Arbeiter*innen auf der Straße zum Schichtwechsel
Schichtwechsel in Donguan Changan, 2010 | Foto: Forum Arbeitswelten

»Partei und Bürokratie bilden eine Klasse«

Interview über Chinas Klassen­gesellschaft und Arbeits­welt

Was bedeutet »Klasse« in China? Darüber sprach Peter Franke mit vier Aktivist*innen und Forscher*innen aus zwei Generationen. TM (♀) und XH (♂) unterstützten als Studierende in den 2010er-Jahren die Kämpfe von Arbeiter*innen im Perlflussdelta in Südchina und forschen weiterhin dazu. XH hat selbst einige Zeit in der Fabrik gearbeitet. May (♀) engagiert sich schon seit dem Ende der 1990er-Jahre für die Unterstützung von Arbeitsmigrant*innen im Perlflussdelta. Sie arbeitete eng mit zehn Hongkonger Arbeitsrechtsgruppen und Gewerkschaften sowie NGOs in Europa zusammen. Dabei organisiert sie internationale Solidarität und Kampagnen zur Unterstützung von Arbeitskämpfen. Au (♂) setzt sich seit den 1970er-Jahren für Demokratie und Selbstorganisation in Hongkong und auf dem chinesischen Festland ein. Er ist linker Kritiker der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und veröffentlicht regelmäßig auf dem taz-Blog china watch. May und Au lebten bis 2021 in Hongkong und sind nun im Exil in England.

Das Interview führte Peter Franke

28.10.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 405
Teil des Dossiers Die neue Welt-Klasse

Peter Franke: China nennt sich Volksrepublik, die Regierungspartei bezeichnet sich als kommunistisch. Gibt es in China überhaupt noch Klassen?

May: Ja, es hat in China schon immer Klassen gegeben, auch nach 1949, als das sogenannte Neue China gegründet wurde. Das Neue China war im Grunde in zwei große Klassen unterteilt: die undemokratische und bürokratische Klasse der herrschenden KPCh-Bürokratie und die einfachen Leute. Ja, es gabt immer eine herrschende Klasse, die andere ausbeutet, und eine Klasse, die ausgebeutet wird.

Au: In Maos China gab es laut offizieller Propaganda nur zwei Klassen, die Arbeiterklasse und die Klasse der Bauern sowie zusätzlich die Schicht der Intellektuellen. Die Bürokratie wurde dabei absichtlich ausgelassen. Wenn man sich jedoch die historische Realität in Maos China ansieht, ist diese Darstellung wenig überzeugend. Das offizielle Gehalts- und Lohnsystem zeigt, dass schon bei der Entlohnung eine enorme Ungleichheit zwischen den hochrangigen Kadern und den niedrigsten öffentlich Beschäftigten sowie Fach- und Hilfsarbeiter*innen gab.

Aber diese Bemessung von Ungleichheit ist seit Maos Ära nicht mehr zuverlässig, da die höheren Kader erhebliche materielle Privilegien genossen. Durch »Sonderzuteilung« wurden die höherrangigen Beamt*innen mit Belohnungen und Luxusgütern versorgt. Außerdem genossen höhere Kader erhebliche materielle Privilegien. Ganz zu schweigen von den ergiebigen Kontakten, die mit dem höheren Rang einhergingen und die den Zugang zu noch mehr Privilegien ermöglichen.

»Arbeits­migrant*innen vom Land sind eine Bevölkerungs­gruppe zweiter Klasse«

Man muss sich darüber im Klaren sein, dass alle materiellen Privilegien aus der Einparteiendiktatur resultieren. Anstatt also die wirtschaftliche Macht als politische Macht zu bezeichnen, war es in China das politische Machtmonopol der Partei, das die Parteibürokratie als »herrschende Klasse« oder »politische Klasse« charakterisierte, die sich getrennt von der normalen Arbeiterklasse reproduzierte.

