
Venezuela im Film – ¡Qué chévere!
Das venezolanische Kino als Seismograph der Gesellschaft
Der venezolanische Film war in den deutschsprachigen Kinosälen lange ein unbeschriebenes Blatt. Lediglich Filme von Diego Rísquez (1949-2018) oder Luis Alberto Lamata wurden im Rahmen des Internationalen Forums der Berlinale gezeigt. Vor allem der indigene Film ist unterrepräsentiert. Das venezolanische Filmfestival will das ändern.
Die Besonderheit des Films als Kunstform liegt darin, dass ästhetisch überhöhte und fiktive Elemente dazu beitragen können, Zusammenhänge klarer zu sehen, wie es der Filmregisseur Luis Alberto Lamata, in Bezug auf Film und Geschichte, stets betont. Das seit 2005 stattfindende Festival Venezuela im Film – Qué chévere (ViF) hat sich von Beginn an das Ziel gesetzt, dem hiesigen Publikum das südamerikanische Land über die unterschiedlichen kinematographischen Ansätze (was wird wie erzählt) näherzubringen. Sei es von der Historie oder Gegenwart heraus, über einen Spielfilm oder Dokumentarfilm, der Komödie oder dem Drama. War es bis vor etwa acht Jahren noch eine Seltenheit, einen venezolanischen Film in Koproduktion aus einem anderen Land zu zeigen, so gehört das mittlerweile zum Standard vieler Filme. Viele Cineast*innen leben und arbeiten in der Diaspora. Welche Themen werden in den neuen Produktionen verhandelt, die dieses Jahr im Fokus der Filmschau stehen?
Junge Protagonist*innen
Kinder oder Jugendliche als Protagonist*innen ist zu einem der Merkmale des venezolanischen Spielfilms geworden. Galt der Debütfilm »Pequeña revancha« (1985) von Olegario Barrera noch als eine Besonderheit, so kamen ab den 2000er Jahren eine Vielzahl an Filmen heraus, die Heranwachsende als Protagonist*innen in gesellschaftskritischen Dramen von zumeist aktuellen Themen einsetzten, wie etwa »Huelepega« (1999) von Elia Schneider, »Maroa« (2005) von Solveig Hoogesteijn, »Hermano« (2010) von Marcel Rasquín, »El chico que miente« (2011), von Marité Ugás, »Voy por ti« (2019) von Carmen La Roche oder »Jezabel« (2021) von Hernán Jabes, um nur wenige Filme zu nennen.
Viele Cineast*innen leben und arbeiten in der Diaspora
In dieser Linie steht das Spielfilmdebüt »Mi tía Gilma« (Meine Tante Gilma) von Alejandra Henao, eine mexikanisch-venezolanische Produktion von 2023. In dem Drama verbindet die junge Filmemacherin neben häuslicher und öffentlicher Gewalt sowie wirtschaftlicher Not auch das Thema der geographischen (und sozialen) Zerrissenheit. Der Film wurde 2019 in Caracas gedreht und stand somit im Zeichen der massiven Auswanderungswellen und Straßenproteste in den Städten. Nach den Parlamentswahlen im Dezember 2018 proklamierte sich der oppositionelle Juan Guaidó (Voluntad Popular) zum kommissarischen Präsidenten, dem sich die Regierung um den Präsidenten Nicolás Maduro entgegenstellte. Gepaart mit den drakonischen US-amerikanischen Wirtschaftssanktionen und dem Druck des servilen Europas führte dies zu einer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise Venezuelas, die eine massive Auswanderung vieler Venezolaner*innen nach Kolumbien und in andere Länder zur Folge hatte. Eingerahmt in dieses sozialpolitische Ambiente spielt sich in einem Krankenhaus eine andere tragische Geschichte ab. Der eigentliche Plot der Geschichte begleitet die 13-jährige Isabel, wie sie ihre Tante Gilma umsorgt, die von ihrem Mann misshandelt wurde. Isabel, deren Mutter nach Frankreich ausgewandert ist, steht bald vor einer Reihe von Herausforderungen. Diese zwingen sie, Entscheidungen zu treffen, die für ihr Alter untypisch sind.
