Buchcover Oliver Schulten: A Humanitarian Assessment of Africa and the First World War 1900 – 1932.

Afrika im Ersten Welt­krieg

Rezensiert von Karl Rössel

17.02.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 392

Auf 645 Seiten legt Oliver Schulten ein Mammutwerk über die humanitären Folgen des Ersten Weltkriegs für Afrika vor. Wie Anne Samson, eine südafrikanische Historikerin und Koordinatorin der Forschungsverbindung Great War in Africa Association, im Vorwort schreibt, ist das Buch das Ergebnis einer jahrzehntelangen Sammlung und Auswertung von Sekundärliteratur zum Ersten Weltkrieg. Tatsächlich bietet es zahllose, bislang kaum beachtete Informationen über eine der folgenschwersten Epochen in der Geschichte des afrikanischen Kontinents. Wer weiß schon, dass der Erste Weltkrieg in Afrika schätzungsweise vier Millionen Opfer forderte, und dass die Kolonialmächte 2,35 Millionen Afrikaner*innen für Kriegseinsätze rekrutierten, 750.000 davon für Fronteinsätze in Europa, bei denen jeder Zehnte umkam? Allein Frankreich rekrutierte in seinem weltweiten Kolonialreich außerdem bis zu 220.000 Zwangsarbeiter*innen, von denen 135.000 in französischen (Rüstungs-)Fabriken schuften mussten.

Die afrikanischen Kolonien lieferten kriegswichtige Rohstoffe für die Waffenproduktion wie Eisenerze, Nickel, Phosphat und Öl sowie Nahrungsmittel für die Truppen. Die Folgen vor Ort waren Hungersnöte sowie die Zerstörung und Entvölkerung ganzer Regionen. Bis 1918 blieben die Familien der Kolonialsoldaten und Zwangsarbeiter*innen ohne jegliche Unterstützung, und auch nach dem Kriegsende erhielten afrikanische Kriegsheimkehrer von den europäischen Kolonialmächten allenfalls minimale Pensionen – wenn überhaupt. Großbritannien rekrutierte im Ersten Weltkrieg nicht nur eine Million Menschen aus Afrika für Kriegsdienste aller Art, sondern auch 1,5 Millionen aus Indien, von denen 150.000 ebenfalls in Europa zum Einsatz kamen.

Die zahl­losen afrikanischen Opfer blieben namen­los

Auch das Deutsche Reich nutzte im Ersten Weltkrieg in seinem vergleichsweise kleinen Kolonialreich Hunderttausende für militärische und paramilitärische Kriegsdienste. Selbst Kinder im Alter von nur sieben Jahren mussten in den deutschen Kolonien schwerste körperliche Arbeiten beim Bau von Eisenbahnen und Straßen verrichten. In den besonders ausführlichen Länderkapiteln zu den ehemaligen deutschen Kolonien Togo, Kamerun, Südwest- (Namibia) und Ostafrika (Burundi, Ruanda & Tansania) sind viele weitere kaum bekannte Details über deutsche Kolonial- und Kriegsverbrechen gesammelt. So rekrutierten die Deutschen in Togo zum Beispiel Söldner aus Nigeria und Liberia, um den Widerstand gegen ihre Kolonialherrschaft niederzuschlagen. Dabei wurden rebellierende ethnische Gruppen niedergemetzelt und Hunderte ihrer Hütten niedergebrannt. Gefangene wurden ausgepeitscht, Frauen vergewaltigt und Menschen, die unter der Schlafkrankheit litten, in Lager eingewiesen, in denen deutsche Ärzte medizinische Experimente an ihnen durchführten. Viele Togoer*innen liefen deshalb zu den britischen und französischen Truppen über, als diese Anfang August 1914 einmarschierten, weshalb die Deutschen schon nach drei Wochen kapitulieren mussten.

In Kamerun formierten die Deutschen zur Absicherung ihrer Kolonialherrschaft schon 1894 eine ‚Schutztruppe‘, für die sie in Benin Sklaven einkauften, die fünf Jahre lang unbezahlte Söldnerdienste leisten mussten. Aufstände gegen die deutschen Kolonialbehörden wurden brutal niedergeschlagen. Um die Bevölkerung einzuschüchtern, wurden Gefangene öffentlich gehenkt sowie Dörfer und Felder zerstört. Nach der Niederschlagung einer Rebellion der Mbidambane mussten diese »600 Arbeiter ausliefern, um die deutschen Kriegskosten zu decken«.

Als der Erste Weltkrieg begann, stockten die Deutschen die ‚Schutztruppe‘ auf 10.000 Mann auf. Bis zur deutschen Niederlage im Jahr 1916 kämpften 150.000 Kameruner gegen Kolonialsoldaten unter französischem, britischem und belgischem Kommando – Afrikaner gegen Afrikaner. Gelohnt hat es ihnen niemand. Auf den Kriegsgräberstätten in Kamerun sind bis heute nur die Namen der gefallenen deutschen Offiziere auf Grabsteinen zu lesen. Die zahllosen afrikanischen Opfer blieben namenlos.

Allein für Deutsch-Ostafrika sollen neben Zehntausenden Soldaten auch 350.000 Träger und 500.000 Zivilist*innen im Ersten Weltkrieg umgekommen sein, wobei Oliver Schulten selbst mehrfach auf die mangelhafte und oft widersprüchliche Quellenlage verweist, da die Opfer der Kolonisierten nicht systematisch registriert wurden.

Trotzdem bietet sein Buch eine Fülle von erschütternden, wenig bekannten historischen Fakten und ist deshalb allen zu empfehlen, die sich für die Geschichte Afrikas interessieren. Bedauerlich ist nur, dass es bislang nur in englischer Sprache vorliegt. Es bleibt zu hoffen, dass das umfangreiche Standardwerk irgendwann auch in deutscher Sprache erscheint, damit es in dem Land größere Verbreitung findet, das für den Ersten Weltkrieg und seine Folgen in Afrika die Hauptverantwortung trägt. Das Buch ist digital erhältlich über die Homepage der Great War in Africa Association.

Oliver Schulten: A Humanitarian Assessment of Africa and the First World War 1900 – 1932. Lead up, Progress, Aftermath. GWAA/TSL Publications, Rickmansworth 2023. 645 Seiten, ca. 35 Pfund.

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