Klassenkampf statt Selflove
Rezensiert von Marco Stöhr
17.02.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 392
Wenn jede*r an sich denkt, ist an alle gedacht – oder eben auch nicht. Jean-Philippe Kindler dreht in Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf. Eine neue Kapitalismuskritik diese altbekannte Redensart um: »Wenn jeder nur an sich denkt, ist an niemanden gedacht.« Das klingt nach gewohnter Kapitalismuskritik, aber Kindler geht es um etwas Anderes. Er zielt auf individualistische Tendenzen in der Linken, die es verpasst, systemische Veränderungen einzufordern.
Kindler schreibt für eine Repolitisierung des guten Lebens
Der Kern seiner Analyse: Es mangelt an einer Perspektive, die das Wohl des Einzelnen in Relation setzt zum Wohl der Allgemeinheit. Stattdessen herrsche eine Obsession mit dem eigenen Selbst, wodurch die Linke ihr eigentliches Ziel, den Kampf gegen eine ausbeuterische Klassengesellschaft, aus den Augen verliere. Linke Forderungen nach Quoten in Führungsebenen mögen für individuelle Lebensläufe vorteilhaft sein. Für Kindler handelt es sich hierbei jedoch um einen vergifteten Kompromiss, der allein dazu führe, dass die Kreise derer, die von den ausbeuterischen Verhältnissen profitieren, diverser werden. Er trifft einen Punkt, wenn er kritisiert, dass für die alleinerziehende Mutter mit Migrationshintergrund und drei Jobs im Mindestlohnsektor wenig gewonnen ist, wenn sie nun die Wohnung einer Schwarzen Vorstandsvorsitzenden putzt statt eines weißen Vorstandsvorsitzenden. Das System der Ausbeutung bleibt in seinem Kern erhalten.
Statt individueller Läuterung brauche es systemische Veränderungen. Kindler schreibt für eine Repolitisierung des guten Lebens, denn psychische Erkrankungen, Klimakrise und Armut sind als Ergebnisse gesellschaftlicher Verhältnisse zu sehen. Keines davon kann auf individueller Ebene gelöst werden – psychische Erkrankungen nicht durch Glück-Coaches und Selflove-Postulate, die Klimakrise nicht durch individuelle Askese und Armut nicht durch das Engagement Bessergestellter in Tafeln. Vielmehr, so Kindler, muss die Linke einen Weg finden, das System, das diese Probleme konstituiert, zu bekämpfen.
Kindler schafft es mit seinem Text, zugespitzt und in Teilen ironisch an das große Ganze zu erinnern, ohne dabei im Wagenknecht‘schen Stil Repräsentation und Diversität an sich in Frage zu stellen. Dass Kindler Anklang findet, scheint zumindest aufgrund der Zielgruppe wahrscheinlich – schließlich versucht er nicht, Neoliberale von Kapitalismuskritik zu überzeugen, sondern Linke an Kapitalismuskritik zu erinnern.