Artiste, Activiste, Archiviste
Bernhard Lüthi machte die australische Aborigines-Kunst bekannt
Das Werk des Künstlers und Kurators Bernhard Lüthi ist kaum zu überschauen. Mit der Ausstellung »Artiste, Activiste, Archiviste – Bernhard Lüthi invite« im schweizerischen Lens zieht der Künstler und Aktivist ein Resümee seines Lebenswerks. Einen besonderen Stellenwert hatte darin sein Kampf gegen den Eurozentrismus und Rassismus des westlichen Kunstbetriebs.
In Schaukästen im Schweizer Kanton Wallis prangen derzeit Plakate für eine Kunstausstellung mit der ungewöhnlichen Aufschrift »Anti-Racist Tool Box for the Visual Arts – Swiss Branch«. Derjenige, der damit einlädt, seinen »antirassistischen Werkzeugkasten für die bildenden Künste« in der Fondation Opale in Lens kennenzulernen, ist der aus Bern stammende Künstler und Kurator Bernhard Lüthi.
Der inzwischen 86-Jährige hat sein gesamtes künstlerisches Leben lang gegen die Ausgrenzung außereuropäischer Kunst aus dem westlichen Kulturbetrieb und für die Anerkennung der zeitgenössischen Kunst australischer Aborigines gekämpft. Er stritt dafür mit eigenen Gemälden und Installationen, mit von ihm konzipierten Ausstellungen und mit engagierten Reden und Texten.
Mit der Ausstellung »Artiste, Activiste, Archiviste – Bernhard Lüthi invites« *, die noch bis zum 10. November im Schweizer Bergort Lens zu sehen ist, zieht der unermüdliche Kämpfer gegen Kolonialismus, Eurozentrismus und Rassismus ein Resümee seines Lebenswerks. Neben eigenen Arbeiten präsentiert Lüthi darin Werke von 30 Künstler*innen, die seinen Werdegang geprägt haben. Dazu gehören Joseph Beuys, mit dem er an der Düsseldorfer Akademie der Künste zusammengearbeitet hat, und Meret Oppenheim, eine der bedeutendsten Schweizer Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, die in Portugal lebende Fotografin Erika Koch, die Koreanerin Yongchang Chung und der aus Togo stammende Edoh El Loko sowie einige der international bekanntesten Aboriginal Künstler*innen (darunter John Mawurndjul, Brook Andrew, Richard Bell, Lin Onus, Gordon Bennett und Archie Moore).
Die Kunststiftung und der Aktivist kommen zusammen
Im Zentrum des großen Ausstellungsraums steht zwischen Bildern, Video-Installationen und Skulpturen der »antirassistische Werkzeugkasten«: das in fünf Jahrzehnten gewachsene Archiv Bernhard Lüthis. Es besteht aus 152 Schubern. Die Behältnisse sind wie eine Skulptur aufgetürmt. Sie enthalten Kataloge und Dokumente, Briefwechsel, Notizen und Streitschriften von Lüthi zu Eurozentrismus und Rassismus im westlichen Kunstbetrieb sowie zur Geschichte, Entwicklung und Verbreitung von Indigener Kunst weltweit. Insgesamt hat Lüthi in fünf Jahrzehnten mehr als 5.300 Schriftstücke gesammelt, dazu 1.200 Bücher, 150 Zeichnungen und Grafiken sowie 5.000 Dias. Eine Auswahl von Lüthis Sammlung war bereits 2020 auf der Sydney Biennale zu sehen, die mit Brook Andrews erstmals einen Indigenen Kurator hatte. Lüthis Archiv verbleibt nach der Finissage der Ausstellung in der Fondation Opale und wird dort allen Interessierten dauerhaft zur Verfügung stehen. Er hofft, damit einen Beitrag »zur notwendigen Fortsetzung des antirassistischen Engagements im Kunstbetrieb« leisten zu können.
Im Zentrum der Ausstellung steht Lüthis »antirassistischer Werkzeugkasten«
Mit der Fondation Opale hat Lüthi den perfekten Partner für sein künstlerisches Finale gefunden. Denn die 2018 von Bérengère Primat gegründete Kunststiftung hat sich dem »Dialog zwischen Kulturen durch die Kunst« verschrieben und vertritt den Anspruch, die »eurozentristische Sicht der Kunst in Frage zu stellen«. Die Fondation ist »europaweit das einzige, der Aborigine-Kunst gewidmete Zentrum für zeitgenössische Kunst« und verfügt mit »mehr als 1.300 Werken von fast 350 Künstler*innen« über »eine der weltweit wichtigsten Sammlungen zeitgenössischer Aborigine-Kunst in Privatbesitz«.