Das China unter Deng (1979-1997) und nach Deng ist in vielerlei Hinsicht ein Bruch mit Maos China. Aber es ist nur ein Bruch in Bezug auf das Wirtschaftssystem, in dem die Sozialistische Marktwirtschaft die frühere Planwirtschaft ersetzte. In Bezug auf das politische System gibt es zwischen den beiden Epochen eine Kontinuität. Die Sozialistische Marktwirtschaft wurde nach Deng in die Einparteiendiktatur integriert. Diese seltsame Kombination verleiht der Bürokratie noch mehr Macht. Das Wachstum der Privatwirtschaft vermittelt zwar die Illusion, dass die Parteibürokratie dadurch eingeschränkt werden könnte. Aber das ist nicht so. Die Verschmelzung von Parteidiktatur und Marktwirtschaft führt tatsächlich zur neuen Variante einer »verbürgerlichten Bürokratie«.

Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Au: In Dengs China wurden zwar mittlere und kleine Staatsunternehmen (State Owned Enterprises - SOE) privatisiert, die großen blieben jedoch in den Händen des Parteistaats. Mit dem Aufstieg Chinas wurden seitdem auch zahlreiche neue große SOEs gegründet. Sie alle beherrschen die Wirtschaft. Sie sind vorgelagerte Preisgestalter für die nachgelagerten Branchen. Ihr Management besteht hauptsächlich aus hochrangigen Parteifunktionären, die über immense Macht verfügen. Hinzu kommt, dass seit den 1980er-Jahren alle Ebenen der Regierungsbehörden eigene Unternehmen gründeten, um Geld zu verdienen. Die Beamt*innen erhalten einen Teil des Gewinns. Das stellt das graue Einkommen der Bürokratie dar. Und dann gibt es eine dritte Möglichkeit der Selbstbereicherung – die weit verbreitete Korruption. Dies geschieht oft in Zusammenarbeit mit Familienmitgliedern der Beamtenschaft und ihren ‚weißen Handschuhen‘, also jenen Privatunternehmern und -unternehmerinnen, die mit korrupten Beamt*innen gemeinsame Sache machen. Diese drei Kanäle der Selbstbereicherung der Bürokratie ermöglichen es ihnen, politische Macht und die Macht des Kapitals zu vereinen. Für die Partei ist das der Anreiz, an ihrem politischen Machtmonopol festzuhalten. Deshalb hat sie ihre totalitäre Herrschaft in den letzten dreißig Jahren mit Nachdruck perfektioniert. Regierungspartei und ihre Bürokratie bilden heute eine herrschende Klasse, die sowohl ausbeuterisch als auch totalitär ist.

Wie steht es um die ländliche Bevölkerung?

XH: Chinas Bauernklasse ist nach wie vor eine marginalisierte Gruppe in der Gesellschaft. Die landwirtschaftlichen Tätigkeiten reichen bei Weitem nicht aus, um einen Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele gehen deshalb in die Städte und werden Arbeitsmigrant*innen. Diese Gruppe trägt wesentlich zur Urbanisierung Chinas bei. Aber sie ist nicht durch die städtische Sozialfürsorge abgesichert. De facto sind Arbeitsmigrant*innen Bürger*innen zweiter Klasse. Sie haben kaum eine soziale Sicherheit, insbesondere, wenn sie alt werden und aufs Land zurückkehren, und es gibt fast keine Rente. Die Rückkehr stellt sie vor ernsthafte Probleme bei der Sicherung des Lebensunterhalts. Die Regierung zahlt nur einen sehr geringen monatlichen Zuschuss, in der Regel nur 100 Yuan pro Monat. Darüber hinaus hat die ländliche Bevölkerung große Schwierigkeiten mit ihren medizinischen Problemen. Zum einen aufgrund der schlechten medizinischen Infrastruktur in den ländlichen Gebieten. Zum anderen, weil die Krankenversicherung der bäuerlichen Bevölkerung unzureichend ist. Wenn ein Familienmitglied schwer krank wird, ist es wahrscheinlich, dass alle Ersparnisse aufgebraucht werden und die Familie verarmt.

Wie hängt das mit den Löhnen und dem Wohlstand zusammen?

