Alter, verbeulter Ford Cortina mit dem Baujahr 1973 zeigt die Krise der Weltwirtschaft aufgrund von Kapitalismus
Dieser Ford Cortina (Baujahr 1973) hat schon die fordistische und postfordistische Krise gesehen | Foto: Charles CC BY 2.0 DEED

Das Neue ist ungewiss

Umbrüche in der Welt­wirtschaft

Seit einigen Jahren verschiebt sich die Dominanz in der Weltwirtschaft weg von den USA und der EU hin zu neuen Akteuren wie der Volksrepublik China. Zugleich transformiert sich die industrielle Produktion zur digitalen. Damit gehen Änderungen der staatlichen und anderen Regulierungen der Wirtschaft einher. Aber im Vergleich zu früheren Übergängen und Krisen gibt es einen Unterschied. Die ökologischen Folgen der kapitalistischen Produktions- und Konsumweise destabilisieren das Gesamtsystem.

von Joachim Becker

29.04.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 402
Teil des Dossiers Die Vielfach­krise

Die Kehrseite der kapitalistischen Produktion – ihre ökologische Zerstörungskraft – tritt immer sichtbarer zutage. Am deutlichsten wird das bei der Klimaerhitzung, die ihre Ursprünge in der Nutzung fossiler Energie und der kapitalistischen Expansion hat. Auch andere Phänomene, die teils mit der Klimaerhitzung verbunden sind, wie der Verlust biologischer Vielfalt und das Artensterben, nehmen drastische Formen an. Diese Analyse entspricht inzwischen dem wissenschaftlichen Mainstream – aber sie ist kein gesellschaftlicher Konsens.

Mit dem Aufstieg Chinas verschärft sich die geo­ökonomische Konkur­renz

Eine zweite qualitativ neue Situation ist die ökonomische Machtverschiebung in der Weltwirtschaft. Diese beschränkt sich nicht nur auf die Marktanteile, die China den USA abjagt. Drittens findet eine Transformation zu einer postindustriellen Produktionsweise statt. Die Veränderungen sind mit den Krisen ökologischer, globalpolitischer und ökonomischer Natur verbunden. Die Krisen werden vom Versuch begleitet, der Destabilisierung mit staatlich induzierten Regulationsweisen entgegenzuwirken. Und insgesamt werden die Umbrüche eine neue Art der gesellschaftlichen Regulation mit sich bringen.

Eine neue Krisendimension

Die Klimaerhitzung erzeugt einen so starken Problemdruck und gesellschaftlichen Druck, dass inzwischen Schritte zur Abkehr von den fossilen Brennstoffen stattfinden. Wo sich Ansätze zur Ökologisierung der kapitalistischen Akkumulation durchgesetzt haben, beschränken sie sich auf die Dekarbonisierung, also auf die Abkehr von den fossilen Brennstoffen. Diese Änderungen bieten eine Grundlage für neue Geschäftsmodelle. Der Ansatz einer grünen Modernisierung fußt auf einem »Dekarbonisierungskonsens«, wie ihn die lateinamerikanischen Wissenschaftler*innen Breno Bringel und Maristella Svampa bezeichnen. Dieser wird wiederum von fossilen Kapitalfraktionen und deren politischen Verbündeten bekämpft. Denn viele hängen weiterhin aus kulturellen oder ökonomischen Motiven an Kohle und Öl.

Das zweite Kennzeichen des gegenwärtigen Umbruchs ist die Verschiebung der globalen Kräfteverhältnisse. Die hegemoniale Position der USA – und die Dominanz der kapitalistischen Kernländer – erodiert, während bestimmte Staaten des Globalen Südens, vor allem die Volksrepublik China, deutlich ökonomisch und politisch aufholen und eine dauerhafte multipolare Ordnung anstreben. Für das kapitalistische Zeitalter wäre das, wie der brasilianische Ökonom Luiz Faria unterstreicht, eine neue Konstellation. Multipolarität war historisch bislang auf Perioden großer Umbrüche beschränkt.

Bei den politischen und ökonomischen Strategien der Krisenbearbeitung sind beide Komponenten des Umbruchs – Dekarbonisierung der Akkumulation sowie verschärfte geopolitische Konkurrenz – miteinander verschränkt. Für den einzelnen Nationalstaat sind die Strategien der Dekarbonisierung unweigerlich mit der Frage einer verbesserten Positionierung in der neuen internationalen Arbeitsteilung verbunden. Von daher müssen sowohl die Strategien zur Dekarbonisierung des Akkumulationsregimes als auch die entsprechenden Anpassungen der Regulationssphäre im Kontext der geopolitischen Konkurrenz analysiert werden.

