Wenn Wahlen zählen
Ein Kommentar zur Lage im Irak
In der Republik Irak gibt es anhaltende Massenproteste, eine einjährige Blockade der Regierungsbildung und eine Vielzahl von Krisen. Ist das Land am Ende?
Hätte man einen Iraki vor zwanzig Jahren gefragt, ob das Land ohne Präsidenten weiter funktionieren könne: Die Frage wäre vermutlich in der damaligen Diktatur gar nicht verstanden worden. Wenige Jahre später wurde der erste postdiktatorische Präsident, Jalal Talibani, monatelang in einem Berliner Krankenhaus behandelt. Das fiel nicht einmal groß auf, denn laut der neuen irakischen Verfassung von 2005 ist die Präsidentschaft repräsentativ. Und seit den ersten freien Wahlen im selben Jahr wurden schon fünf verschiedene Personen dafür gewählt – in einer Region, in der es sonst fast nur Präsidenten auf Lebenszeit gab.
Für die jüngere Generation im Irak ist es inzwischen selbstverständlich, dass Präsidenten und Premierminister kommen und gehen und Wahlen über ihr Schicksal entscheiden. Das ist vor allem einer Gruppe von Exiliraker*innen zu verdanken, die im Vorfeld des alliierten Einmarsches Vorschläge für die Nachkriegsordnung entwickelten. Diese Iraqi Working Group setzte gegen Widerstände ein rein parlamentarisches System durch.
Wäre der Irak ein Präsidialsystem geblieben: Wie anders wäre die Geschichte wohl verlaufen? Ein Blick nach Tunesien, wo 2011 alles so hoffnungsvoll begann, zeigt, was in der MENA-Region droht, wenn Präsidenten über eine große Machtfülle verfügen: In Krisen ist die Verlockung groß, sich als starken Mann zu präsentieren, an Parlament und Institutionen vorbei ans Volk zu appellieren und sich immer mehr Macht übertragen zu lassen.
Das demokratische Chaos …
Was für ein Chaos herrscht demgegenüber im Irak, wo es zuletzt wegen gegenseitiger Blockaden ein Jahr dauerte, bis sich eine Regierungskoalition zusammengefunden hatte. Ende Oktober stimmte eine Parlamentsmehrheit dem Kabinett des neuen Ministerpräsidenten Mohammed Schia al-Sudani zu. Im Parlament wird um Posten und Budgets gefeilscht und korrupte Politiker*innen betrachten den Staat als Selbstbereicherungsladen. Dann wäre da noch die massive Einflussnahme durch das Ausland, allen voran durch die Islamische Republik Iran, die sich, wie auch im Libanon, von ihr abhängige Parteien und Milizen geschaffen hat.
Von außen wirkt das neue politische System im Irak hochgradig instabil im Vergleich etwa zu Ägypten, wo ein Präsident mit fast unbeschränkter Machtfülle regiert und für Friedhofsruhe sorgt. Die meisten der irakischen Parteien sind entlang von Konfession oder Ethnizität organisiert und agieren eher wie Klientelgruppen.
Niemand rief nach dem starken Führer
Und doch fällt auf, dass eigentlich keine Partei das System als Ganzes in Frage stellt. 2019 erschütterten Massenproteste gegen Arbeitslosigkeit, Korruption, ausländischen Einfluss sowie gegen sektiererische, konfessionelle Spaltungen das Land (iz3w 377). Aber es rief niemand nach dem starken Führer und Verfassungsänderungen. Dies gilt auch für den mächtigen schiitischen Klerus, der seit dem Sturz Saddam Husseins an der Linie festhält, dass religiöse Führer nur beratend tätig sein dürfen.
Die Protestbewegung forderte, mit der Demokratie Ernst zu machen – also keinen regime change. Zudem entschieden sich selbst Parteien aus dem sunnitischen Dreieck nordwestlich von Bagdad, wo zuvor die Brennpunkte des bewaffneten Widerstandes lagen, fortan an Wahlen teilzunehmen.
Die Situation erinnert an eine These aus liberalen Kreisen der USA. Sie lautet, dass, wenn »democracy the only game in town« sei, sich auch eher undemokratische Akteure an demokratische Spielregeln halten müssten. So ist es im Irak: Ganz sicher würden nicht wenige aus dem Establishment lieber heute als morgen autoritär regieren und auf Wahlen, Koalitionsverhandlungen und die Kritik einer vergleichsweise freien Presse verzichten. Laut sagen können sie es nicht.
… ist stabiler als die Tyrannei
Sicherlich existieren weiter Parallelstrukturen. Da sind vor allem die gefürchteten schiitischen Milizen, die ihre Befehle aus Teheran erhalten. Nepotismus und Korruption sind endemisch und die allgemeine Meinung von Parteien und Regierung könnte schlechter kaum sein. Keine Regierung konnte bislang die brennenden Probleme des Landes angehen: etwa die prekäre Sicherheitslage, massive Verarmung, exorbitante Arbeitslosigkeit oder die sich rasant verschlimmernde ökologische Katastrophe.
Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis neue Massenproteste losbrechen. Auch kann der ‚Islamische Staat‘ wieder erstarken. Vom leuchtenden demokratischen Beispiel, in welches US-amerikanische Planer*innen der Invasion 2003 den Irak verwandeln wollten, ist das Land denkbar weit entfernt. Keineswegs allerdings kann man von einem failed state sprechen, wie Kritiker*innen dieser Invasion es gerne tun. Vielmehr zeigt die Entwicklung im Irak, mit welchen Schwierigkeiten solche Transformationsprozesse verbunden sind.
Ohne massive Einflussnahme der Nachbarländer Iran, Syrien, Saudi-Arabien und Türkei, die alle den demokratischen Prozess zu verhindern suchten, wäre es nicht zu den Blutbädern gekommen, die den Irak zu zerreißen drohten. Aber das Land ist weder entlang konfessioneller oder ethnischer Grenzen zerfallen und trotz massiver Konflikte ist es eine föderale Republik mit weitgehender kurdischer Autonomie geblieben, die von keiner politischen Partei mehr in Frage gestellt wird.
Es wäre gewagt, inmitten einer derart aufgerührten Region, eine optimistische Prognose für den Irak abzugeben. Aber das Land verfügt nach den letzten zwanzig Jahren über Strukturen und akzeptierte Spielregeln, die zu Hoffnung zumindest Anlass geben. Das ließe sich momentan für Länder wie Syrien oder den Jemen nicht sagen.