TM: Es ist allgemein bekannt, dass die chinesischen Mächtigen und Reichen ein enormes Vermögen angehäuft haben. Sicher, auch die arbeitenden Menschen in China erlebten in den letzten Jahrzehnten dank des rasanten Wirtschaftswachstums eine Einkommenssteigerung. Trotzdem ist die Einkommensungleichheit in die Höhe geschnellt. Bemerkenswert ist der Einkommensunterschied zwischen der städtischen und der ländlichen Bevölkerung. Das Einkommensgefälle hat sich seit den 1980er-Jahren kontinuierlich vergrößert. Das Durchschnittseinkommen in städtischen Gebieten ist etwa dreimal so hoch wie in ländlichen Gebieten.

Die niedrigen Löhne für die Arbeitsmigrant*innen vom Land sind sowohl auf die Lage auf dem Arbeitsmarkt als auch auf den lohndrückerischen Ansatz der Behörden zurückzuführen. Zwischen 1993 und Mitte der 2000er-Jahre überstieg das Angebot an Arbeitsmigrant*innen die Nachfrage deutlich. Die Marktmacht bewirkt, dass die Arbeitgeber*innen den verzweifelten Arbeitnehmer*innen extrem niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten, willkürliche Kontrollen und sogar Missbrauch aufzwingen konnten. Untersuchungen haben ergeben, dass die Reallöhne von Arbeitsmigrant*innen zwischen 1993 und 2000 trotz des zweistelligen BIP-Wachstums nicht gestiegen, sondern sogar leicht gesunken sind. Ab 2003 hat sich der Arbeitsmarkt jedoch in eine andere Richtung entwickelt. Die Exportfabriken hatten mit einem Arbeitskräftemangel zu kämpfen und mussten höhere Löhne bieten, um Arbeitskräfte anzuziehen. Die Löhne stiegen in dieser Zeit erheblich an.

»Die Einkommens­ungleichheit ist in ­die Höhe geschnellt«

Wie hängt dies mit den Bürgerrechten und der Freizügigkeit zusammen?

TM: In China existieren die meisten in der Verfassung verankerten Bürgerechte nur auf dem Papier. Das gilt auch für die in den Arbeitsgesetzen geregelten Arbeitsrechte. Nach dem Arbeitsvertragsgesetz und dem Gewerkschaftsgesetz haben Angestellte und Arbeiter*innen das Recht, sich in Gewerkschaften zu organisieren, ohne daran gehindert zu werden. In der Realität war es ihnen jedoch nicht gestattet, Gewerkschaften auf eigene Initiative zu gründen. Sie durften stattdessen nur der offiziellen Gewerkschaft, dem Allchinesischen Gewerkschaftsbund, beitreten.  

Wie sieht das im Einzelnen aus?

TM: Ein bemerkenswerter Fall ist hier der Arbeitskampf beim Schweißmaschinenhersteller Jasic Technology im Jahr 2018 in Shenzhen. Eine Gruppe von Arbeiteraktivist*innen versuchte, in ihrer Fabrik eine Gewerkschaft nach dem im Gewerkschaftsgesetz festgelegten Verfahren zu gründen. Ihr Antrag wurde aber von der offiziellen Gewerkschaft abgelehnt und sie wurden von der Polizei verhaftet. Dies löste eine breite Unterstützungskampagne aus, die von den maoistischen Studentennetzwerken an Universitäten in ganz China angeführt wurde. Der Kampf der Jasic-Angestellten, eine Gewerkschaft am Arbeitsplatz zu gründen, scheiterte. Die Hauptbeteiligten aus den Fabriken und studentische Aktivist*innen wurden verhaftet. Die Behörden ergriffen auch harte repressive Maßnahmen, um die maoistischen Studierendengruppen und -netzwerke nach diesen Ereignissen zu zerschlagen und zu kontrollieren.

Wie steht es um die Meinungsfreiheit?

XH: Die Meinungsfreiheit wird in China stark eingeschränkt, insbesondere durch Zensur im Internet. Einerseits muss der autoritäre Staat aufgrund der Verschlechterung des politischen und wirtschaftlichen Umfelds den freien Informationsfluss einschränken und die Menschen daran hindern, echte Informationen über die Gesellschaft zu erhalten, um seine Legitimität zu wahren. Andererseits haben die Menschen zu viel Ungerechtigkeit und Ausbeutung erlitten. Sie müssen ihre Wut zum Ausdruck bringen. Das Internet ist ein wichtiger Kanal dafür. In diesem Spannungsfeld ist die Regierung zunehmend misstrauischer geworden und fürchtet „öffentliche Meinungsäußerungen“, in welchen sich der Schmerz und die Wut der Menschen im Internet ausdrücken und sich als Protest gegen die Regierung richtet.

