Bild vom Gesicht einer älteren Frau
Buchcover Seniorenhilfe weltweit | Herder Verlag

Engagement bis zum Lebensende

Rezensiert von Jürgen Schübelin

07.12.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 393

Fast jeder zehnte Mensch auf der Erde ist 65 Jahre alt oder älter. Weltweit am stärksten wächst der Bevölkerungsanteil der Älteren in Lateinamerika: Bereits heute leben auf dem Subkontinent 45 Millionen alte Menschen. In 30 Jahren werden es nach Schätzungen der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik über doppelt so viele sein.

Als Konsequenz der radikalen Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme während der neoliberalen Hochphase – mit ihren Zwangsbeiträgen in aktienbasierte private Pensionsfonds mit exorbitanten Verwaltungskosten – erwartet Millionen auf dem Subkontinent nicht Altersarmut, sondern Alterselend. Am Ende sind es Kleinstrenten in Höhe von 60 Euro oder wenig mehr, die nach einem jahrzehntelangen Arbeitsleben bleiben. Das ist gesellschaftlicher Sprengstoff gerade in einer Zeit, in der die Coronavirus-Pandemie brutale soziale Schleifspuren bis weit hinein in die lateinamerikanischen Mittelschichten verursacht hat; und in der die Folgen der weltweiten Verteuerung von Energie und Grundnahrungsmitteln Verzweiflung verbreiten.

Aber bei Christel Wasieks Blick auf die Seniorenhilfe weltweit – Erfahrungen in Lateinamerika geht es neben dieser Ungerechtigkeit um viel mehr als nur um ökonomische Aspekte: Die Autorin lässt die Leser*innen an den Lernerfahrungen ihres eigenen, jahrzehntelangen Engagements in Lateinamerika sowie an den Entwicklungen und Fortschritten von fünfzig Jahren Forschung auf dem Feld der sozialen Gerontologie teilhaben. Dazu fordert Wasiek einen neuen Gesellschaftsvertrag, der älteren Menschen Autonomie und Teilhabe sowie ein politisches, gesellschaftliches und gemeinschaftliches Engagement bis zum Lebensende ermöglicht. Die Darstellung ist umfassend und schließt ausführliche Länderbeispiele aus Uruguay, Mexiko, Kuba, Peru, Chile, Brasilien und Kolumbien ein.

Vorgestellt werden in diesem mit eindrucksvollen Fotos der Autorin illustrierten Band Ideen und Modellprojekte, die über Lateinamerika hinaus Hoffnung machen: Etwa kreative Beispiele für Mehrgenerationenarbeit, bei der ältere Menschen Kinder und Jugendliche begleiten – und umgekehrt – oder bei der Alte und Junge zu gegenseitigen Mentor*innen werden. All das ist hochpolitisch. Es ist Teil eines länderübergreifenden Aufbegehrens gegen einen paternalistischen, auf bloße Fürsorgeaspekte reduzierten Umgang mit älteren Menschen.

Christel Wasiek: Seniorenhilfe weltweit. Erfahrungen in Lateinamerika. Herder Verlag, Freiburg 2021. 192 Seiten, 18 Euro.

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