Die Reichweite von Regulation

Dabei geht die Regulationstheorie davon aus, dass die Geschichte des Kapitalismus als eine Reihe verschiedener Phasen, die sich in ihren sozioökonomischen Strukturen unterscheiden, darstellbar ist. Mit den Begriffen ‚Akkumulationsregime‘ und ‚Regulationsweise‘ werden die in diesen Phasen verfestigten Strukturmuster identifiziert, die auf spezifischen Vergesellschaftungsmustern basieren. Während es in der Peripherie oft anhaltende Phasen der Instabilität gibt, lassen sich im Zentrum auch längere Phasen der relativen Stabilität identifizieren. Zwischen stabilen Mustern liegen aber größere Krisen, die zu gesellschaftlichen Brüchen führen. Genau das ist heute der Fall – auch auf internationaler Ebene.

Bei verfestigten Akkumulationsregimen stehen drei Hauptdimensionen im Vordergrund: Erstens geht es um das Verhältnis von produktiver Akkumulation und finanzialisierter Akkumulation. Bei produktiver Akkumulation stehen bei Investitionen produktive Sektoren – etwa Industrien – im Vordergrund, bei finanzialisierter Akkumulation geht es vor allem um Finanzanlagen. Mit Blick auf die produktive Akkumulation ist erstens von Interesse, wie sich die Branchenzusammensetzung im Zuge der Dekarbonisierung der Industrie und des Energiesektors verändert. Eine zweite Dimension betrifft die Frage, ob die produktive Akkumulation sich auf die Erhöhung der Arbeitsproduktivität stützt oder eher auf den vermehrten Einsatz von Arbeitskräften und Maschinen. Die dritte Dimension bezieht sich auf die Frage der Binnen- oder Außenorientierung der Akkumulation und die jeweilige Stellung in der internationalen Arbeitsteilung.

All das ist mit der Bildung gesellschaftlicher und sozialer Normen und Politiken verbunden, mit Hilfe derer gesellschaftliche Widersprüche bearbeitet und spezifische Akkumulationsstrategien gefördert werden. Für eine solche Regulation sind vor allem drei strukturelle Formen relevant: die Bearbeitung des Konkurrenzverhältnisses – speziell im Verhältnis zwischen einheimischem und ausländischem Kapital, der Umgang mit der ökologischen Restriktion sowie der Umgang mit den monetären Verhältnissen.

Geopolitische Verschiebungen

Mit der Erosion der internationalen Hegemonialposition der USA und dem Aufstieg Chinas hat sich die geoökonomische Konkurrenz verschärft. In den letzten drei Jahrzehnten sind markante Verschiebungen in der Weltwirtschaft festzustellen. Der Anteil der USA am internationalen Bruttoinlandprodukt (BIP) ging zwischen 1991 und 2021 nur leicht, der USA-Anteil am globalen Export hingegen drastisch von 13,3 Prozent auf 9,1 Prozent zurück. Bei den EU-Ländern und Japan sind noch stärkere Rückgänge festzustellen. Die markanteste gegenläufige Entwicklung weist China auf. Hier legte der Anteil am internationalen BIP von 1991 bis 2021 von 1,6 Prozent auf 18,4 Prozent zu, beim Weltexport von 1,2 Prozent auf 12,7 Prozent. Werden die BIP-Anteile unter Berücksichtigung der Kaufkraftparitäten berechnet, lag China 2018 mit einem Anteil von 19 Prozent am internationalen BIP sogar vor den USA mit 15 Prozent.

Die Dekarboni­sierung eröffnet das Geschäfts­feld der Green Finance

In diesen Verschiebungen spiegeln sich unter anderem die Produktionsverlagerungen aus den Industriestaaten in die Semiperipherie wider. Ebenso spiegelt sich in dieser Entwicklung die Tendenz zur Deindustrialisierung in den kapitalistischen Metropolen wider, während in China und in weiteren ost- und südostasiatischen Ländern mitunter eine starke Industrialisierung zu verzeichnen ist. Als derzeit besonders wichtige Leitsektoren gelten IT, genauer gesagt die Produktion von Chips, und das digitale Kapital. Die US-Konzerne sehen sich in diesen technologischen Schlüsselbereichen mit zunehmender Konkurrenz aus China, Taiwan oder Südkorea konfrontiert.