Die Stiftung förderte in den letzten Jahren die Aufbereitung von Lüthis Sammlung (mit Hilfe einer Archivarin) und präsentiert sie in einem 2023 eröffneten Neubau. Die sandbraunen Fassaden des zweistöckigen Quaders sind mit den Motiven des Künstlers Jackie Kurltjunyintja Giles Tjapaltjarri verziert, und über dem Hauptgebäude der Fondation weht die schwarz-rot-gelbe Fahne der Bürgerrechtsbewegung der Aborigines.
Das alles passt zum Werk von Bernhard Lüthi, der 1974/75 erstmals nach Australien reiste und lange Zeit am legendären, rot leuchtenden Berg Uluru im Zentrum des Kontinents verbrachte. Dort lernte er Aborigines kennen. Seine Erfahrungen von dieser Reise verarbeitete er 1978 in einer Installation mit dem Titel »Australia – Continent of Lost Dreams«. Seitdem hat Lüthi mehr als sechs Jahre in Australien verbracht und dort nicht nur als Berater für Kulturorganisationen der Aborigines gearbeitet, sondern sich auch intensiv mit der australischen Kolonialgeschichte auseinandergesetzt. Es ist eine Geschichte von Landraub, Verfolgung, Diskriminierung und Dehumanisierung bis hin zur Geschichte eines Völkermords, deren Folgen bis heute nachwirken und sich in den Werken zeitgenössischer Aborigines-Künstler*innen widerspiegeln.
Kolonialgeschichte der Aborigines in Australien
Ausgangspunkt für die Vertreibung der Indigenen Bevölkerung von ihrem Land war die von den britischen Invasoren postulierte Behauptung, Australien sei bei der Landung Captain Cooks im Jahr 1770 eine »Terra Nullius« gewesen: ein unbewohntes Land, auf das die europäischen »Entdecker« Besitzansprüche stellen könnten, weil sie die britische Flagge an der Ostküste des Kontinents hissten.
Der Historiker Al Grasby schreibt dazu: »Über 200 Jahre lang basierte die Geschichte Australiens auf der Lüge, dass in diesem Land keine Menschen lebten, als die britische Invasion 1788 mit der Ankunft einer erste Flotte von aus England verbannten Häftlingen begann. Dabei ist heute allgemein anerkannt, dass damals eine Million Aborigines in Australien lebten. Sie stellten noch bis 1850 die Mehrheit der australischen Bevölkerung. Aber wenn man dies anerkannt hätte, hätte man auch Erklärungen dafür liefern müssen, warum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts nur noch fünfzig- bis sechzigtausend Aborigines übriggeblieben waren.«
Die europäischen Invasoren machten Jagd auf Aborigines wie auf Tiere. Die Briten vergifteten Wasserstellen, verteilten Mehl, das mit Zement vermischt war und Wolldecken, die mit Krankheits-Bakterien infiziert waren, um die Indigene Bevölkerung auszurotten. Vielerorts kämpften Aborigines in Guerilla-Manier gegen die weißen Eindringlinge, aber mit ihren Speeren hatten sie gegen die Gewehre der Weißen keine Chance.
Als sich die zunächst sechs britischen Kolonien in Australien im Jahr 1901 zu einem Bundesstaat zusammenschlossen, schrieben sie in ihre Verfassung, dass Aborigines bei Volkszählungen nicht als Staatsbürger*innen mitzuzählen seien. Das Wahlrecht erhielten sie ebenfalls nicht. Sie wurden kaserniert und von ‚Protektoren‘ bewacht, die jeden ihrer Schritte kontrollierten.
Ab 1937 war die Zwangsadoption von Aboriginal Kindern offizielle Politik in Australien. Die Regierung ging davon aus, dass die ‚Vollblut-Eingeborenen‘ von selbst aussterben würden und verfolgte das Ziel, ‚Mischlingskinder‘ von der weißen Gesellschaft absorbieren zu lassen. Bis in die 1960er-Jahre wurde schätzungsweise jedes sechste Aboriginal Kind zwangsadoptiert und musste fern von seiner Familie aufwachsen. Zuständig für die Aborigines waren die Behörden »für Flora und Fauna« der Bundesstaaten.
