafonds, der in Kopenhagen 2009 beschlossen wurde –  noch immer das Problem, dass die Länder, die die größte Verantwortung für die Realität des Klimawandels tragen, weil sie die Ökonomie auf dreckige Energie aufgebaut haben, diese durch koloniales Verhalten überall auf der Welt fördern. Und wir da alle dranhängen. Beim Kampf um den Bereich Verluste und Schäden in Sharm-El-Sheik ging es nicht einfach ums Budget*. Was wir mit dem Beschluss, dass dieser Fonds eingerichtet wird, erreicht haben, war ein moralischer Sieg.

Aber klar, für einen wirklichen Erfolg müssen die Mittel dafür fließen. Was man in Europa, in den Vereinigten Staaten, in Kanada oder in einem der so genannten Industrieländer des Globalen Nordens beobachten kann: Über Nacht werden Budgets für Kriegseinsätze aufgetrieben. Das haben wir bei dem Angriffskrieg in der Ukraine gesehen. Und das sehen wir jetzt in Israel und Palästina. Wenn es einen politischen Krieg gibt, werden dafür Ressourcen aufgetan. Wenn es aber um die Verpflichtungen der globalen Minderheit geht, die wir als Globalen Norden bezeichnen, dann scheint diese Minderheit einfach davon abzulassen, tatsächlich Geld auf den Tisch zu legen.

Du meinst also, es mangelt an politischem Willen, und deshalb gibt es nicht genug Ressourcen für die Klimathemen. Obendrein wurde das Budget des Klimafonds nicht angemessen verwendet: Viele Länder haben aus dem Budget Kredite und Darlehen erhalten, auf die sie Zinsen zahlen müssen, statt einen echten Zuschuss. Sind Menschen­rechte hier im Klimakampf in irgendeiner Weise förderlich? Sie stehen in der Präambel des Pariser Abkommens, doch inwieweit können Menschenrechte diejenigen unterstützen, die sich jetzt für den Bereich Verluste und Schäden einsetzen?

Während meiner Zeit bei Greenpeace haben wir immer gesagt, dass wir uns auf die Weisheit der Gewerkschaftsbewegung berufen, die besagt: Auf einem toten Planeten gibt es keine Arbeitsplätze. Wir drückten das dann so aus: Wenn es keine Menschen auf dem Planeten gibt, gibt es auch keine Menschenrechte. Wenn wir unsere Menschenrechte also ernsthaft verteidigen wollen, müssen wir uns selber betrachten und den Punkt an dem wir angelangt sind. Wir müssen erkennen, dass der Klimawandel nicht einfach über Nacht passiert ist. Er ist das Ergebnis eines kaputten Wirtschafts-, Energie-, Verkehrs- und eines kaputten Ernährungssystems und so weiter. Wenn also jemand meint, dass wir das Chaos, das wir mit unserer Energieabhängigkeit über Jahrhunderte angerichtet haben, über Nacht wieder rückgängig machen können, dann ist das eine Illusion. Dann wird klar, dass wir den Klimawandel auf eine intersektionale Weise angehen müssen. Zu glauben, wir könnten nur wirtschaftliche Gerechtigkeit ohne soziale und ökologische Gerechtigkeit erreichen, ist naiv.

Angesichts all dieser Herausforderungen ist es wichtig zu verstehen, dass die COP uns den Moment beschert, die Aufmerksamkeit der Welt auf die Klimakrise zu lenken, nicht unbedingt auf das, was in den Verhandlungsräumen geschieht sondern auf das, was die Zivilgesellschaft und die Welt als Ganzes tut, um sicherzustellen, dass wir in einem Maße tätig werden, das der Dringlichkeit entspricht, die uns die Wissenschaft vorgibt.

»Der Klimawandel kennt keine nationalen Grenzen.«

Denn ehrlich gesagt: Es gibt faktisch eine völlige Diskrepanz zwischen den wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie den extremen Wetterereignissen –, die uns sagen, was zu tun ist und dem, was unsere politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen zu tun bereit sind. Letztere treffen sich einzig, um zu sagen, dass der Klimawandel real ist und sie handeln müssen. Doch ihre Aktionen sind das Gegenteil von Handeln.