Die Biden-Regierung in den USA, die nicht zuletzt stark mit dem digitalen Kapital verbunden ist, reagiert hierauf in doppelter Weise. Einerseits hat sie industriepolitische Initiativen ergriffen, die sich von marktliberaler industriepolitischer Abstinenz absetzen. Andererseits überzieht sie die chinesische Konkurrenz mit Sanktionsmaßnahmen im Namen der nationalen Sicherheit.

In diesen technologisch-industriellen Schlüsselsektoren sind EU-Konzerne, bis auf wenige Ausnahmen, schwach vertreten. Zugleich ist auf Ebene der EU und auch einiger EU-Länder, ähnlich wie in den USA, eine vorsichtige industriepolitische Renaissance festzustellen. Bei allem ist der mit dem digitalen Kapital und dem IT-Sektor verbundene stark zunehmende Energieverbrauch kaum ein Thema in den öffentlichen Debatten.

Industrieumbau und Energiemix

Sowohl in den Ökonomien des Zentrums als auch der Semiperipherie spielen die von fossilen Energieträgern abhängigen Industrien weiter eine zentrale Rolle. Das gilt nicht zuletzt für die Transportmittelindustrie. Sie ist in Deutschland besonders stark entwickelt. Das Festhalten am Verbrennungsmotor wird zum zentralen Faktor einer Strukturkrise.

Umstritten ist in den Zentrumsländern auch der Energiemix. In den USA ist das fossile Kapital besonders eng mit der Republikanischen Partei verbunden, während die Demokraten stärker auf eine ökologische Modernisierung setzen. In der EU ist dieses Feld ebenfalls umkämpft und weist eine große Variationsbreite auf. Die Wirkungsmacht des fossilen Kapitals ist vielfach noch umfassend, auch die Atomindustrie ist in einigen Mitgliedsstaaten sehr stark und versucht neuerdings, sich als vermeintlich ‚grüne‘ Alternative in Stellung zu bringen.

Im Globalen Süden ist eine große Heterogenität in der Industrie- und Energiepolitik festzustellen. Das wird in der jüngst erweiterten BRICS-Gruppe deutlich, die sich als Gegengewicht zu der G7 der Zentrumsländer zu profilieren sucht. In der VR China, dem führenden Land des Globalen Südens, setzt die Regierung industriepolitisch deutliche Akzente in Richtung E-Autos und Produktion von Ausrüstungen für erneuerbare Energien – speziell der Solarenergie. Ihre Energiepolitik ist ambivalent. Einerseits wird der Bereich der erneuerbaren Energien viel konsequenter ausgebaut als in anderen Ländern. Andererseits werden weiter Kohlekraftwerke errichtet.

Unter den anderen BRICS-Ländern sind vorsichtige Dekarbonisierungsversuche und ökologische Akzente noch am ehesten bei der Regierung Lula in Brasilien festzustellen. Sie unterscheidet sich darin deutlich von der antiökologischen Politik ihrer rechtsextremen Vorgängerregierung. Innerhalb der BRICS-Gruppe ist durch die Erweiterung um Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Iran das Gewicht der extrem auf Öl und Gas basierenden Ökonomien mit fossil geprägten Akkumulationsstrategien stark gewachsen. Von den BRICS-Ländern als Gruppierung sind damit kaum ökologische Akzente in der Industrie- und Energiepolitik zu erwarten.

Monetäre Begrünungsversuche

Wie der Weltsystemtheoretiker Giovanni Arrighi aufzeigt, verlagern sich, sobald die Dynamik im produktiven Sektor zurückgeht, Kapitalanlagen auf den Finanzbereich. So führte die Krise des fordistischen Akkumulationsregimes mit seiner starren Automation in der industriellen Fertigung ab Mitte der 1970er-Jahre zur Entstehung der Eurogeldmärkte. Kapital wurde weniger in die Fabriken investiert, sondern zunehmend in die Finanzwirtschaft gesteckt. Dazu kam noch das Recycling der Petrodollar, also der reichhaltigen Deviseneinnahmen der erdölexportierenden Länder. Dieser Prozess wird seither als Finanzialisierung bezeichnet. Dabei gewinnen die Finanzmärkte auch für produktive Aktivitäten an Gewicht. Der Prozess hat seit den 1970er-Jahren an Schwung gewonnen und zahlreiche Finanzkrisen – zunächst in der (Semi-)Peripherie, dann auch im Zentrum – nach sich gezogen. Die letzte große Finanzkrise erlebten wir ab 2007/2008.

