Buchcover zu Wolfgang Gieler: Reguliertes Chaos. (Re-)Konstruktionen zum westlichen Ethnozentrismus - ein Essay
Buchcover Reguliertes Chaos | bpb. Bundeszentrale für politische Bildung

Westliche Überheb­lich­keit

Rezensiert von Tim Große

14.12.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 394

Dass die Boulevardpresse dem Wilden Westen Winnetous nachtrauert, ist das eine. Dass in heutigen entwicklungspolitischen Standardwerken, wie Wolfgang Reinhards Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415 - 2015, ohne Distanzierung von ,Indianern‘ oder ,Stamm‘ gesprochen wird, das andere. Der Essay Reguliertes Chaos. (Re-)Konstruktionen zum westlichen Ethnozentrismus des Politikwissenschaftlers und Ethnologen Wolfgang Gieler erschien im Frühjahr 2022. Die mangelnde Reflektion von ethnischen Zuschreibungen seitens Fachkolleg*innen und entwicklungspolitischen Akteuren wird darin scharf kritisiert.

Ausgehend von den Philosophen der europäischen Aufklärung wie Kant, Voltaire und Hegel zeichnet der Autor eine nicht enden wollende Phase westlichen Vormachtdenkens und dessen wissenschaftliche Begründung nach, die er als »geistigen Inzest« bezeichnet. Dieser »sich nach ständiger Bestätigung im Kreis drehende, nicht innovative Prozess« müsse durch Relativierung der ‚eigenen‘ Kultur aufgebrochen werden. Es geht darum sich von der Vorstellung zu befreien, dass der Globale Süden etwas nachzuholen habe.

Gieler berichtet von eigens erlebten Erfahrungen aus der deutschen und internationalen Entwicklungszusammenarbeit und verweist immer wieder auf Autor*innen aus dem Globalen Süden. Seinem Vorgehen hat er die Bezeichnung »Reguliertes Chaos« gegeben, was sich auch im Aufbau des Essays widerspiegelt. Das Konzept geht auf den französischen Philosophen Paul Virilio zurück, demnach Chaos die kreative Auseinandersetzung ermöglicht.

Der Essay ist keine Klageschrift, sondern animiert dazu, sich stärker einzulesen und das scheinbar Normale mit anderen Augen zu sehen: Seien es klassische Definitionen nach denen etwa in der Drei-Elemente-Lehre (nach Georg Jellinek) ein Staat aus Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsmacht zu bestehen habe. Entsprechend lenkt er den kritischen Blick auch auf staatlich geförderte Freiwilligendienste, etwa auf die Organisation weltwärts, bei denen junge Menschen teilweise eher als Lehrende, denn als Lernende in den Globalen Süden geschickt werden.

Gieler geht es in seiner Kritik jedoch weniger um die Gesamtgesellschaft. Vorwurfsvoll wird er vor allem dann, wenn sich Wissenschaft und Entwicklungspolitik nicht lösen können von den überholten Vorstellungen des ,Fremden‘ und ,Wilden‘, oder vom wohlmeinenden und dann doch westlichen Universalismus.

Wolfgang Gieler: Reguliertes Chaos. (Re-)Konstruktionen zum westlichen Ethnozentrismus. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2022. 112 Seiten, 4,50 Euro.

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