Was, wenn wir die Macht hätten?

Tanja - Tage­buch einer Guerillera

Audiobeitrag von Britt Weyde

15.08.2023
Teil des Dossiers Feministische Kämpfe

Wenn Frauen zu den Waffen greifen, bewahrt sie das nicht davor, als Erstes auf ihr Äußeres reduziert zu werden. So auch im Fall von Tanja: Das »hübsche Gesicht« der Guerilla wurde sie genannt. Nach Jahren im Kampf und im Dschungel wird Tanja zu einem wichtigen Mitglied der FARC und nimmt schließlich als Teil der FARC-Delegation bei den Friedens­verhandlungen teil. Über diese facettenreiche Persönlichkeit und ihren Kampfgeist hat Marcel Mettelsiefen eine spannende Dokumentation gedreht.


Shownotes

Skript zum Audiobeitrag

Erstausstrahlung am 1. August 2023 im südnordfunk #111

Sprecherin: Wer als junger Mensch aus Europa mit einigermaßen ausgeprägtem Unrechtsbewusstsein das erste Mal nach Lateinamerika gegangen ist, um freiwillig »zu helfen«, hat es vielleicht selbst erlebt: Die schreiende Ungerechtigkeit, die soziale Kluft, die offensichtlichen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse sind kaum auszuhalten. Auf dem jugendlichen Bewusstsein lastet eine zentnerschwere Schuld, denn der junge Mensch erkennt und nimmt die Folgen unserer ungerechten Weltordnung sinnlich wahr. Gleichzeitig ist der junge Mensch fasziniert, ja begeistert, von der etwas »anderen«, schwer in – nicht verkitschte – Worte zu fassenden Art und Weise, sich in Beziehung zu setzen, soziale Bindung auf eine etwas kollektivere Art und Weise zu leben als im globalen Norden. Und so setzt sie ein, die Überidentifikation mit dem neuen, temporären Zuhause. Die Sprache samt ihrer regionalen Besonderheiten wird begierig gelernt, Gesten, Gepflogenheiten, Gerichte, alles wird aufgesogen, angeeignet, mit Begeisterung gelebt.

So könnte es auch bei Tanja Nijmeijer gelaufen sein, dem »hübschen Gesicht«, so titelte einst die FAZ, der kolumbianischen Guerilla FARC, den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia. Über diese facettenreiche Persönlichkeit hat Marcel Mettelsiefen eine spannende Dokumentation gedreht: Tanja – Tagebuch einer Guerillera. Die in der niederländischen Kleinstadt Denekamp behütet aufgewachsene Tanja geht mit 19 Jahren nach Kolumbien. Dort will sie Englisch unterrichten.

Wir schreiben die frühen Nullerjahre. Tanja guckt viel Fernsehen, um ihr Spanisch zu verbessern. Die Nachrichten sind beherrscht von den Gräueln des kolumbianischen Bürgerkriegs, von Kampfhandlungen, Attentaten und Entführungen. Immer wieder steht die FARC-Guerilla im Mittelpunkt der – tendenziösen – Berichterstattung. Tanja fragt sich:  »Wenn das so schlimme Menschen sind, warum machen dort so viele mit?«

Als der paramilitärische Terror zunimmt, beteiligt sich Tanja an einer zivilen Delegation zur Menschenrechtsbeobachtung im Departement Bolívar. Danach ist kein Halten mehr. Sie schließt sich einem städtischen Kommando der FARC an. Als nach dem Bombenattentat auf den Elite-Club El Nogal im Februar 2003 in Bogotá viele FARC-Mitglieder auffliegen, verstärkt sich der Verfolgungsdruck. Tanja taucht unter und geht in den Dschungel.

Es sind die Jahre der Eskalation unter Präsident Álvaro Uribe mit seinem unerbittlichen Hass auf die Guerilla und auf alle, die auch nur ein Milligramm Sympathie für sie beziehungsweise für die Beweggründe ihres bewaffneten Kampfs empfinden. Im Dschungel findet Tanja eine Aufgabe, eine Gemeinschaft, Anerkennung. Sie integriert sich voller Begeisterung. Tanja stößt sich aber auch an den Macho-Allüren der Herren Guerilleros und deren Anfälligkeit für Korruption:

Tanja im Film: »Wie wird es sein, wenn wir die Macht haben? Die Frauen des Kommandanten mit Silikontitten und Kaviar?«

»Ich habe keine Lust mehr, Befehle von einem Haufen Sexisten zu befolgen.«

Sprecherin: Diese Aufzeichnungen sind ein Geschenk für den Filmemacher, und fürs Publikum ebenso. Sie geben einen intimen Einblick in die Reflexionen der jungen Frau. Da diese Notizbücher eine entscheidende Rolle für den Plot des Dokumentarfilms sind und einen Turning Point im echten Leben auslösten, trägt der Film seinen Titel zu Recht.

Ein weiteres Glück für den Filmemacher müssen die Aufnahmen aus den Guerilla-Camps gewesen sein, die aufschlussreiche Einblicke gewähren: Camp-Alltag, Märsche, Übungen, Feiern inklusive Theateraufführungen und Paartanz, in Uniform und mit umgehängten Gewehren! Tanja ist voll dabei, lächelt, raucht, schäkert und strahlt.

