Zwischen Stammheim und Shenzhen
Rezensiert von Christopher Wimmer
11.12.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 400
Mit Erzählung zur Sache präsentiert Stephanie Bart einen fesselnden Roman über die erste Generation der RAF. Vermittelt über die Gedankenwelt der Protagonistin und Angeklagten im Stammheim-Prozess Gudrun Ensslin bietet das Buch eine einzigartige Perspektive auf die physische Entbehrung der RAFGefangenen und ihre psychologischen Innenwelten. Es gelingt Bart dabei, eine unmittelbare Nähe zu den Figuren herzustellen. Die äußere Handlung umfasst den Zeitraum von 1972 bis 1977, vom Anschlag auf die US-Kaserne in Heidelberg bis zur Todesnacht in Stammheim. Die Fülle des Romans entsteht durch die Innenansichten der Protagonistin, die jedoch häufig durch Einschübe anderer Beteiligter – Anwälte, Richter oder Gefängniswärter – unterbrochen werden, was alles eine vielschichtige Betrachtungsweise auf die Haftzeit der RAF-Gefangenen ermöglicht.
Bart beschönigt die Haftbedingungen oder das Stammheim-Verfahren nicht, sondern benennt die Isolation und Folter, der die Gefangenen ausgesetzt waren, wie auch die NSKontinuitäten in der Bundesrepublik. Ausgehend von der Kritik der 1968er-Bewegung an Imperialismus und Kapitalismus beschreibt sie nachvollziehbar, warum junge Menschen gegen das Bestehende rebellieren. Selbst in Isolationshaft geben die RAF-Mitglieder ihren Widerstand nicht auf. Immer wieder bindet Bart dabei Traumsequenzen von Gudrun Ensslin ein, die Einblick in ihr Unterbewusstsein bieten. Sie klingen in Liedtexten aus und stecken damit auch den Soundtrack der Revolte ab.
Selbst in Isolationshaft geben die RAF-Mitglieder ihren Widerstand nicht auf.
Der Roman findet seinen Höhepunkt in der Schilderung eines einzigen Prozesstages, die sich über Hunderte Seiten zieht und für die Bart Prozessprotokolle herangezogen hat. Neben den dabei dokumentierten Rechtsbeugungen und -brüchen der Justiz geht Bart auch ausführlich auf die kollektive Schrift »Erklärung zur Sache« ein, mit der sich die RAF in einem historischen und globalen Widerstand verorten wollte.
Diesen Kontext beschreibt Bart ausführlich, indem sie immer wieder einen »Chor der Geschichte« auftreten lässt und einen thematischen Bogen von der linksradikalen Stadtguerilla bis zu gegenwärtigen Themen wie den Suiziden von Foxconn-Arbeiter*innen in Shenzhen spannt. Stephanie Bart vermag in ihrem Roman somit, was Gudrun Ensslin seit ihrer Verhaftung verwehrt wurde: im Zusammenhang denken und schreiben. Das Buch verdeutlicht, dass Widerstand nur im historischen Zusammenhang und im kollektiven Handeln möglich ist. »Erzählung zur Sache« ist eine beeindruckende Leistung von Stephanie Bart, die im Kontext der RAF-Literatur herausragt.