Ähnlich verhält es sich mit dem Dokumentarfilm »Mariposa de papel« (Papierschmetterling) von Rafael Medina Adalfio, einer venezolanisch-US-amerikanischen Produktion von 2023. Im Mittelpunkt dieses poetisch-anmutenden Dokumentarfilms stehen zwei Familien aus La Grita, einem kleinen Dorf in Táchira. Beide Familien bestreiten ihr Leben über Landwirtschaft und sorgen dafür, dass ihre Ernten auf die Wochenmärkte nach Caracas kommen. Obwohl Medina Aldalfio die ferieros auf ihrer fast 34-stündigen Fahrt von den Anden in die Hauptstadt begleitet, steht die neunjährige María im Zentrum der Geschichten. Sie erzählt dem dezent im Hintergrund auftretenden Filmemacher von den Menschen, deren Lebensunterhalt die Landwirtschaft ist. Denn »manchmal haben Kinder einen ehrlicheren Blick auf die Realität, weil sie weniger konditioniert sind«, erzählt Medina Adalfio, der in Frankfurt zu Gast sein wird.* Der in schwarz-weiß gedrehte Film verbindet fließend das mühselige, aber konstante Leben auf dem Land mit den Widrigkeiten und Gefahren auf der Straße sowie der urbanen Dynamik durch das Hin- und Herspringen zwischen Orten und Reiseetappen. Die Komplexität dieser Lebensweise wird dadurch einmal mehr unterstrichen.
Moderner Western
Von einem anderen kinematographischen Ansatz zeigt sich der Spielfilm »La sombra del catire« (Der Schatten des Catire) von Jorge Hernández Aldana, ebenfalls eine venezolanisch-mexikanische Produktion aus 2023. El Catire (Francisco Dennis) versucht seine kriminelle Vergangenheit hinter sich zu lassen. Er zieht sich auf seine Farm zurück und stellt sich den Widrigkeiten einer von Dürre geprägten Landschaft. Es ist ein abgelegenes Gebiet im Bundesstaat Lara, welches unter der Kontrolle von korrupten Militärs steht. Und man will Beningno Cruz, alias El Catire, dort nicht haben. »In einer Region wie dieser steht das Leben praktisch ständig auf dem Spiel, und die Gewalt nimmt eine Form an, die der des Westerns ähnelt: man kämpft um sein Land, stellt sich denen entgegen, die versuchen, in einen einzudringen, und nimmt die Verteidigung mitunter selbst in die Hand. […] Die Lösung von Konflikten in einer Stadt ist eine Sache, aber dort, wo es niemanden gibt, an den man sich wenden kann, ist es eine andere Sache.« erklärt Regisseur Jorge Hernández Aldana. Neben dem spannenden Plot wird auch die Landschaft durch eine exzellente Kameraführung mal trostlos, mal idyllisch wirkend eingefangen. Seit den 1970er Jahren, als die Epoche des »neuen Venezolanischen Films« begann, auch »Boom des nationalen Films« genannt, gibt es in der venezolanischen Kinematographie wenige Kinofilme im sogenannten Western-Stil. Auch deshalb stellt diese Produktion eine Einzigartigkeit dar.
Historisch-musikalische Aufarbeitungen
Das Musik-Biopic »Alí Primera« (2024) von Daniel Yegres ist eine rein venezolanische Produktion. Wer war Alí Primera, der unerwartet bei einem Autounfall verunglückte? Zwischen den Epochen springend, erzählt der ambitionierte Musikfilm aus dem Leben des legendären Liedermachers: von seiner Kindheit (Mervis Mosquera), seinem Weg zum Sänger der Besitzlosen (Eduardo González), bis zu seinem Tod 1985. Der Regisseur lässt dezent zeithistorisches Archivmaterial einfließen, ohne den Rhythmus des Spielfilmcharakters zu unterbrechen. War es ein tragischer Unfall oder politisch motivierter Mord? Alí Primera erlangte nicht die internationale Reichweite eines Víctor Jara aus Chile, dessen Tod eindeutig ein politisch motivierter war, doch trug er, der als cantor del pueblo (Sänger des Volkes) bekannt war, mit seiner Musik maßgeblich zu den Protestliedern jener Generation bei. »Alí ist nicht nur eine emblematische Persönlichkeit unserer Musik und sozialen Kämpfe... Er war mehr als ein Sänger: er war eng verbunden mit seiner Zeit, seinen Mitmenschen und seinen Idealen«, beschreibt ihn der Regisseur Daniel Yegres.