Stimme im Film: »Ist die Guerilla deine Familie?« –»Ja, das ist sie. Sogar mehr.« Und selbstbewusst kontert sie, wenn sie mit der Bezeichnung Terroristin konfrontiert wird: »Ich habe mich nicht für die Gewalt entschieden. Ich mache Politik in einem Land, in dem Politik mit Gewalt gemacht wird.«

Sprecherin: Ebenfalls eine Fundgrube für die Dokumentation: die offenen, reflektierten Interviewpartner*innen, allen voran der sogenannte ‚Journalist der FARC‘, wie er von den großen Medien genannt wurde, Jorge Enrique Botero:

Jorge Enrique Botero: »Ich war einer der wenigen, die sich in den Dschungel wagten.«

Sprecherin: Auch ehemalige FARC-Kommandeure kommen zu Wort, bis hin zu Tanjas niederländischer Studienfreundin Janneke (Adressatin des Dschungeltagebuchs) und Tanjas Mutter. Und schließlich Tanja Nijmeijer selbst. In den Gesprächssequenzen mit Tanja wird ihre politische Entwicklung nachgezeichnet. Im Laufe der Zeit verändert sich ihre Position angesichts der Frage, mit welchen Mitteln der dringend notwendige Kampf gegen ungerechte Landverteilung, Armut und Staatsgewalt geführt werden sollte.

Diese Entwicklung erfolgt in Nuancen, denn letztlich bleibt Nijmeijer sich selbst und ihren politischen Grundüberzeugungen treu. So hat sie sich, als der Krieg noch andauerte, nie von der FARC und ihren Zielen distanziert, auch wenn dies nationale wie internationale Presse eine Zeit lang nahelegten. Allerdings zeigt der Film ausführlich Tanjas Zweifel:

Tanja im Film: »Manchmal kommen mir alle so kindisch vor, ich habe keine Lust mehr, Befehle von einem Haufen Sexisten zu befolgen.« Oder auch ihre Selbstzweifel: »Ich habe als Revolutionärin versagt: wollte solidarisch sein und habe das Gegenteil getan.«

Tanja wird mit der Bezeichnung ‚Terroristin‘ konfrontiert.

Sprecherin: Die politische Grundüberzeugung bleibt. Der Film konzentriert sich auf das Jahrzehnt 2003 bis 2013, als die Gewalt in Kolumbien extrem eskalierte. Journalist Botero fasst es so zusammen:

Jorge Enrique Botero: »Irgendwann gab es keinen einzigen Kolumbianer, der nicht ein Familienmitglied, einen Nachbarn, einen Freund oder Freund eines Freundes gehabt hätte, der entführt worden war.«

Sprecherin: Der Bürgerkrieg geriet in eine Pattsituation. Die Kriegsparteien kamen schließlich zu der Einsicht, dass keine Seite in der Lage sein werde zu siegen. Und dass es nun Zeit für Friedensverhandlungen sei. Tanja wird Teil der ‚Internationalen Kommission‘ und bringt sich ab 2013 in die Friedensverhandlungen in Havanna ein. Die Aufnahmen zeigen eine geschminkte, in zarte Blusen gekleidete, wortgewandte Tanja.

Boris Guevara im Film: »Was ist denn mit der Alten los? Die ist aber arrogant. Ist bestimmt ein Spitzel.«

Sprecherin: So erinnert sich Boris Guevara an seine erste Begegnung mit Tanja. Boris hat ebenfalls für die FARC gekämpft. Heute ist er Tanjas Partner, mit dem sie samt Hund und Katze zusammenlebt. Arg zusammengeschrumpft ist sie, Tanjas einst so große FARC-Familie.

Tanja im Film: »Wir dachten, dass die Reintegration kollektiv erfolgen würde. Und so viele sind in den letzten Jahren nach dem Friedensabkommen umgebracht worden.«

Sprecherin: Die Zahlen geben ihr Recht. Eine Studie des Forschungsinstituts Indepaz hat im März 2023 veröffentlicht, dass in den letzten sieben Jahren, von der Unterzeichnung des Friedensprozesses im Jahr 2016 bis März 2023 knapp 1.500 Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen ermordet worden sind.

Tanja im Film: »Ich wollte die Strukturen dieses Landes verändern, aber das ist nicht passiert. Es ist, als ob wir in all diesen Jahren nichts erreicht hätten.«

Sprecherin: Das bedauert Tanja, die ehemalige Guerillera, gegen Ende des Films. Was Tanja Nijmeijer wohl von der aktuellen Regierung unter Gustavo Petro und seiner Reformagenda hält? Darauf gibt der Film keine Antwort. Das muss er auch nicht. Dafür sorgt er für eine Menge anderer Einblicke und Einsichten.

Der Audiobeitrag basiert auf einer Rezension von Britt Weyde, die in der ila erschienen ist.

Unsere Inhalte sind werbefrei!

Wir machen seit Jahrzehnten unabhängigen Journalismus, kollektiv und kritisch. Unsere Autor*innen schreiben ohne Honorar. Hauptamtliche Redaktion, Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit halten den Laden am Laufen.

iz3w unterstützen