Buchcover »Natürlich kann man hier nicht leben« mit verwaschenem Druck-Bild eines Paares

Coming of Age im Auto­rita­rismus

Rezensiert von Patrick Helber

17.10.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 399

In ihrem Debütroman Natürlich kann man hier nicht leben erzählt Özge İnan berührend und zugleich unaufgeregt, wie Selim, Ozan und Hülya in der Türkei der 1980er-Jahre aufwachsen. Die Protagonist*innen werden in einer Zeit der politischen Widrigkeiten – während der Militärdiktatur und des Kriegs gegen die Kurd*innen im Osten – politisch links sozialisiert. Sie sind sensibel und vielschichtig entworfen. Es geht um Idealismus, Solidarität und Freundschaft, aber auch um Opportunismus, Verrat und Enttäuschung: »Durchkommen war eine dieser wunderbaren Eigenschaften der Menschen, von denen sie alles gelernt hatte, woran sie glaubte.«

Selim und Ozan hängen während ihrer Schulzeit in Izmir heimlich Plakate für die Kommunistische Partei auf, kämpfen gegen türkische Nationalisten und versuchen der omnipräsenten staatlichen Repression durch Polizei und Militär zu entkommen. Ständig sind ihre Weggefährt*innen von Gewalt bedroht, müssen untertauchen oder werden wegen Nichtigkeiten für »Beihilfe zur Terrorpropaganda« inhaftiert. Durch die Figur der ehrgeizigen und kritischen Medizinstudentin Hülya thematisiert İnan immer auch die Geschlechterfrage in linken politischen Kämpfen: »[Ich habe] angefangen, zuzuschauen und zuzuhören, und habe gesehen, dass sämtliche Zügel dieses Landes in den Händen der dämlichsten und langweiligsten Männer liegen, die man sich vorstellen kann, die keine zwei Sätze aneinanderreihen könnten, selbst wenn ihr Leben davon abhinge.«

»Da entsteht gerade etwas. Ich weiß das.«

Die Erzählung von Gewalt und den Verhaftungswellen gegen die jungen Aktivist*innen in der Zeit nach dem Militärputsch in den 1980er-Jahren verweist immer auch auf die Türkei der Gegenwart und den Repressionsapparat der regierenden AKP. Spätestens seit den Gezi-Protesten 2013 und dem gescheiterten Militärputsch 2016 gegen Recep Tayyip Erdoğan soll dieser Apparat politischen Aktivismus und Regierungskritik zum Schweigen bringen. Die jüngste Vergangenheit der Türkei bildet deshalb auch den Rahmen, in den die Autorin die Coming-of-Age-Geschichte von Selim, Ozan und Hülya einbettet.

Ausgangs- aber auch Endpunkt ist Berlin, wo Hülya und Selim, die letztlich aus der Türkei fliehen mussten, mit ihrer Familie leben. 2013 blickt dort ihre 16-jährige Tochter Nilay gebannt auf die Fernsehbilder der Proteste am Taksim-Platz in Istanbul: »Da entsteht gerade etwas. Ich weiß das. Seit ich denken kann, ist da derselbe Typ an der Macht, und jetzt könnte er endlich gestürzt werden. Ist das nicht aufregend? Aber damit das klappt, reichen die Leute nicht, die schon immer da waren. Es wird eine ganz neue Türkei, etwas, besser als alles, was wir kennen. Und ich könnte dazu beitragen.«  

Özge İnan: Natürlich kann man hier nicht leben. Piper, München 2023. 240 Seiten, 24 Euro.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 399 Heft bestellen
Unsere Inhalte sind werbefrei!

Wir machen seit Jahrzehnten unabhängigen Journalismus, kollektiv und kritisch. Unsere Autor*innen schreiben ohne Honorar. Hauptamtliche Redaktion, Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit halten den Laden am Laufen.

iz3w unterstützen