Derzeit werden mehr als 400 Klimaprozesse geführt, auf den Philippinen, in verschiedenen US-Bundesstaaten und an vielen anderen Orten. Diese Klimaprozesse gewinnen an Gewicht. Die Chance des Klimagipfels besteht darin, das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zu mobilisieren, um solche Bewegungen und deren Repräsentant*innen zu verbinden und die Kampagnen zu verbessern, die Kommunikation und die Kämpfe mit Bedacht zu steigern, um sicherzustellen, dass die wirklich wichtigen Leute diejenigen sind, die Lösungswege finden.

Ein Teil des Problems der Klimabewegung besteht doch darin, dass wir zu uns selbst sprechen. Wir sprechen eine Sprache, die normale Menschen nicht verstehen. Sie ist zu sehr auf Traurigkeit, zu sehr auf Rationalität und zu sehr auf Fakten und Zahlen ausgerichtet. All das ist wichtig, ich sage nicht, dass wir keine Zahlen und Fakten verwenden sollten. Das Problem ist nur, dass wir uns zu sehr auf den Kopf und zu wenig auf das Herz und die Seele konzentrieren, deshalb hängen wir viele Menschen ab. Was auf dem diesjährigen Klimagipfel etwas mehr Beachtung finden wird als je zuvor, ist, dass Leute aus dem Kunst- und Kulturbereich ihn nutzen werden. Sie werden zeigen, dass die Welt keine Chance hat, die Dinge zu beschleunigen und voranzubringen, wenn wir es nicht schaffen, im Klimakampf Aktivismus und Kunst und Kultur zu verbinden. Einige unter uns bezeichnen das als Artivism (von Art, Kunst, A.d.R.), als politische Aktionskunst. Deshalb ist es in der jetzigen Krise entscheidend, intersektional vorzugehen und Menschenrechte, Umwelt und Entwicklung zusammenbringen.

Ich möchte auf das Thema ziviles Engagement und Mobilisierung zu sprechen kommen, ein Bereich, in dem du aktuell arbeitest. Hierzulande sehen wir, dass die Klimakommunikation vielleicht nicht wirklich die Menschen erreicht, die wir erreichen müssten - nicht nur, weil die Klimabewegung mit sich selbst spricht. Ich habe auch den Eindruck, dass viele Menschen angesichts der zahlreichen Katastrophen­meldungen irgendwie zunehmend abgestumpft reagieren und wir darauf nicht angemessen antworten? Intersektionales Arbeiten ist da eine nette Idee, aber wie genau sollten wir vor allem mit denjenigen sprechen, die mehr oder weniger bereit sind, sehr konservativen oder sogar rechten Gruppierungen zu folgen, die nichts mehr von den Klima­katastrophen im Globalen Süden hören wollen oder die gar Angst schüren, dass massenweise Geflüchtete zu ihnen kommen?

Kumi Naidoo: Die Antwort auf diese Frage ist äußerst schwierig. Ich möchte nicht behaupten, dass dies ein Parkspaziergang ist. Viele unter uns haben es vorhergesehen, dass sich die Klimakrise immer weiter verschlimmert und die Zahl der klimabedingten Extremereignisse immer mehr zunimmt. Rechte Kräfte werden dies als Grundlage nutzen, um für einen sehr engstirnigen Nationalismus zu argumentieren und sich darauf zu konzentrieren, was wir tun können, um uns selbst zu schützen. Wobei gerade der Klimawandel uns lehrt, mehr als jedes andere transnationale Problem, mit dem wir konfrontiert sind: Es ist der Moment, in dem wir entscheiden, weiterhin in einer Welt der Teilung zwischen Nord und Süd, Ost und West zu leben, oder wir akzeptieren, dass der Klimawandel keine nationalen Grenzen kennt. Sicher, es ist eine schreckliche Ungerechtigkeit, dass der Globale Süden am wenigsten zum Problem des Klimawandels beigetragen hat und nun den ersten und brutalsten Preis zahlt. Aber seien wir fair:  Selbst bei den extremen Klimaereignissen im Globalen Norden kommt es zu Überschwemmungen, Bränden und Toten wie nie zuvor. Wir können weiterhin in dieser geteilten, hasserfüllten Welt leben, die von vielen Politiker*innen im Globalen Norden ausgeht, sei es Trump, sei es die Führung in Italien, Großbritannien und so weiter. Oder wir können erkennen, dass wir dieses Recht (auf Bewegungsfreiheit, A.d.R.) als reiche und als arme Staaten, als entwickelte und Entwicklungsländer bekommen.

