Der lange Schatten des Genozids
Im Osten der DR Kongo nehmen Verfolgungen gegen Tutsi zu
Berge von alter Kleidung häufen sich auf den Bankreihen der ehemaligen katholischen Kirche in Nyamata. Die heutige Gedenkstätte erinnert an die Ermordeten des Genozids in Ruanda im Jahr 1994. Innerhalb von knapp hundert Tagen tötete das rassistische Hutu-Regime fast eine Million Menschen, die ihnen als Tutsi, gemäßigte Hutu oder Twa galten. Fast drei Jahrzehnte später lebt der ‚Konflikt‘ im Nachbarland fort: Tutsi-Vertreter*innen und Menschenrechtsbeobachter*innen berichten von systematischen Gewalttaten im angrenzenden Osten der Demokratischen Republik Kongo (DRK).
Der Krieg dort ist so alt wie der Genozid in Ruanda selbst: Nachdem die Tutsi-geführte Ruandische Patriotische Front (RPF) im Juli 1994 Ruanda einnahm und das Morden beendete, flohen Hunderttausende Hutu und mit ihnen auch Génocidaires (Völkermordtäter) in die heutige DRK, damals Zaire. Sie organisierten sich militärisch mit dem Ziel, die ruandische Tutsi-Regierung wieder zu stürzen. Es folgten Übergriffe auf im Osten Kongos lebende Tutsi, die daraufhin nach Ruanda flohen und dort teilweise bis heute in Flüchtlingslagern leben. Sie werden in der DRK nicht als Staatsbürger*innen anerkannt. Zur Gegenwehr formierten die kongolesischen Tutsi immer wieder bewaffnete Gruppierungen: Heute kämpft die Bewegung des 23. März (M23) in den ostkongolesischen Gebieten. Ihr Kampf richtet sich auch gegen die Hutu-geführte Miliz FDLR, deren harter Kern aus Génocidaires besteht. Die FDLR finanziert sich vom Verkauf von Rohstoffen, die durch Zwangsarbeit geschöpft werden, und hat massive Kriegsverbrechen zu verantworten.
Die Menschen haben die Gewalt satt
Im letzten Jahr haben sich die Kämpfe im Osten der DRK intensiviert. Als die M23 ab Anfang des Jahres innerhalb kürzester Zeit Gebiete eroberte, rief Kongos Präsident Félix Tshisekedi die Bevölkerung zur Selbstverteidigung auf. So mehrten sich mit den Territorialgewinnen der M23 auch die Angriffe und Hetze gegen ruandophone Kongoles*innen. Ruanda unterstützt die M23 – Tutsi und Ruander*innen werden gleichgesetzt. Zur Abwehr der Rebellengruppe kooperiert die kongolesische Armee mit anderen Milizen – und ausgerechnet auch mit der Hutu-FDLR.
Auf das Konto dieser bewaffneten Gruppierungen – inklusive der M23 – gehen unzählige Verbrechen an der lokalen Bevölkerung: Morde, Folter, sexualisierte Gewalt, Zwangsarbeit und Erpressung. Die Schuld suchen die ruandische und kongolesische Regierung beim jeweils Anderen. Internationale Akteure fordern von beiden Staaten, die Zusammenarbeit mit den bewaffneten Milizen einzustellen. Es überwiegen jedoch einseitige Appelle an Ruanda. Dabei bleibt die Verfolgung der kongolesischen Tutsi oft unerwähnt.
Der wiederholt aufflammende Konflikt zeigt, dass die bisherigen Befriedungsmaßnahmen im Ost-Kongo die Wurzeln des Problems verfehlen. In westlichen Medien werden oft die berühmten Bodenschätze als Kriegsgrund verhandelt, welche den Konflikt finanzieren. Der Konflikt und das Vorgehen der M23 lassen sich aber nicht ohne die jahrzehntelange Unterdrückung der Tutsi und die Rolle der Völkermord-Miliz FDLR erklären und schon gar nicht lösen.
Unterdessen steigt die Zahl der Vertriebenen und Ermordeten. Innerhalb eines Jahres wurden nach UN-Angaben über 800.000 Menschen vertrieben. Die Menschen vor Ort haben die Gewalt satt. Viele begrüßen das harte Vorgehen der Milizen gegen die M23, die als eigentliche Invasor*innen angesehen werden. Die Hetze gegen die kongolesischen Tutsi scheint eine Eigendynamik zu entwickeln. Expert*innen wie die Afrikanistin Bojana Coulibaly warnen – auch angesichts der bevorstehenden Wahlen im Dezember – vor einer ungebremsten Zunahme der Verfolgungen. Tutsi-Vertreter*innen äußern sogar die Befürchtung eines weiteren Völkermords.
Letzten Dezember gab es, angestoßen durch die ostafrikanische Gemeinschaft (EAC), den Versuch von Friedensverhandlungen. Die M23 soll sich aus einigen Gebieten zurückgezogen haben, aus den Masisi-Bergen werden jedoch weiterhin Kämpfe gemeldet. Viele ehemals eroberte Gebiete werden von EAC-Truppen überwacht. Von der kongolesischen Regierung wird erwartet, die Möglichkeit zu Verhandlungen mit der M23 zu nutzen. Die Hoffnungen sind gering: Mit »Terroristen« rede er nicht, sagte Präsident Tshisekedi.
Der Schatten des Genozids ist lang. Eine Rückkehr der geflüchteten Tutsi in die DRK ist in weite Ferne gerückt. Nach fast dreißig Jahren scheint sich die Welt damit abgefunden zu haben. Und seitdem leidet die Zivilbevölkerung im Ost-Kongo unter dem Terror der Milizen. Eine Anti-Tutsi-Ideologie verbreitet sich im Land. Erinnert man an die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft 1994, so wirkt dieser Schatten noch bedrohlicher.
die redaktion