Queeres Kino
Queere Themen wie Homosexualität oder Transgeschlechtlichkeit werden vor allem ab den 2010er Jahren im venezolanischen Spielfilm immer mehr thematisiert. Hier ist etwa die Tragikomödie »Cheila, una casa pa’ Maíta« (2010) von Eduardo Barberena zu nennen sowie »Azúl y no tan rosa« (2012) von Miguel Ferrari, mit dem er für Venezuela den »Goya für den besten Iberoamerikanischen Film« holte. Weiterhin »Pelo Malo« (2013) von Mariana Rondón, in dem ein kleiner Junge merkt, dass er nicht so fühlt wie die anderen Jungs, »Liz en septiembre« (2014) von Fina Torres, »Desde allá« von Lorenzo Vigas (2015), der den Goldenen Löwen von Venedig erhielt, das Dokudrama »Tamara« (2016) von Elia Schneider, »Yo imposible« (2018) von Patricia Ortega und schließlich noch einmal Ferrari mit »La noche de las dos lunas« (2018). Der erste venezolanische Kurzdokumentarfilm »Trans« von Manuel Herreros und Mateo Manaure ist tatsächlich von 1982. Damals war es noch verboten, mit trans Personen auf der Straße zu reden, erzählt Manuel Herreros der spanischen Tageszeitung El País anlässlich der Projektion des Kultfilms vergangenen Januar in New York.
Das diesjährige Festival legt erstmalig einen Schwerpunkt auf das indigene Filmschaffen
Das diesjährige Festival legt erstmalig einen Schwerpunkt auf das indigene Filmschaffen
Das ViF zeigt mit der mexikanisch-venezolanischen Produktion »La candidata« (2022) von Emil Guevara und Ronald Rivas Casallas einen kontroversen Dokumentarfilm, der sich einem Thema nähert, das bisher selten im venezolanischen Film derart aufgegriffen wurde. Fünf Anwärter*innen werden über einen längeren Zeitraum in ihren Vorbereitungen zur Miss Gay Venezuela begleitet. Was bin ich bereit zu tun, um einen kurzen Moment vor einem Publikum als die Schönste gefeiert zu werden? Welches Ideal wird angestrebt und wie weit gehe ich, um einem – von außen betrachtet – überhöht idealtypischen Schönheitsmodell zu entsprechen? Offen erzählen die Kandidat*innen von ihren Motivationen und Hoffnungen, aber auch über ihre Ängste und die Ablehnungen, die sie im Laufe der Jahre in Familie und Gesellschaft erfahren mussten. Emil Guevara erzählt in einem Gespräch, dass »seit vielen Jahrzehnten der Kult der Schönheit eine Eigenschaft ist, die sich durch alle sozialen Schichten des Landes zieht. In Venezuela streben sowohl Frauen als auch Männer danach, körperliche Schönheit zu kultivieren. Schönheit oder Schönsein gilt als Sprungbrett für den sozialen Aufstieg und ist fast ein Synonym für Erfolg.« Mit Daniela Blanco wird eine der fünf Kandidat*innen nach Frankfurt kommen.