Tun wir das nicht, so werden wir in eine Situation geraten, in der wir letztlich alle verlieren. Es ist wirklich bedauerlich, dass die Menschen im Globalen Süden derzeit in großer Zahl sterben und Infrastrukturen und Lebensgrundlagen in steigendem Maße entbehren. Aber die Minderheit im Globalen Norden wird letztendlich nicht geschützt werden.

Was Leute wie Steve Bannon und Donald Trump in den USA tun, ist sehr einfach gehalten. Natürlich lügen sie und verdrehen Fakten in großem Umfang und sagen, man solle die Faktenhuberei stoppen, das ist, gelinde gesagt, nicht gerade freundlich. Aber im Klima-Aktivismus müssen wir darüber nachdenken, wie wir die Menschen nicht nur mit rationalen kopflastigen Argumenten erreichen, sondern wie wir ihre Kreativität, ihre Körper und ihre Seelen ansprechen. Wenn wir uns die Geschichte anschauen und was sie uns lehrt, wenn man sich an mein Land während des Anti-Apartheid-Kampfes erinnert, dann war eine der schwierigsten Fragen, wie wir die Botschaft des Widerstands gegen eine der schlimmsten Unmenschlichkeiten vermitteln, die die Welt kennt. Wie schaffen wir das auf eine Art und Weise, die auch Menschen erreicht, die absichtlich der Bildung beraubt wurden. Ein großer Teil der Bevölkerung in Südafrika konnte nicht lesen und nicht schreiben.

Es ging also nicht darum, lange politische Dokumente zu lesen oder lange engagierte Reden darüber zu halten, wie schlimm das Apartheidsystem war. Wir erreichten die Leute durch Lieder, Tanz, Musik und Straßentheater. Und so wirkten wir der Kommunikationsmacht des Apartheidstaates entgegen. Das ist es, was wir bei all unseren Aktivismus-Bemühungen versäumen: Umweltgerechtigkeitsbewegung, wirtschaftliche Gerechtigkeit, Klimagerechtigkeit – wir sind da gerade nicht in der Lage, das massive Kommunikationsdefizit zu überwinden, unter dem der Klima-Aktivismus leidet. Fairerweise soll gesagt sein, dass es eben auch wahr ist, dass ein Großteil der Kommunikations- und Medienstruktur weltweit den Ideen, die den Status Quo in Frage stellen und Alternativen präsentieren, feindlich gegenübersteht. Weil die Struktur entweder von Gestalten beherrscht wird, die im Bereich der fossilen Brennstoffe oder im Bereich des Klimas sehr einflussreich sind oder weil sich die Medien in staatlichem Besitz befinden und der Staat die Sätze vorgibt. Das ist ein weiteres großes Problem.

2 Männer, einer von ihnen Kumi Naidoo, mit dem Transparent Stop Arctic Destruction, vor einer Bohrinsel in der Arktischen See
Kumi Naidoo mit einem Kollegen 2011 bei einer Protestaktion vor einer Erdölbohrinsel der Firma Cairn Energy in der Grönländischen Arktischen See | Foto: Jiri Rezac, Greenpeace

