Nyein Chan May von German Solidarity with Myanmar Democracy über den Widerstand gegen die Militärjunta mit Blick auf die Wehrpflicht.
Nyein Chan May | Foto: James M.

»Junge Menschen haben Angst, zwangs­rekrutiert zu werden«

Interview über den Wider­stand gegen die Militär­junta in Myanmar

Auch drei Jahre nach dem Putsch in Myanmar gibt es weiterhin eine starke Opposition gegen die Militärjunta. Anfang Februar erließ das Regime ein neues Gesetz über die Wehrpflicht. Darüber was das für den Widerstand bedeutet sprachen wir mit Nyein Chan May, Mitbegründerin und Vorstandsmitglied des Vereins German Solidarity with Myanmar.

Das Interview führten Annalena Eble und Julia Reiff

02.03.2024

iz3w: Wie ist die Stimmung derzeit in der Bevölkerung mit Blick auf die Wehrpflicht?

Nyein Chan May: Eigentlich ist das Gesetz zur Wehrpflicht nichts Neues. Es wurde bereits 2010 von dem ehemaligen Militärregime beschlossen, ist aber nie in Kraft getreten. Jetzt hat die derzeitige Militärjunta am 10. Februar offiziell angekündigt, es umzusetzen. Das hat vor allem junge Leute in Unruhe versetzt. Sie haben große Angst, zwangsrekrutiert zu werden. Schon vor dieser Ankündigung gab es Entführungen und Festnahmen, um Menschen für das Militär zu rekrutieren. Die Militärs haben Leute auf offener Straße festgenommen, eingesperrt oder Bestechungsgeld verlangt. Junge Menschen haben große Angst davor. Wenn sie zwangsrekrutiert werden, dann werden sie als Kanonenfutter eingesetzt oder müssen gegen die Widerstandskämpfer*innen kämpfen. Das wollen sie nicht. Die Widerstandsgruppen versuchen gerade, die Lage etwas zu beruhigen.

Bis vor einem Monat war die Militärdiktatur in der Defensive: Soldat*innen liefen zur Widerstandsbewegung über und diese konnte wichtige Territorien gewinnen. Doch nach der angekündigten Wehrpflicht fliehen jetzt Tausende. Wenden sich die Verhältnisse wieder zugunsten des Regimes?

Ich denke nicht, dass die Kräfteverhältnisse dadurch kippen, denn der Widerstandswille gegen die Militärjunta besteht fort. Die Frage ist, warum die Militärjunta jetzt diese Wehrpflicht einsetzt. Das kann auch als ein Zeichen der Verzweiflung betrachtet werden. Wir können das auch im Zusammenhang mit der Operation 1027 sehen. Diese Offensive gegen die Junta seitens der Bruderallianz, einem Bündnis aus drei bewaffneten ethnischen Gruppen, begann im Oktober letzten Jahres. Sie verzeichnete wichtige Erfolge und viele dachten, dass das Militär durch die Offensive 1027 gestürzt werden könnte. In den letzten drei Monaten war die Stimmung deswegen sehr optimistisch. Das Wehrpflichtgesetz ist entsprechend ein schwerer Rückschlag. Es stellt viele vor eine schwere Wahl: Zwangsrekrutierung, Widerstand oder Exil?

Der Widerstands­wille gegen die Militär­junta ist nach wie vor da

Wie reagieren Nachbarländer wie Thailand auf die große Fluchtbewegung, nachdem das Gesetz erlassen wurde?

Der thailändische Premierminister hat angekündigt, dass myanmarische Staatsbürger*innen, die illegal nach Thailand einreisen, mit rechtlichen Konsequenzen rechnen müssen. Er sagte aber auch, dass Menschen mit offiziellem Visum herzlich willkommen seien; und dass Thailand Arbeitskräfte bräuchte. Viele in Myanmar besitzen aber keinen Reisepass und müssen diesen erst beantragen. Es kursieren Videos, wie Tausende dafür in langen Warteschlangen stehen. Bei einer Massenpanik vor zwei Wochen sind sogar zwei Frauen ums Leben gekommen. Die thailändische Botschaft in Yangon hat zudem angekündigt, dass nur noch 400 Visumsanträge pro Tag akzeptiert werden. Allein in den letzten drei Wochen seit der Ankündigung des Wehrpflichtgesetzes wurden mehr als 7.000 Anträge gestellt.

