Klarheit statt Mittäterschaft
Editorial zum Dossier Antisemitismus
Die iz3w-Redaktion plant langfristig und ist gerade bei Themenschwerpunkten selten aktuell. Bei diesem Themenschwerpunkt leider doch. Als wir im September 2019 beschlossen, uns mit Antisemitismus zu beschäftigen, war der Anschlag von Halle noch nicht geschehen und die Corona-Pandemie, die zu einer starken Verbreitung von Verschwörungsmythen beitrug, noch nicht absehbar. Wir hatten uns nach mehreren antisemitischen Attentaten in den USA für diesen Schwerpunkt entschieden. Die Zahl antisemitischer Übergriffe war angestiegen und die Rede vom »Großen Austausch« wurde immer populärer.
Auf das Motiv des »Großen Austauschs« bezogen sich auch der Attentäter von Halle und jener von Christchurch, der im März 2019 in zwei Moscheen 51 Menschen ermordete. Dieses Attentat ist durch und durch islamfeindlich, der Täter wendet sich in seiner Begründung aber auch gegen »die Juden«. Hinter der Rede vom »Großen Austausch« steht der Glaube, dass Migration gegen die Interessen »des Volkes« von einflussreichen Gruppen gesteuert sei. Dabei ist die Rede von sogenannten Globalisten, Eliten und natürlich von den Juden, gerne exemplifiziert am neurechten Lieblingsfeind, dem jüdischen Mäzen George Soros. Der Antisemitismus ist ein Weltbild, das Erklärungen für das große Ganze bietet: Bestimmte Mächte, letztlich »die Juden«, würden im Geheimen die hochkomplexe moderne Gesellschaft lenken.
Die gesellschaftliche Krankheit Antisemitismus sei frühzeitig zu behandeln
Der »Große Austausch« zeigt ein weiteres Spezifikum des Antisemitismus auf: Die migrierenden »Fremden« werden per Rassismus abgelehnt. »Die Juden« hingegen seien die Drahtzieher in diesem Spiel. Der Verschwörungsmythos vom »Großen Austausch« wird immer wieder bei den antisemitischen Terroranschlägen genannt: Der Terrorist Anders Breivik wendet sich in seiner Verteidigungsrede gegen »alle anderen Eliten, die Multikulturalismus und Masseneinwanderung stützen«.
Ende Oktober 2020 erscheint dieser Themenschwerpunkt nun mit erschreckender Aktualität kurz nach einem brutalen Angriff auf einen jüdischen Studenten in Hamburg. In Deutschland, aber auch weltweit, nimmt der Antisemitismus weiter zu, und er wird gewalttätiger.
Zu dieser ansteigenden Tendenz kommt die Vielseitigkeit des Antisemitismus hinzu. Es gibt den Antisemitismus der Linken, der »Mitte« und der Rechten. Es gibt den religiös legitimierten Antisemitismus etwa christlicher und muslimischer Provenienz. Derzeit werden finstere Mächte als Strippenzieher hinter der Corona-Pandemie ausgemacht. Im Modus der antisemitischen Umwegkommunikation redet man zuerst über Bill Gates, Merkel und globalistische Eliten – bis dem Star der Corona-Leugner-Szene, Attila Hildmann, der Kragen platzt: »Na, merkt ihr, wie Rothschild-Raute euch immer tiefer den Bolschewiken-Dildo in den Arsch schiebt?«.
In diesem Themenschwerpunkt versuchen wir, diese Phänomene mit Blick auf unterschiedliche Kontinente zu besprechen. Es zeigen sich Unterschiede in der Ausprägung des antisemitischen Ressentiments. Die Existenz eines linken Antisemitismus ist dabei unübersehbar, er gilt aber oft als nicht gleichsam mörderisch wie der rechte. Damit wird in der Linken sehr unterschiedlich umgegangen. Für uns gibt es jedenfalls keinen Grund, Antisemitismus kleinzureden, weil dies angeblich muslimischen oder antikolonialen Belangen dient. Wie schon beim Antirassismus kann der Kampf gegen Antisemitismus nicht in eins gesetzt werden mit dem gegen rechts.
Antisemitismus ist ein imaginierter Abwehrkampf gegen die Umbrüche der Moderne. Der Topos vom »Großen Austausch« ist nur ein Beispiel dafür. In diesem Heft überwiegen die warnenden Stimmen, die das Ansteigen des Antisemitismus beschreiben: beispielsweise im Internet, in afrikanischen Staaten oder in Mexiko. Doch ausgerechnet im Nahen und Mittleren Osten könnte eine Trendwende erfolgen: hin zur Normalisierung der Beziehungen mit Israel, wie es sich bei den Friedensschlüssen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie mit Bahrein andeutet. Oder auch in versöhnlichen zivilgesellschaftlichen Statements aus dem Libanon und Syrien (siehe Seite 38). Das könnte dem aufflammenden globalen Antisemitismus den Sauerstoff entziehen, denn Israel ist ein prominenter Aufhänger für das antisemitische Ressentiment.
Egal wo man den Antisemitismus antrifft, gilt für uns die Warnung, wie sie Omer Bartov im aktuellen Suhrkamp-Sammelband »Neuer Antisemitismus?« formuliert: Die gesellschaftliche Krankheit Antisemitismus sei frühzeitig zu behandeln, denn was »zunächst als Anomalie erschien, entwickelt sich zu einem alltäglichen, alles durchdringenden Zustand«. Die frühzeitige Behandlung heißt: »Wenn ein malaysischer Ministerpräsident antisemitische Ansichten äußert, darf man nicht versuchen, das Unentschuldbare zu entschuldigen. Wenn eine selbsternannte Befreiungsorganisation die Vernichtung des jüdischen Staates verlangt, darf man nicht so tun, als verlangte sie etwas anderes. Wo die Klarheit aufhört, da beginnt die Mittäterschaft.«
die redaktion
Der Themenschwerpunkt Antisemitismus wurde gefördert durch die Amadeu-Antonio-Stiftung und Demokratie Leben / Amt für Migration Freiburg