Dazu kurz ein Beispiel. Ich wollte eine Ölbohrinsel in der grönländischen Arktis besetzen und als ich mit dem Schlauchboot auf dem Meer war und das Meer ziemlich rau, sah ich meine Kollegen auf dem Boot sehr nervös an, und sie sagten, wenn du ins Meer fällst, überlebst du mit dem Schutzoutfit, das du trägst, zwei Stunden, bevor wir dich rausziehen. Ich schaute auf die Wellen und fragte mich: Oh nein, ich weiß nicht, ob wir in ein paar Stunden noch kämpfen werden, denn die Wellen sind so gewaltig. Ich schaute auf das Transpi, das ich bei mir trug, auf dem stand: »Stop Arctic Destruction«. Das war 2011. Ich hatte den schrecklichen Gedanken, dass dies die letzte Aktion war, die ich in meinem Leben unternommen haben werde. 99,5 Prozent meiner Familie, Freunde und Kollegen zu Hause in Afrika hatten keine Ahnung, was ich damit sagen wollte, denn 2011 wussten die Leute nicht einmal, welche Bedeutung der Arktische Ozean innerhalb der Klimaerwärmung hat, dass der Arktische Ozean eine Art Kühlschrank ist. Und dass, wenn das Eis dort in dem Ausmaß schmilzt, wie es im damaligen arktischen Sommer der Fall war, dies zu so vielen Zerstörungen führt, dass das Klimasystem extreme Ereignisse jenseits jedes Mittelwertes zeitigen wird.

Als ich schließlich nach Südafrika zurückkam, sagten einige Kinder in meiner Familie: Onkel Kumi, niemand wusste, wovon zum Teufel du auf dem Plakat sprichst und du gehst ein so großes Risiko ein ohne richtig schwimmen zu können. Dafür hättest du dir wenigstens einen besseren Slogan überlegen sollen. Ich fragte sie, was ein besserer Slogan gewesen wäre, und dachte über ihre Antwort nach. Ein besserer Slogan wäre gewesen, einfach zu sagen: »Rettet den Weihnachtsmann jetzt!«. Denn das ist die Assoziation, die die meisten Menschen mit der Arktis haben. Sie deuteten damit an: Ihr denkt, ihr seid Aktivisten, aber ihr projiziert euer Bewusstsein auf uns. Ihr erwartet von uns, dass wir so sind, wie ihr alle seid.

Wir neigen also in allen Gerechtigkeitsbewegungen dazu, das Bewusstsein, das die Aktivist*innen in ihrem Kopf haben, auf die Menschen zu projizieren, die wir organisieren müssen. Wir müssen uns demütiger zeigen, um besser zu verstehen, wo die Leute stehen. Und wir dürfen die Angst der Menschen vor, sagen wir, massiver Einwanderung nicht abtun. Ich will damit nicht sagen, dass wir die Beschimpfungen akzeptieren müssen, aber wir dürfen die Unsicherheiten nicht negieren, die entstanden sind. Und wir sollten Wege finden, mit ihnen so zu reden, dass wir eine Chance haben, sie für unsere Position zu gewinnen, anstatt mit einer Arroganz zu ihnen zu sprechen, als ob wir alles wüssten und für alles einen Plan hätten, was Menschen schließlich mehr und mehr in die Arme der rechtsextremen Kräfte treibt, wie wir gerade letzte Woche in Argentinien und auch in den Niederlanden gesehen haben, wo die Rechtsextremen die Wahlen gewonnen haben.

Danke für die berührende Geschichte aus dem Arktischen Meer. Dennoch, mein Eindruck ist, dass in meinem Land zum Beispiel, wo viele Menschen sehr viele Privilegien genießen, Wohltätigkeit mit Solidarität verwechselt wird. Einfach, weil es sehr bequem ist, Geld zu spenden, während man gemütlich auf dem Sofa sitzt und Nachrichten schaut, statt sich politisch zu engagieren oder ziviles Engagement zu zeigen. Ich weiß nicht, wie wir diese Leute erreichen können, sie sind von vielen Geschichten längst berührt, sie spenden, aber Spendenbereitschaft ist nicht das einzige, was wir brauchen. Was ist aus deiner Sicht das Problem dahinter, wenn Wohltätigkeit mit Solidarität verwechselt wird?

Das ist eine ausgezeichnete Frage. Ich möchte vorschlagen, dass wir Wohltätigkeit nicht als etwas Schlechtes an sich diskreditieren. Denn Wohltätigkeit ist ein Ausgangspunkt, vergleichbar mit dem Recycling in der Umweltbewegung. Es ist ein guter Start, aber ein sehr schlechter Endpunkt, wenn man sich ausschließlich auf Recycling beschränkt.