Dabei lernen immer mehr Menschen, VPNs zu nutzen, Firewalls und Zensur zu umgehen und ihre Erfahrungen und Beschwerden auf X/Twitter zu posten. Diese jüngste Entwicklung stellt die staatliche Informationskontrolle auf eine harte Probe.

May: Wenn man einer Arbeitseinheit – einer Danwei – in der Stadt angehört, sind die Bewegungsfreiheit und die Bürgerrechte stark eingeschränkt und unterliegen der Genehmigung durch die Danwei. Diese ist Teil der Parteimaschinerie, eine Kontrollinstanz. Will man ins Ausland reisen, muss man zuerst die Genehmigung der Danwei einholen. Das Haushaltregistrierungs-(Hukou)System ist ein wichtiges Mittel zur Kontrolle der Bewegungsfreiheit der chinesischen Landbevölkerung vor und nach der Öffnung im Jahr 1978. Arbeitsmigrant*innen vom Land sind in der Stadt eine Bevölkerungsgruppe zweiter Klasse. Wenn sie einen ländlichen Hukou haben, sind ihre Bewegungsfreiheit und ihre Bürgerrechte viel eingeschränkter als die von Personen mit städtischem Hukou. Ihren Kindern wird der Schulbesuch in der Stadt verweigert. Wenn Arbeitsmigrant*innen mit einem ländlichen Hukou einen Streit mit dem Arbeitgeber haben und versuchen, für ihre Rechte zu kämpfen, können sie als ‚Unruhestifter*innen‘ angesehen und von den örtlichen Behörden oder der Polizei in den Städten in ihr Heimatdorf zurückgeschickt werden. Studierende und Aktivist*innen werden genauso behandelt. In den letzten Jahren wurde das ländliche Hukou-System gelockert.

TM: Ja, das Hukou-System ist der Schlüsselmechanismus zur Kontrolle und Verwaltung der chinesischen Bevölkerung. In Maos sozialistischer Ära schränkten das Einwohnermeldesystem und das Danwei-Regime die Freizügigkeit der städtischen Bevölkerung zwischen Städten und Arbeitsplätzen ein. Dazu hielten sie die bäuerliche Bevölkerung in den Dörfern für die Arbeit in der Landwirtschaft fest. Nach der Wirtschaftsreform durften die Bauern ihr Land verlassen und in den Städten arbeiten. Ihre Bewegungsfreiheit in den Städten war jedoch stark eingeschränkt. Mehrere Millionen Arbeitsmigrant*innen wurden bei nicht genehmigten Einreisen in die Städte in Internierungslager gesteckt. Erst im Jahr 2003, als China das Gesetz über die Inhaftierung und Rückführung abschaffte, konnten sich zum Beispiel Arbeitsmigrant*innen von Stadt zu Stadt bewegen, ohne Gefahr zu laufen, von der Polizei festgenommen zu werden.

Obwohl sie sich frei bewegen können, um in den Städten Arbeit zu suchen, sind sie immer noch weitgehend von den öffentlichen Dienstleistungen der Städte ausgeschlossen, wie May bereits erwähnt hat. Ihr Lebensraum ist auf Arbeiterwohnheime und kleine Mietwohnungen in den Industrievierteln beschränkt, die vom Stadtbild ausgegrenzt sind. Sie sind mit erheblichen Schwierigkeiten und Einschränkungen beim Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung für ihre Kinder konfrontiert. Die chinesische Regierung hat eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um das Hukou-System zu lockern sowie die Migrantinnen und Migranten in das Sozialversicherungssystem der Städte zu integrieren. Der Anspruch dieser Menschen auf städtische Sozialleistungen ist jedoch eng mit stabilen Arbeits- und Wohnverhältnissen verknüpft, so dass die Mehrheit von ihnen ausgeschlossen bleibt.