Ein Wandel kam nur langsam voran. 1967 erhielten Aborigines das Wahlrecht in dem Land, das ihre Vorfahren schon seit mehr als 65.000 Jahren bewohnt hatten. In den 1970er-Jahren begannen Aborigines damit, Dienstleistungen, die ihnen von der australischen Regierung vorenthalten wurden, in Eigeninitiative aufzubauen. So entstanden spezielle Rechtshilfe- und Drogenberatungsstellen, Wohnungs- und Jobvermittlungen, Kindergärten, Zeitungen und Radios, Filmgruppen, Theater und Kulturzentren, Kollektive von Künstler*innen und Galerien.
Die erste Aboriginal Organisation dieser Art war ein selbstverwaltetes Gesundheitszentrum im Schwarzen-Viertel Redfern in Sydney. Gary Foley, erster Direktor dieses »Aboriginal Health Service«, beschrieb die gesundheitlichen Folgen der Kolonisierung damals so: »Ein erwachsener Aboriginal Mann hat in diesem Bundesstaat, New South Wales, eine Lebenserwartung von 42 Jahren im Vergleich zu 70 Jahren für einen Weißen.«
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Die Entdeckung der Indigenen Wirklichkeit
Ab Ende der 1970er-Jahre unterrichtete Bernhard Lüthi an der Düsseldorfer Kunstakademie. 1984 lud er Foley, inzwischen Direktor des »Aboriginal and Torres Strait Islander Arts Board«, dorthin ein. Dieser löste einen fulminanten Skandal aus, als er die Rede eines Philosophie-Professors über Rationalität und Mythologie mit der Bemerkung unterbrach, er sei »nicht um die halbe Welt gereist, um sich hier denselben Blödsinn anhören zu müssen« wie in Australien.
Für Bernhard Lüthi blieb Foley einer seiner wichtigsten Kooperationspartner in Australien. 1984 und 1985 arbeitete Lüthi in Sydney als Gast-Kurator des Aboriginal Art Boards eng mit Foley zusammen. Da schon damals niemand in Europa die Kunstszene der Aborigines besser kannte als Lüthi, wurde er 1989 gebeten, den Australien-Teil der legendären Ausstellung »Magiciens de la Terre« in Paris zu kuratieren. Es war die erste große Präsentation außereuropäischer und Indigener zeitgenössische Kunst in Paris, präsentiert im Centre Pompidou und in der Grande Halle de la Villette. Lüthi lud dazu sechs Künstler der Yuendumu Community aus Zentralaustralien ein, in der ehemaligen Markthalle von Villette ein großes Bodengemälde zu kreieren, dem er mit dem »Red Earth Circle« ein großes kreisförmiges Gemälde des Briten Richard Long gegenüberstellte.
Die Geschichte vom Landraub spiegelt sich in der Aborigines-Kunst wider
Die gleichberechtigte Präsentation von Indigener und westlicher zeitgenössischer Kunst in Paris war bahnbrechend und bereitete auch Kurator*innen wie dem Nigerianer Okwui Enwezor den Weg, der 2001 in der Ausstellung »Short Century« in München Kunstwerke zeigte, die afrikanische Befreiungskämpfe reflektierten. Im Jahr 2002 kuratierte er als erster Nicht-Europäer die Documenta 11 und lud dazu zahlreiche zeitgenössische Künstler*innen aus dem Globalen Süden ein.
Bernhard Lüthi organisierte schon 1993/94 in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen die spektakuläre Ausstellung »ARATJARA – Kunst der ersten Australier«. Mit 150 Werken von 100 Künstler*innen war es die bis dahin umfangreichste Präsentation traditioneller und zeitgenössischer Werke von Aborigines und Torres Strait Insulaner*innen. Lüthi hatte dafür acht Jahre lang gearbeitet – in enger Kooperation mit dem Aboriginal Arts Board unter Foley und zahlreichen Indigenen Kulturschaffenden in Australien. Die Ausstellung hatte 255.000 Besucher*innen und wurde anschließend auch in London und Kopenhagen gezeigt. Im Katalog schrieb Lüthi: »Die Ausgrenzung der zeitgenössischen Schwarz-australischen Kunst aus den Museen der Moderne ist symptomatisch für unseren Ausstellungsbetrieb, der selbstdefinierte, geographisch und inhaltlich enge Grenzen dogmatisch überwacht und aktuelle Entwicklungen jenseits der ‚Tradition‘ beharrlich ignoriert.«
Boom auf dem Kunstmarkt
Um dem zu begegnen organisierte Lüthi 2005/2006 auch die erste Einzelausstellung von John Mawurndjul, einem bedeutenden Vertreter der Rindenmalerei. Erst über zehn Jahre später wurde ihm auch in Australien eine Ausstellung gewidmet. Lüthi zeigte seine mit feinen Pinselstrichen gemalten Bilder und Skulpturen von mythischen Tieren und Ahnenwesen im Museum Tinguely in Basel und danach im Sprengel-Museum in Hannover. Die Ausstellung trug den Titel »rarrk«. So wird im nordaustralischen Arnhemland, aus dem Mawurndjul stammt, die Schraffur-Maltechnik genannt, die er nutzt. Zum Katalog steuerte Lüthi zusammen mit seiner Lebensgefährtin Erika Koch einen Foto-Essay über die tropische Outback-Landschaft bei.