Weil es die Übel nicht an der Wurzel packt?

Ja, aber irgendwo muss man ja anfangen. Ich bin immer der Meinung, dass man diese Liebe der Menschen umarmen sollte. Und dann bleibt es der Kreativität des Aktivismus überlassen, ob der das so wenden kann, dass er die Menschen zu echter Solidarität bewegt. Ob nach der Finanzkrise oder nach der schlimmsten Krise, also Covid, wurde immer  gesagt, es geht um Systemwiederherstellung, Systemschutz und Systemerhaltung. Aber was wir nach der globalen Finanzkrise 2009 brauchten, umso mehr nach Covid und erst recht, wo wir jetzt stehen, ist nicht Systemwiederherstellung, nicht Systemschutz und Systemerhaltung. Wir brauchen Systeminnovation, Systemtransformation und Systemneugestaltung. All dies klingt wie ein weiterer Ziegelstein im Mauerwerk. Doch wir brauchen eine Welt des Wandels. Wir müssen die größtmögliche Anzahl von Menschen auf vielfältige Weise mobilisieren und dafür ein Umfeld schaffen, das den Menschen vielseitige Möglichkeiten bietet, sich am Kampf für Klimagerechtigkeit zu beteiligen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir die Leute dort abholen, wo sie sind. Wenn Menschen Musik mögen oder gerne jammen, dann sollten wir herausfinden, wie wir in diese Welten tatsächlich eingreifen können.

Ich sage also nicht, es sei einfach, die Menschen dafür zu begeistern. Aber ich muss auch dafür sorgen, dass der Klimakampf nicht als ein schrecklicher, schwieriger, schmerzhafter Kampf dargestellt wird. Wir müssen den Kampf für unsere Zukunft auch mit einer Botschaft der Hoffnung, des Optimismus und der Begeisterung usw. verbinden. Und deshalb – und das habe ich in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder gesagt – müssen wir Aktivismus sexy machen und ihn nicht als eine schmerzhafte, langweilige Sache darstellen. Wenn ich ehrlich bin, sind einige der glücklichsten und lustigsten Momente in meinem Leben und einige der besten Freundschaften in den verschiedenen Kämpfen entstanden, die ich geführt hatte. Und wir müssen unsere Bemühungen aufmerksamer und umfassender gestalten, in dem Sinne, dass das, was wir tun, auch etwas Spirituelles ist, nicht religiös im engeren Sinne sondern, indem wir in der Lage sind zu erkennen, dass das, was wir tun, nicht etwas ist, bei dem wir eine Wahl haben, sondern etwas, das dringend notwendig ist. Wir müssen die Fähigkeit entwickeln, unseren Geist aufrecht zu halten.

An diesem Punkt der Geschichte ist Pessimismus ein Luxus, den wir uns einfach nicht leisten können. Der Pessimismus, der sich verständlicherweise aus unserer Analyse, unseren Beobachtungen und vor allem aus den Lebensbedingungen im Globalen Süden ergibt, müssen und können und sollten wir durch die Kreativität im Handeln und unseren Mut überwinden.

Brauchen wir mehr zivilen Ungehorsam? Ich frage, weil wir hier die Diskussion und die Kritik an der Letzen Generation haben, die sich auf Straßen festkleben. Nicht alle heißen diese Art der Interaktion mit der Gesellschaft für gut.

Wenn Menschen über zivilen Ungehorsam sprechen, denken sie, das Problem sei ziviler Ungehorsam. Aber eigentlich ist das Problem der zivile Gehorsam. Es war ziviler Gehorsam, der uns die Realität von Nazi-Deutschland beschert hat, es war ziviler Gehorsam, der uns die Ungerechtigkeiten der Apartheid, des Pol-Pot-Regimes und verschiedene andere Grausamkeiten in der Welt beschert hat. Deshalb ist es wichtig, dass wir nicht zulassen, dass der zivile Ungehorsam als ein Problem angesehen wird. In Wirklichkeit ist das größere Problem, das wir haben, der zivile Gehorsam. Die Menschen gehorchen ungerechten Gesetzen, einer schlechten Politik, einer selbstmörderischen Politik, wie wir sie mit unserer Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und so weiter haben.