Ist die Ausbeutung in China auch anonymer und struktureller geworden?

TM: China hat sehr unterschiedliche Arbeitsplätze und Arbeitsregime in verschiedenen Branchen und Regionen. In den letzten drei oder vier Jahrzehnten hat sich der Produktionsprozess erheblich verändert. Die moderne kapitalistische Produktion und das Konzept des wissenschaftlichen Managements, das durch tayloristische Massenproduktionsfabriken repräsentiert wird, wurden eingeführt. Die technik- und arbeitsintensiven Fabriken wie Foxconn stützten sich sowohl auf automatische Produktionslinien als auch auf Vorarbeiter*innen entlang der Produktionslinien, um den Arbeitsprozess der Arbeiter zu kontrollieren. Es gibt einen Trend, zunehmend nicht-menschliche Management-Tools wie Rekrutierungs- und Management-Apps und App-basierte Algorithmen am Arbeitsplatz einzusetzen. Lieferdienste sind ein Beispiel für diese digital kontrollierte Arbeit.

Was hat das für Auswirkungen, speziell im Niedriglohnsektor der Plattformökonomie?

XH: Der Einsatz digitaler Technologien ist für Arbeitnehmer*innen ein zweischneidiges Schwert. Er führt zu einer Polarisierung des Arbeitsmarktes. Durch die industrielle Automatisierung wurden beispielsweise zahlreiche Arbeitsplätze durch Roboter ersetzt. Dadurch waren die Beschäftigten gezwungen, entweder von der Produktion in den Dienstleistungssektor oder von qualifizierten in unqualifizierte Tätigkeiten zu wechseln. Diese Entwicklung hat ihre prekäre Lage mit niedrigeren Einkommen und weniger sicheren Arbeitsplätzen verschärft.

»Plattform­arbeiter*innen machen einen großen Teil der Protest­ierenden aus«

Der Boom der Plattformwirtschaft hat sie in eine prekäre Lage gebracht. Ihre Beschäftigung über die Plattform wird nicht als Arbeitsverhältnis anerkannt, sondern sie existieren nur als unabhängige Auftragnehmer. Das bedeutet, dass zum Beispiel Fahrer*innen für Lieferdienste oder von Mitfahrgelegenheiten nicht durch Arbeitsgesetze geschützt sind und Verkehrsunfälle nicht als arbeitsbedingte Verletzungen anerkannt werden können. In diesem Sinne ist das chinesische Arbeitsrechtssystem, das auf der Entwicklung der Fertigungsindustrie basiert, im Grunde gescheitert. Immer mehr Menschen sind arbeitslos, auch im Bereich der Fertigung, IT und sogar solche mit Hochschulabschluss. Sie finden keine festen Arbeitsplätze und sind auf Plattformen angewiesen. Das Reservoir an Arbeitskräften ist dort mehr als gesättigt. Das führt zur Verschärfung des Wettbewerbs unter den Arbeitskräften. Infolgedessen sinkt das Einkommensniveau bei der Arbeit für Plattformen und die Arbeitszeiten verlängern sich.

Das passiert gerade überall in China. Plattformarbeiter*innen machen einen großen Teil der Protestierenden bei Sozialprotesten aus. Die Konflikte zwischen ihnen und den Betreibern der Plattformen nehmen zu. Die Regierung sieht bei diesen Beschäftigten auch eine Gefahr für die soziale Stabilität. Plattformarbeiter*innen sind schnell von Repressionen betroffen, wenn sie Massenversammlungen in großem Umfang organisieren.

Wie wirkt sich das auf die Arbeitswelt aus? Wie sind die Arbeitsbedingungen und Löhne?