Im Rahmen der Finanzialisierung suchen Finanzinstitutionen immer neue Anlagesphären zu erschließen. Hier eröffnet der Dekarbonisierungskonsens ein neues Geschäftsfeld: die sogenannte Green Finance. Im Kern einer marktliberalen Green Finance steht vor allem das ‚grüne‘ Ausflaggen von Finanzprodukten. In kleinem Umfang bestehen auch Ansätze zu einer reformistisch-etatistischen Green Finance, beispielsweise seitens der United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD). Sie setzen vor allem auf öffentliche Finanzinstitutionen und öffentliche Infrastrukturbereitstellung. Aber die Institutionen der Zentrumsländer verfolgen einen deutlich marktliberaleren Ansatz. Auch China hat früh auf marktliberale Instrumente der Green Finance gesetzt, zugleich aber auch einen stärker staatlich organisierten Arm entwickelt.

Die herkömmlichen Bereiche der Finanzialisierung zeichnen sich weiter durch eine starke Dynamik aus – und den damit verbundenen hohen Risiken für Finanzkrisen. So sind derzeit erneut Immobilien – speziell Gewerbeimmobilien – ein erheblicher Risikofaktor. China hat infolge der Krise von 2008 große Finanzprogramme aufgelegt und bei der Reorientierung von industrieller Exportproduktion großflächig den kreditfinanzierten Bau von Immobilien und Infrastrukturen gefördert. Innerhalb von nur einem Jahrzehnt hat sich das Verhältnis der Verschuldung des Privatsektors zum BIP auf 205 Prozent (2019) ungefähr verdoppelt. Im chinesischen Finanz- und Immobiliensektor gibt es massive Probleme und die Regierung hat Schwierigkeiten, die Krise einzudämmen. Aufgrund der Abschottung des Finanzsektors nach außen haben Chinas Behörden allerdings große Handlungsspielräume im Krisenmanagement.

In Ländern der Semiperipherie mit hoher Abhängigkeit vom Kapitalimport ist das anders. Sie sind sehr krisenanfällig und haben kaum Spielraum beim Krisenmanagement.

Die monetäre Ordnung

Noch ist der US-Dollar international dominant. Sein Anteil an den weltweiten Devisenreserven beträgt – trotz rückläufiger Tendenz – noch immer knapp 60 Prozent. Allerdings stehen die offensive Verwendung des US-Dollars als politische Waffe und die immer großflächigere Politik von Finanzsanktionen in zunehmendem Widerspruch mit dem Status des Dollars als hegemoniale Währung. Das arbeiten auch die Regulationstheoretiker um Michel Aglietta in ihrem jüngsten Buch «La course à la suprématie monétaire mondiale» heraus. Die US-Politik untergräbt dabei das Vertrauen in den Dollar als Anlage- und Reservewährung und schwächt die globale Abstimmung im Fall von Krisen.

Die chinesische Politik ist nicht auf die Ersetzung des US-Dollars durch den Renminbi, sondern auf die Schaffung einer multipolaren internationalen Finanzordnung gerichtet. Diese steht allerdings noch sehr am Anfang.

Die Länder des Globalen Südens setzen zwar auf eine multipolare Ordnung, sie haben aber – anders als in den 1970er-Jahren – derzeit wenig prononcierte sozioökonomische Alternativen zu bieten. Das gilt auch für ökologische Fragen. Der dominante Dekarbonisierungskonsens ist aus ökologischer Sicht noch unzureichend. Die kommenden Konturen der Akkumulation sind aufgrund der Umbruchsituation noch nicht absehbar. Allerdings dürfte sich die Rolle der ostasiatischen Länder global weiter verstärken. Dabei ist ebenfalls eine geopolitisch motivierte Deglobalisierung wahrscheinlich. Das schwächt die Interventionsmöglichkeiten in die Krisen. Mit Krisen wird sowohl der Fortgang als auch ein Wechsel des bestehenden Akkumulationsregimes verbunden sein.

Joachim Becker ist Professor am Department für Volkswirtschaft der Wirtschaftsuniversität Wien. Vor Kurzem erschien von ihm ein Überblicksaufsatz zur internationalen regulationistischen Debatte im Sammelband »Politische Ökonomie der Zeitenwende – Perspektiven der Regulationstheoretie« (Westfälisches Dampfboot, 2024).

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 402 Heft bestellen
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