Kann man in Myanmar von einer geschlossenen Bewegung gegen die Junta sprechen?

Man kann den bewaffneten und zivilen Widerstand als eine gemeinsame Bewegung bezeichnen. Klar, es gibt den bewaffneten Kampf, aber die Kämpfe werden auf mehreren Ebenen geführt. Deswegen sage ich auch immer, der Widerstand in Myanmar ist vielfältig und intersektional: Alle ethnischen Gruppen, alle Altersklassen mit verschiedenen gesellschaftlichen Hintergründen und Menschen aus marginalisierten Gruppen kommen da zusammen. Auch in den gefährlichen Metropolregionen Myanmars leisten die Menschen noch Widerstand, indem sie zum Beispiel kleinere Demonstrationen oder Protestaktionen organisieren. Sie zeigen der Bevölkerung: Solange das Militär an der Macht ist, wird es keine Normalität geben.

Ein Beispiel dafür war jetzt am 1. Februar, dem dritten Jahrestag des Militärputsches, zu sehen: Die zivilen Widerstandsgruppen riefen einen sogenannten stillen Streik aus. Die Menschen blieben von 10 bis 16 Uhr einfach zu Hause, auf den Straßen hat man niemanden mehr gesehen. Der Widerstand ist noch da. Aber das Gesetz hatte eine Schockwirkung auf die Bevölkerung, deshalb ist der Widerstand im Moment nicht so sichtbar. Leider ist es so, dass wenn über Myanmar geredet wird, es meistens um den bewaffneten Widerstand geht. Dabei vergisst man viele andere Punkte wie etwa die Beteiligung von vielen Frauen oder marginalisierten Gruppen.

»Wir Frauen lassen uns nicht von der Junta unterdrücken«

Wie genau sieht die Beteiligung von Frauen und marginalisierten Gruppen aus?

Die Beteiligung der Frauen im Widerstand ist hoch. Aber Frauen oder marginalisierten Gruppen drohen bei einer Festnahme nicht nur Folter, sondern auch sexualisierte Gewalt und Entmenschlichung bis in den Tod. Sie erleben mehrfache Diskriminierung. Wenn du als Frau in Myanmar sexualisierte Gewalt erfahren hast, wirst du von der Gesellschaft stigmatisiert. Vor zwei Wochen erst wurde die bekannte ehemalige politische Gefangene Noble Aye vom Militär erschossen. Noble wurde 1996 wegen ihrer Beteiligung an den Protesten für die Demokratie zu 42 Jahren Gefängnis verurteilt, kam aber 2005 im Rahmen einer Amnestie frei. 2007 wurde sie erneut festgenommen. Nach ihrer Freilassung schloss sie sich wieder dem jetzigen Widerstand an. Und – das muss ich nochmal sagen – Frauen sind überall. Sie sind an der Front, sie sind Ärzt*innen und Sanitäter*innen, und sie sind Untergrundaktivist*innen in den Metropolregionen. Dort ist es besonders gefährlich, da sie vom Militär vollständig überwacht werden. Aber sie sind mutig genug, um auf die Straßen zu gehen und zu sagen: »Wir Frauen lassen uns nicht von der Junta unterdrücken«.

Die Militärjunta hat mit China und Russland starke Verbündete, die auch Waffen liefern. Auf welche Ressourcen kann die Widerstandsbewegung zurückgreifen?

Es ist das dritte Jahr des Widerstands und die Widerstandsgruppen haben sich immer selbst finanziert. Das heißt, die Bevölkerung unterstützt den Widerstand finanziell. Nicht nur die Diaspora, sondern auch die Menschen im Land selbst. Jeden Tag nimmt das Militär Menschen fest, die den Widerstand finanziell unterstützt haben oder die auf sozialen Medien wie Facebook etwas zu ihrer Unterstützung posten. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal an die internationale Gemeinschaft appellieren und hervorheben, dass autoritäre Staaten wie Russland und China hinter der Militärjunta stehen. Das ist ein Bündnis autoritärer Akteure, das sich zusammenschließt. Demgegenüber fühlen wir uns von den demokratischen Staaten dieser Welt ignoriert und ungehört.