May: Die Arbeit in China wird heutzutage immer prekärer, was auf einen Mangel an gesetzlich vorgeschriebenen Sozialleistungen und Zuschüssen zurückzuführen ist. Das führt dazu, dass die Arbeitskräfte völlig auf sich allein gestellt sind. Dies ist nicht nur in der Plattformwirtschaft der Fall, sondern auch in der IT-Branche und anderen Branchen. Das berüchtigte 996-Arbeitszeitsystem [arbeiten von 9 bis 9 Uhr an 6 Tagen d. Ü.], das von einigen CEOs führender chinesischer IT-Unternehmen protegiert wird, versucht, die durch das chinesische Arbeitsrecht geschützten Grundrechte zu ersetzen. Sie lehnen die Idee einer Work-Life-Balance ihrer Mitarbeiter*innen ab. Durch die Integration der chinesischen Wirtschaft in die Weltwirtschaft haben sich die Arbeitsbedingungen und Löhne in eine ähnliche Richtung und in einem ähnlichen Trend wie im Rest der Welt entwickelt. Die Erwerbsbevölkerung in China altert. Das Land wird in Zukunft mit einem Mangel an jungen Arbeitskräften konfrontiert sein, da junge Paare nicht einmal ein Kind wollen, ganz zu schweigen von drei Kindern, was die chinesische Regierung finanziell fördert. Die Regierung orientiert sich nur daran, mit den globalen Großmächten zu konkurrieren und sich im harten globalen Konkurrenzkampf durchzusetzen.

TM: Die Digitalisierung und der Aufstieg der Plattformwirtschaft haben viele Veränderungen im Produktionsprozess und neue Wege der Arbeitskontrolle mit sich gebracht. Im Gegensatz dazu wurden die Arbeitsbedingungen und Löhne der Arbeitnehmer*innen nicht geändert oder verbessert, während das Kapital neue Technologien und Produkte einführte. Die Arbeiter*innen in den Produktionsbetrieben müssen extrem lange arbeiten, um ihr Lohnniveau zu halten. Dies gilt auch in der Plattformökonomie. Ein Lieferarbeiter etwa muss täglich über zehn Stunden ohne Pause arbeiten, um ein Einkommen zu erzielen, das mit dem regionalen Durchschnittseinkommen vergleichbar ist. Der Preis pro Bestellung für die Logistikdienstleistung wurde von Jahr zu Jahr gesenkt. Die allgemeine angespannte Wirtschaftslage hat das Einkommen der Arbeiter*innen bis ans untere Ende der Einkommensspanne gedrückt. Vor kurzem warnten über zwanzig Städte in China, dass die Arbeitsmärkte für Fahrdienste gesättigt seien, während viele Arbeitslose in diesen Sektor eintraten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

XH: Chinas verarbeitendes Gewerbe steht vor verschiedenen Herausforderungen, wie steigende Faktorkosten, sinkende Exportnachfrage und Handelsprotektionismus. Fabrikschließungen und -verlagerungen sind zur Norm geworden. Das gilt insbesondere für die östliche Region, wo viele Fabriken in südostasiatische Länder und nach Mexiko verlagert wurden. Dies hat dazu geführt, dass viele Arbeiter*innen ihren Arbeitsplatz verloren haben und der Wettbewerb um Arbeitsplätze zugenommen hat. Das führt weiter zu sinkenden Löhnen und schlechteren Arbeitsbedingungen.

Wie finden Auseinandersetzungen um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen statt? Welche Strategien gibt es?

May: In der 1949 verabschiedeten Verfassung des Neuen Chinas war das Streikrecht eines der vier großen verfassungsmäßigen Grundrechte. Aber dieses Recht wurde 1982 aus der Verfassung gestrichen. Dennoch haben die Unterschichten bei vielen Gelegenheiten weiter gestreikt, um ihre Rechte zu verteidigen sowie Protestaktionen und Widerstandsbewegungen zu organisieren. Dazu gehören die Arbeiter*innen in den Staatsbetrieben, die in der alten Ära beschäftigt waren, und die Arbeitsmigrant*innen in der neuen Ära nach 1978, als China für ausländische Investitionen geöffnet wurde.

Nach 1949 organisierte die chinesische Regierung den größten Teil der verarbeitenden Industrie in staatlichen Fabriken, und die meisten Werktätigen im städtischen Bereich arbeiteten im formellen Sektor. In den 1980er-Jahren, als sich China für ausländische Investitionen öffnete, errichteten die lokalen Regierungen, insbesondere in den Freien Exportzonen im Perlflussdelta 3-in-1-Fabrikgebäude, die von den Industrieunternehmen angemietet wurden, und organisierten Migrant*innen aus dem ländlichen Raum, die dort arbeiteten. Seit 1995, als das erste nationale Arbeitsgesetz Chinas in Kraft trat, sind die grundlegenden Rechte von Arbeitsmigrant*innen in Fabriken durch das erste Arbeitsgesetz der VR China geschützt. Im Jahr 2005 wurde auch ein besseres Arbeitsvertragsgesetz verabschiedet, das die Arbeiter*innen, um ihre Rechte zu verteidigen.