Wir müssen erkennen, dass ziviler Ungehorsam ein mächtiges, aber nicht das einzige Werkzeug im Werkzeugkasten des Aktivismus ist. Politische Forschung, öffentliche Versammlungen, öffentliche Bewusstseinsbildung, Artivismus, d.h. Aktivismus in Verbindung mit Kunst, all diese Dinge haben ihren Platz.

»Ziviler Unge­horsam ist ein mächtiges, aber nicht das einzige Tool im Werk­zeug­kasten des Aktivismus.«

Wie jedes andere Werkzeug auch kann man zivilen Ungehorsam also nicht für jede Situation auf genau dieselbe Weise verwenden. Eine Form des zivilen Ungehorsams ist das so genannte Mooning. Ihre Zuhörer*innen wissen vermutlich, was Mooning ist: Wenn eine Gruppe von Menschen zusammenkommt, sich verschiedene Buchstaben auf die Pobacken schreibt und an einem bestimmten Punkt im öffentlichen Raum die Hosen runterlässt, sich umdreht und einen Slogan in die Öffentlichkeit trägt, der zum Beispiel lautet: »Stoppt den Klimawandel«, dann hat das in New York, Los Angeles und London sehr gut funktioniert. Aber es würde nicht unbedingt in Indonesien, Saudi-Arabien oder anderswo im Nahen Osten gut funktionieren.

Wir müssen uns als Taktiker*innen fragen, ob es so oder anders gut funktionieren wird. Und ja, das heißt, wenn man eine Aktion des zivilen Ungehorsams durchführt, wird es immer jemanden geben, der gegen einen ist. Die Frage, die du dir stellen musst, ist, ob das, was du tust, am Ende positiv ist, denn einige Leute werden sich über die Aktion aufregen. Aber stelle sicher, dass die Mehrheit, die du gewinnen und mitnehmen möchtest, das Ganze positiv bewertet.

Mooning: Studierende in einer Reihe zeigen ihre Pobacken als Protest
Studierende der Universität Stanford (Kalifornien) demonstrieren im Mai 1995 mit einem Mass Mooning gegen die Zensur in den amerikanischen Medien | Foto: Wikimedia | CC BY-SA 3.0

Nur Menschen vor Ort können diese Entscheidung auf der Grundlage ihres Verständnisses der kontextuellen Realität treffen. Als zum Beispiel Extinction Rebellion, die ich künstlerisch eigentlich unterstütze, im Jahr 2020 die U-Bahn in London blockierte und Menschen aus der Arbeiterklasse, die diese U-Bahn benutzten, von Menschen aus der Mittelschicht, die privilegierter waren, belästigt wurden, hat das sehr schlecht funktioniert. Das ist eine Tendenz, die ich in bestimmten Teilen der Welt beobachtet habe: Dass Menschen aus der Mittelschicht zeigen wollen, dass sie auf der richtigen Seite der Geschichte stehen oder was auch immer, während doch die Menschen, die wirklich betroffen sind, in viel größerer Zahl beteiligt werden müssen. Wichtig ist, sensibel zu sein und den Kontext zu verstehen und die Leute abzuholen. Wir können die Menschen nicht einfach auf eine arrogante Art und Weise gewinnen, indem wir sie von oben herab belehren und so tun, als wären wir die Inhaber der absoluten Wahrheit.

Insofern: Ja, der ziviler Ungehorsam sollte auf jeden Fall intensiviert werden, aber auf eine Art und Weise, bei der ganz bewusst überlegt wird, wie die Zahl der Menschen vergrößert werden kann, die das Problem verstehen und bereit sind, sich mit dem Thema zu befassen. Und letztlich dann selber bereit sind, sich am zivilen Ungehorsam zu beteiligen. Das ist eine Reise, die nicht an einem Tag beginnt und am selben Tag endet.

Das Interview führte Martina Backes drei Tage vor Eröffnung der 28. Weltklimakonferenz.

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