Auch dieser Katalog enthält einen Beitrag von Gary Foley über »die unvermeidliche Kollision zwischen Politik und Kunst«. Darin konstatiert er, dass das »etwas verächtlichem Desinteresse« an Indigener Kunst inzwischen einer »millionenschweren Industrie« gewichen sei: »Die Aborigines machen zwar nur 1,7 Prozent der australischen Bevölkerung aus, aber sie stellen mindestens 25 Prozent, wenn nicht gar bis zu 50 Prozent, der visuellen Künstler im Land, erarbeiten mehr als die Hälfte des Gesamtwerts der australischen Kunstproduktion und dominieren den Exportmarkt für Kunst. Insgesamt erwirtschaftet die Kunstindustrie der Aborigines in Australien mehr als 200 Millionen Dollar pro Jahr. (...) Die traurige Kehrseite davon ist, dass die eigentlichen Schöpfer und Hüter der Kunstwerke wenig davon haben und weiterhin derart ausgebeutet und marginalisiert werden, dass lediglich knapp ein Prozent der erwirtschafteten Millionen zurück an die Künstler und ihre Gemeinschaften fließt.«
Für Foley war die kuratorische Arbeit von Bernhard Lüthi »wegweisend«, weil er Aborigine-Kunst in »modernen europäischen Kunstmuseen« zeigte, statt in »verstaubten ethnologischen Sammlungen«. Er schrieb dazu: »Gemessen an den Besucherzahlen war die ARATJARA-Ausstellung die erfolgreichste australische Kunstausstellung, die jemals außerhalb des Kontinents gezeigt wurde«. Aber Foley wies auch darauf hin, dass der Einfluss, den Aborigines sich in den 1980er-Jahren auf Kultur-Institutionen erkämpft hatten, von späteren Regierungen zunehmend zurückgedrängt wurde, weshalb er selbst als Direktor des Aboriginal Art Boards schließlich kündigte.
»Eine Kunstszene der Aborigines schaffen«
Mit seiner aktuellen Ausstellung im Wallis fordert Lüthi noch einmal zur Auseinandersetzung mit kolonialem und rassistischem Denken und Handeln nicht nur im Kunstbetrieb auf. Und er würdigt seine Mitstreiter*innen. So präsentiert er von dem britischen Land-Art-Künstler Richard Long – umgekehrt zu Paris im Jahr 1989 – einen großen Steinkreis auf dem Boden, während die Bilder von Aborigines diesmal an den Wänden hängen. Neben Gemälden von John Mawurndjul und Fotos von Erika Koch stehen sich in dem großzügigen Ausstellungsraum auch Holzskulpturen von Aboriginal Kriegern mit Speeren und uniformierten Briten gegenüber, die Wally Pwerle geschnitzt hat.
In Lüthis Ausstellung darf auch der für seine Agitprop-Werke international bekannte Richard Bell nicht fehlen. Im Jahr 2022 stellte Bell auf der Documenta 15 großformatige Gemälde aus, die Protestaktionen von Aborigines zeigten und politische Forderungen enthielten wie: »Wir wollen Land, keine Almosen«. Vor dem Fridericianum, dem Hauptgebäude der Documenta in Kassel, baute er zudem ein großes Zelt auf, in dem Filme über die Bürgerrechtsbewegung der Aborigines liefen. Damit wollte er an die »Aboriginal Tent Embassy« erinnern, die vier Aktivisten am 26. Januar 1972 vor dem australischen Parlamentsgebäude in Canberra aufbauten. Fünf Jahrzehnte später steht die Zelt-Botschaft noch immer in Canberra als dauerhaftes Protestsymbol. Richard Bell hat Kopien davon in Moskau, Jakarta, Amsterdam, New York, Sydney, Venedig, Mailand und Melbourne aufgebaut. In der Fondation Opale ist ein Bild von Bell mit dem Titel »Aesthetic Equal Rights« zu sehen. Es besteht aus zahllosen kleinen bunten Punkten und erinnert an traditionelle Maltechniken von Aborigines. Aber durch das bunte Farbenmeer scheint – wie ein verborgenes Wasserzeichen – der Gleichheitsgrundsatz: »I see you as my equal«.
