Buchcover zu Charlotte Wiedemann: Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis
Buchcover Den Schmerz der Anderen begreifen | Propyläen

Auf dem ­Weg zum Welt­gedächt­nis?

Rezensiert von Eva-Maria Bruchhaus

14.12.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 394

Im Fokus von Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis stehen zwei Themenkomplexe: Holocaust und Kolonialismus, beziehungsweise die fortbestehenden kolonialen Denk- und Handelsmuster. So weist die Autorin Charlotte Wiedemann gleich zu Anfang darauf hin, dass parallel zu den Nürnberger Prozessen von 1949 europäische Staaten – Großbritannien in British Malaysia, die Niederlande in Indonesien, Frankreich in Indochina – an den Zivilbevölkerungen ihrer Kolonien Verbrechen begingen, die nach den Nürnberger Kriterien ebenfalls »Crimes against humanity« waren, also »schwere Verbrechen gegen das Bewusstsein, das die Menschheit davon hat, was sie als Menschheit auszeichnet.«

Demo-Memo

Politsprüche und ihre Geschichte

Abbildung von 3 Spielkarten u.a. mit dem Spruch »Wir sind hier wir sind laut...«

Ein Spiel für junge und alte Linke – und eine Zeitreise in die Geschichte linker Parolen und Demosprüche

Zum Shop

Wie unterschiedlich der verschiedenen Opfergruppen gedacht wird, und wie wenig man in Deutschland darüber weiß, wird auch an den Begegnungen der Autorin während ihrer Suche nach Gedächtniskulturen in den baltischen Staaten deutlich. Hier dominiert die Erinnerung an die Opfer des Stalinismus, während die Erinnerung an die ermordeten Jüdinnen und Juden fast nur von ihren Nachfahr*innen gepflegt wird. Das gilt erst recht für außereuropäische Länder und ihre Bevölkerungen. So wird verständlich, dass für die Nachfahren kolonisierter Völker die Nachwehen der während der Kolonialzeit begangenen Verbrechen bis heute andauern, aber noch heute in den Gesellschaften der ehemaligen Kolonialmächte kaum wahrgenommen, geschweige denn anerkannt werden. Das gilt auch für Deutschland, wo erst seit den 1970er-Jahren an einzelnen Universitäten dazu gearbeitet wird. Es ist der Initiative von Einzelnen oder kleinen Gruppen zu verdanken, dass zunehmend durch Biografien, Theaterstücke oder etwa die Umbenennung von Straßen Licht ins Dunkel der deutschen Kolonialherrschaft gebracht wird. Aber auch hier macht Wiedemann eine Hierarchisierung der Opfer sichtbar: während der Genozid an den Herero und Nama in Namibia, dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, inzwischen offiziell anerkannt wird, bleiben etwa die 200.000 Opfer der Gräueltaten deutscher Kolonialtruppen während des Maji-Maji-Widerstands im damaligen Tanganjika weiterhin vergessen.

Wiedemann fragt, warum uns bestimmte Opfergruppen näher sind als andere. Wer wird betrauert und wer wird ausgeschlossen? Warum ist die »Ökonomie der Empathie« so ungerecht? Die Autorin meint, es läge nicht nur daran, dass uns manche Opfergruppen ähnlicher sind als andere, die ukrainischen Flüchtlinge im Gegensatz zu den in Griechenland gestrandeten aus Syrien, Irak oder Afghanistan, ganz zu schweigen von jenen aus afrikanischen Ländern. Die »Hierarchie der Empathievergabe« ist auch eine politische Frage, sie bestimmt, wer Anspruch auf Empathie hat, wer vergessen oder als »Kollateralschaden« abgetan wird, wie die überwiegend zivilen Opfer von US-Drohnenangriffen in Afghanistan. Dabei würden die Medien eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, die im Buch leider nicht näher untersucht wird.

Die zahlreichen und sehr diversen Beispiele von kollektiven Traumata – und wie ihrer gedacht wird – führt anschaulich vor Augen, dass das Weltgedächtnis »eine höchst plurale, diverse, verzweigte Angelegenheit« ist, und dass es neben der offiziellen eine inoffizielle Gedächtniskultur gibt. Für die inoffizielle Gedächtniskultur steht zum Beispiel die Gedenkstätte für russische Zwangsarbeiter*innen im ostwestfälischen Stukenbrock. Ein anderes Beispiel sind die Bemühungen in Kambodscha, den zwei Millionen Menschen, die während der Gewaltherrschaft der Roten Khmer ums Leben kamen, ein angemessenes Denkmal zu schaffen. Oder der recht bescheidenen Gedenkort in Lettland in der Nähe von Riga, wo 1941 an zwei Tagen 25.000 Jüdinnen und Juden erschossen und in Massengräbern verscharrt wurden. Durch die Beispiele gelingt es der Autorin aufzuzeigen, dass alle kollektiven traumatischen Erfahrungen zwar singulär sind, aber immer denselben Ursprung haben: die Negation der Gleichwertigkeit menschlichen Lebens. Die offizielle, verstaatlichte Gedächtniskultur, wie sie zum Beispiel in Deutschland im Hinblick auf den Holocaust praktiziert wird, achtet dabei streng darauf, dass nur die von Regierungen, Parlamenten und mit dieser Aufgabe betrauten Institutionen sanktionierte Holocaustdefinition gilt. Wie die Autorin findet es die Rezensentin heikel, »eine holocaustzentrierte Erinnerungspolitik als Ausweis von Moral zu benutzen... zumal gegenüber von Menschen aus außereuropäischen Ländern, in denen dieser Abschnitt der Geschichte nicht als vorrangig vor allem anderen betrachtet wird.«

In diesem Zusammenhang ist auch ihr Hinweis interessant, dass Menschen weltweit auf unterschiedlichen Sprachen ganz ähnliche Begriffe für das in der Geschichte erlittene Leid gefunden haben: »Maafa« (Kiswahili), »Nakba« (Arabisch) oder »Shoa« (Hebräisch) heißt jeweils: Katastrophe. Es geht um einen Dialog über dieses erfahrene Leid weltweit – ohne Gleichsetzung und Hierarchisierung. Dazu leistet das Buch einen wichtigen Beitrag. »Den Schmerz der Anderen begreifen« ist das richtige Buch zur richtigen Zeit. Auch wenn das Ziel, ein wirkliches Weltgedächtnis zu schaffen noch weit entfernt ist, ist es ein wichtiger Schritt auf diesem Weg.

Charlotte Wiedemann: Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis. Propyläen, Berlin 2022. 288 Seiten, 22 Euro.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 394 Heft bestellen
Unsere Inhalte sind werbefrei!

Wir machen seit Jahrzehnten unabhängigen Journalismus, kollektiv und kritisch. Unsere Autor*innen schreiben ohne Honorar. Hauptamtliche Redaktion, Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit halten den Laden am Laufen.

iz3w unterstützen