Nach dem Militärputsch 2021 formierte sich die weggeputschte demokratisch gewählte Partei National League of Democracy mit verschiedenen Minderheitsgruppen zu einer Schattenregierung, der National Unity Government (NUG). Sie versucht, internationale diplomatische Beziehungen aufzubauen. Gelingt ihr das?

Die Schattenregierung (NUG) kämpft darum, mehr territoriale Kontrolle zu erlangen. Zum anderen versucht sie, mit unterschiedlichen ethnischen Gruppen lokale Infrastrukturen aufzubauen. Das sind zum Beispiel Schulen, gesundheitliche Infrastruktur oder lokale Regierungsstrukturen. Der Rückhalt in der Bevölkerung für diese Regierung ist hoch, viele Menschen zeigen ihre Unterstützung für die NUG. Das ist unheimlich mutig, weil die Militärjunta so repressiv ist. Die Menschen sagen: »Die NUG ist unsere legitim gewählte Regierung und die Junta darf uns nicht auf internationaler Bühne vertreten.«

Die internationale Gemeinschaft zögert jedoch, die Demokratiebewegung Myanmars zu unterstützen. Man fragt sich, wie einheitlich die NUG mit ihren diversen Gruppen ist? Man macht sich Sorgen um Fragmentierung. Myanmar ist ein Land, das sieben Jahrzehnte lang von einem Bürgerkrieg zerrissen wurde und jahrzehntelang der Propaganda der Militärjunta ausgesetzt war. Die ganze Problematik von Fragmentierung und Föderalismus in drei Jahren zu lösen, ist eine zu hohe Erwartung. Es entspräche der Vorstellung, Rom an einem Tag zu bauen. Es ist wichtig, weiter zu blicken und Fortschritte anzuerkennen. In den drei Jahren des Widerstands haben die unterschiedlichsten Widerstandsgruppen größtenteils konstruktiv zusammengearbeitet. Sie gehen respektvoll miteinander um und versuchen, eine föderale Demokratie aufzubauen.

Was kann die internationale Gemeinschaft tun?

Die internationale Gemeinschaft sollte nicht abwarten, bis alle Gruppen in Myanmar vereint sind, um den Demokratiebewegungen zu helfen. Das heißt zum Beispiel, die Versuche des Aufbaus föderaler Strukturen zu unterstützen.

Deutschland ist dabei zurückhaltend, aber es hat einen bemerkenswerten Schritt unternommen. Vor zwei Jahren hat Deutschland das Visum des Militärattaché Myanmars nicht mehr verlängert und er musste Deutschland verlassen. Aber Deutschland kann mehr tun. Das Minimum sollte sein, dass die EU und Deutschland auf allen Ebenen keine Vertreter*innen der Militärjunta mehr einladen. Es müssen mehr Anstrengungen unternommen werden, um die Junta für ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu bringen. Außerdem müssen die Visa- und Zufluchtsbedingungen für Menschenrechtsverteidiger*innen erleichtert werden.

Eine andere Frage ist die der humanitären Hilfe und Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Myanmar. Wie humanitäre Hilfe aussehen kann, muss überdacht werden. Humanitäre Hilfe sollte nicht über die Militärjunta laufen, sondern über zivilgesellschaftliche Organisationen. Von denen gibt es trotz der Gefahren und Repressionen vor Ort immer noch viele. Und da muss man die bürokratischen Hürden dementsprechend anpassen.

Nyein Chan May ist eine studentische Aktivistin, intersektionale Feministin, Co-Founderin und Vorstandsmitglied des Vereins German Solidarity with Myanmar Democracy. Sie ist Sprecherin bei öffentlichen Veranstaltungen im Auswärtigen Amt und im Europäischen Parlament und berichtet über aktuelle Geschehnisse in Myanmar. In Myanmar ist sie eine der Mitbegründer*innen der Studentenunionen und Podcasterin über intersektionalen Feminismus.

Das Interview führten Annalena Eble und Julia Reiff.

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