Wie bereits erwähnt, war der Zeitraum zwischen 2003 und 2013 eine besondere Zeit für Arbeitsmigrant*innen, da vor allem in den exportorientierten Zonen in den Küstengebieten Chinas ein ernsthafter Mangel an Arbeitskräften herrschte. Sie nutzten diese Gelegenheit und setzten Strategien wie Sitzstreiks und massive Arbeitsniederlegungen ein, um höhere Löhne zu fordern. Diese neuen Strategien wurden alle von den Arbeitsmigrant*innen selbst erfunden und umgesetzt, mit Unterstützung der NGOs, die in den Industriegebieten ihre Zentren hatten. Während dieser Zeit hat die einzige staatlich anerkannte Gewerkschaft (der All Chinesische Gewerkschaftsbund ACGB) die Rechte der Arbeitnehmer nie wirklich verteidigt. Diese kapitalfreundliche gelbe Gewerkschaft lehnte sogar die Anträge von Arbeitsmigrant*innen ab, ihr beizutreten, als diese sie um Unterstützung baten.

Wie sieht es aktuell in Sachen Arbeitskampf aus in China?

XH: China ist zunehmend autoritär geworden, jede Form von sozialem Protest wird unerbittlich unterdrückt. Viele Aktivist*innen, die Arbeiter*innen zuvor beim Kampf für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen unterstützt haben, sind inhaftiert. Arbeitsrechtliche NGOs dürfen nicht mehr aktiv werden. Die Regierung glaubt, dass Proteste eingedämmt werden könnten, wenn man nur diese Aktivist*innen unter Kontrolle halten könne. Das Gegenteil ist der Fall: Die Verschlechterung der Wirtschaftslage hat viele Arbeitskräfte dazu veranlasst, ihre Rechte unorganisierter und radikaler zu verteidigen. Sie sind noch weniger von den offiziellen Gewerkschaften überzeugt und beschließen, selbst aktiv zu werden. Diese Aktionen sind jedoch aufgrund ihrer mangelnden Organisation spontaner, erreichen dabei aber oft nicht die beabsichtigten Ziele und werden vom Staatsapparat unterdrückt.

TM: Selbst unter diesen zunehmend repressiven Bedingungen können wir immer noch einige sehr kreative Strategien und Organisationsbemühungen in der Arbeiterklasse beobachten. Ein wichtiges Beispiel sind die Proteste der Beschäftigten der Lebensmittellieferdienste. Der Arbeitsaktivist Mengzhu hat in den Jahren um 2020 eine sehr effektive Organisierungsstrategie umgesetzt, um diese Beschäftigten zu einer Allianz zusammenzuführen – nicht nur im Internet, sondern auch in der Lebens- und Arbeitswelt der Zusteller*innen. Ein einwöchiger Streik in der Lebensmittelzustellung wurde von Beschäftigten im südchinesischen Shanwei durchgeführt. Er beinhaltete auch die Selbstorganisation der Arbeiter*innen, welche die Online-Community und die persönlichen Beziehungen miteinander verbindet, eine Strategie die in China an Bedeutung gewinnt.

Peter Franke vom Forum Arbeitswelten führte, transkribierte und editierte dieses Interview, das anhand eines Fragenkatalogs der iz3w-Redaktion in Form dreier Online-Gespräche stattfand.

Übersetzt aus dem Englischen von Kathi King.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 405 Heft bestellen
Unsere Inhalte sind werbefrei!

Wir machen seit Jahrzehnten unabhängigen Journalismus, kollektiv und kritisch. Unsere Autor*innen schreiben ohne Honorar. Hauptamtliche Redaktion, Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit halten den Laden am Laufen.

iz3w unterstützen