Daneben läuft ein Video in Dauerschleife, in dem Richard Bell in einer fulminanten Rede beklagt, dass es bis heute keine von Aborigines kontrollierte Kunstindustrie gibt. Aboriginal Kunst sei zur »Ware« verkommen, an deren Vertrieb sich Weiße bereicherten. Sie würde missbraucht, um »den Tourismus anzukurbeln«, wobei der Verweis auf die »Spiritualität« der Künstler*innen »verkaufsfördernd« sei.
Letztlich – so Bell – habe sich seit dem »juristischen Lügengebilde der Terra Nullius« wenig geändert. Zwar habe der oberste australische Gerichtshof 1992 die Fiktion einer Terra Nullius aufgehoben, allerdings nur, um eine neue Fiktion von einer angeblich »stillschweigenden Abtretung« des Lands (»implied cession«) an die europäischen Eroberer zu erfinden.
Die von Bell beschriebene Ignoranz zeigte sich einmal mehr, als am 14. Oktober 2023 in Australien in einem Referendum über einen Änderungsvorschlag für die Verfassung abgestimmt wurde, wonach Vertreter*innen der Aborigines zukünftig bei allen sie betreffenden Fragen von Parlament und Regierung angehört werden sollten. Die Verfassungsänderung wurde von 60 Prozent der Australier*innen abgelehnt.
Bell’s Video-Anklage endet mit der Aufforderung, »eine Kunstszene der Aborigines zu schaffen, die unabhängig vom westlichen Kunstbetrieb agiert, aber als gleichwertig angesehen wird und über ihre Ästhetik, ihre Ausdrucksformen und ihre Infrastruktur selbst bestimmt.«
Aboriginal Kunst auf der Venedig Biennale
Diese Ansprüche setzte Bernhard Lüthi in seiner kuratorischen Arbeit praktisch um. Wenn heute Aborigines Künstler*innen in europäischen Museen für moderne Kunst vertreten sind, zur Documenta eingeladen werden, und in großen Einzelausstellungen präsentiert werden, dann ist das nicht zuletzt Lüthis Engagement zu verdanken.
Deshalb wirkt es wie eine passende Würdigung für ihn, dass in dem Jahr, in dem er sich mit der Ausstellung im Wallis aus dem Kunstbetrieb verabschiedet, mit Archie Moore ein Aborigine Künstler bei der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Moore ist in Lüthis Ausstellung mit der Installation eines Schiffsmasts mit querhängender Rahe vertreten, die unweigerlich an ein Kreuz erinnert und damit an das Zusammenspiel von imperialem Staat und Kirche bei der Eroberung Australiens.
Australische Aboriginal Kunst sei zur Ware verkommen
In Venedig hat Moore die Innenwände des australischen Pavillons rundherum schwarz angemalt und darauf in monatelanger Arbeit seinen Stammbaum über 65.000 Jahre mit Kreide geschrieben. Er enthält Tausende von Namen von »kith and kin«, Freunden und Verwandten. Daneben wirken die wenigen Generationen der Weißen in Australien seit der Invasion von 1788 in der Terminologie seines Künstlerkollegen Richard Bell wie »little shit«.
In der Mitte des australischen Pavillons hat Moore zudem ein weißes Podest aufgebaut, das von Wasser umgeben ist. Darauf liegen Hunderte Aktenstapel. Es sind Untersuchungsberichte über 557 ungeklärte Todesfälle von Aborigines, die seit 1991 in australischen Gefängnissen umgekommen sind. »Wir stellen 3,8 Prozent der Bevölkerung, aber 33 Prozent der Gefängnisinsassen«, erklärte Moore der Zeitung Guardian. »Aborigines werden schon für triviale Vergehen inhaftiert, wie für das Hinterlassen von Abfällen oder das Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit. Ich weiß nicht, was die Leute in Europa über die Lage der Aborigines und ihre Kunst wissen, aber vielleicht kann ich mit meiner Arbeit dazu beitragen, ihnen etwas davon zu vermitteln.« Dafür, dass dies heutzutage möglich ist, hat Bernhard Lüthi über 50 Jahre lang gekämpft.