Indigene Produktionen
Das diesjährige Festival in Frankfurt legt erstmalig einen Schwerpunkt auf das indigene Filmschaffen, insbesondere das der Wayúu, die sich ein Territorium zwischen Venezuela und Kolumbien teilen. In Venezuela gibt es mehr als vierzig indigene Bevölkerungsgruppen. Seit 1999 wurde das indigene Territorialrecht in die venezolanische Verfassung aufgenommen. Seitdem versuchen die indigenen Organisationen im Land immer mehr an kultureller, sozialer und politischer Sichtbarkeit einzufordern. In der venezolanischen Filmographie gab es ab den 1980er Jahren eine Serie von Filmen, die indigene Figuren in ihren Plot aufnahmen, doch maximal als Nebendarsteller*innen. In den neueren Produktionen um die 2000er Jahren erscheinen sie erstmals vermehrt als aktive Protagonist*innen, so etwa im Dokumentarfilm »El regreso« (2013) von Patricia Ortega und in dem Spielfilm »Dauna, lo que lleva el río« (2014) des kubanisch-venezolanischen Filmemachers Mario Crespo.
Digitales Schnupperabo
Drei Monate schnuppern, lesen, schmökern.
Das ViF zeigt in einer Filmrolle unter dem Titel »Das junge indigene Filmschaffen der Wayuu« (2020-2024) vier zumeist kolumbianische Produktionen: »La memoria de la avispa« (The Memory of the Wasp) von Leiqui Uriana, den Animationsfilm »Muu Palaa« (Grandmother Sea), »Aipa A Yem« (Rooted identities) von Luzbeidy Monterrosa und Luis Tróchez Tunubalá, und »SŪKŪJULA TEI« (Stories of My Mother) von David Hernández Palmar und Flor Palmar. Diese Kurzfilme zeichnen sich nicht nur durch eine gelungene filmische Ästhetik aus, sondern auch dadurch, dass sie von Cineasten der Wayúu produziert wurden, die sich über ihr eigenes Filmschaffen hinaus zur Verbreitung ihrer Kultur einsetzen. So entstand etwa »SŪKŪJULA TEI« mit indigenen Erzähler*innen und ihren Gemeinschaften weltweit als erster Teil des sogenannten Reciprocity Project, eine kollaborative, multimediale Plattform für indigene Kurzfilme. »Ein berührendes, vielschichtiges Gedicht über den Zusammenhalt der Generationen, die Stärke der Gemeinschaft, der Familie, der Tradition – und die Kraft des Ortes«, urteilt Maryanne Redpath, ehemalige Leiterin der Sektion Generation der Berlinale.
Als Abschlussfilm präsentiert Yanilú Ojeda ihren Dokumentarlangfilm »Shawantama’ana« (A Place to Stay) von 2012, der zu einem wahren Klassiker in dieser Thematik geworden ist. Ojeda ist Mitbegründerin der »Muestra Internacional de Cine Indígena de Venezuela« (MICIV) (Internationales indigenes Filmfest in Venezuela), der ebenfalls die Filmemacher*innen Leiqui Uriana (Präsidentin) und David Hernández Palmar (Executive Director) angehören. Die Dokumentarfilmerin, die viele Workshops in Filmschulen und verschiedenen indigenen und nicht-indigenen Gemeinschaften im In- und Ausland gibt, wird im Rahmen des Festivals neben der Filmpräsentation ein Gespräch zum indigenen Filmschaffen anbieten, in dem sie ihre Erfahrungen dem Publikum näherbringt und vor allem verdeutlicht, welchen Herausforderungen sich junge indigene Filmemacher*innen stellen müssen, um wahrgenommen zu werden.
Die diesjährigen Filme, die sich durch ästhetische und politische Heterogenität auszeichnen, machen deutlich, so Luis Alberto Lamata, »dass auch das venezolanische Kino nicht vor den politischen Auseinandersetzungen haltmachen kann, die das Land im Moment durchlebt.« Lamata wird als Ehrenmitglied von ViF präsent sein und u.a. die Rede zur Verleihung des »Publikumspreis bester Film« halten.
Weitere Filme, Veranstaltungshinweise und Unterstützer*innen des Festivals finden sich unter: Venezuela im Film – Qué chévere (ViF). Das Festival findet vom 24. bis 27. April 2025 im Filmforum Höchst in Frankfurt statt.