Portrait von Frantz Fanon
Frantz Fanon | Foto: Fonds Frantz Fanon / IMEC Images.

»Fanon misstraute den Islamisten«

Interview mit Alice Cherki über Frantz Fanon

Alice Cherki wurde 1936 in Algier geboren, stammt aus einer jüdischen Familie und ist Psychiaterin und Autorin. Ab Mitte der 1950er-Jahre hat sie eng mit dem antikolonialen Vordenker Frantz Fanon an der revolutionären Umgestaltung der gefängnisähnlichen psychiatrischen Anstalten in Algerien und Tunesien gearbeitet. Wie Fanon unterstützte sie den algerischen Unabhängigkeitskampf – ab 1957 aus dem tunesischen Exil. 1964 ging sie zum Studium nach Paris, wo sie bis heute lebt. Sie hat unter anderem eine Biographie Frantz Fanons publiziert, deren deutsche Übersetzung neu aufgelegt wurde.

Das Interview führte Karl Rössel

11.02.2025
Veröffentlicht im iz3w-Heft 407
Teil des Dossiers Vergessene Befreier

iz3w: Frantz Fanon wurde 1925 auf der Karibikinsel Martinique geboren, einer französischen Kolonie. 1943 meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst, um mit den Truppen des Freien Frankreichs gegen Nazi-Deutschland zu kämpfen. In seinem Buch »Schwarze Haut, weiße Masken« begründete er dies so: »Der Antisemitismus trifft mich mitten ins Fleisch, ich errege mich, eine entsetzliche Aberkennung zapft mir das Blut ab, man verweigert mir die Möglichkeit, ein Mensch zu sein. Ich kann mich von dem Schicksal nicht lossagen, das meinem Bruder bereitet wird.« – Worauf basierte die Empathie Fanons für verfolgte Juden in Europa?

Alice Cherki: Ich hatte nie einen direkten Austausch mit Fanon über sein Engagement gegen die Judenverfolgung in Europa. Ich erinnere mich nur daran, dass er den Satz eines Lehrers aus seiner Zeit als Gymnasiast zitierte: »Wenn man von den Juden spricht, spitzt die Ohren, man spricht auch von euch.« Außerdem schätzte Fanon Jean-Paul Sartres Buch »Überlegungen zur Judenfrage« sehr. Darin betont Sartre unter anderem, dass »der Antisemit den Juden erst erschafft«, den er ablehnt.

Ab 1946 studierte Fanon in Lyon Medizin und 1953 schloss er seine Ausbildung zum »Facharzt für psychiatrische Krankenhäuser« ab. Dann ging er nach Algerien und arbeitete als Chefarzt in einem Krankenhaus in Blida. Ab 1955 hast Du dort mit ihm zusammengearbeitet und ihn auch in die jüdische Gemeinde Algeriens eingeführt. Wie war sein Verhältnis dazu?

Sein erster Assistenzarzt in Blida war Jacques Azoulay, der aus einer jüdischen Familie in Algier stammte, die lose mit meiner verwandt war. Später in Tunis arbeitete Fanon mit einem Psychiater namens Levy zusammen. Dabei gab es nie irgendwelche Anspielungen darauf, dass wir Juden waren, weder positive noch negative. In Tunis war er auch eng mit der Familie Taieb befreundet. Das waren linksgerichtete und gebildete Leute. Die Tatsache, dass sie Juden waren, spielte für Fanon keine Rolle.

»Wie alle jüdischen Kinder wurde ich aus der Vor­schule ent­lassen«

1954 begann der bewaffnete Kampf der FLN für die Unabhängigkeit Algeriens. 1956 gab Fanon seine Stelle als Arzt im Staatsdienst der Kolonialmacht Frankreich auf und begründete dies in einem offenen Brief an den französischen Ministerpräsidenten damit, dass der koloniale Status Algeriens zu einer »systematischen Entmenschlichung« führe. Danach seid Ihr ins Exil nach Tunesien gegangen, das 1956 schon unabhängig war. In Deiner Fanon-Biografie steht, dass in Tunis ein »latenter Antisemitismus« bestand. Wie sah der aus?

In Tunis arbeiteten wir in der psychiatrischen Klinik »La Manouba«. Dort verbreiteten die beiden muslimischen Psychiater Ben Soltane und Sleim Amar, um uns loszuwerden, das Gerücht, wir seien Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad. Aber wir lachten darüber, weil es so unpassend war.

In den postkolonialen Debatten erlebt die von Léopold Senghor und Aimé Césaire entwickelte Theorie der »Négritude« eine Renaissance. Sie kann als Vorläufer aktueller identitätspolitischer Vorstellungen verstanden werden, da sie Menschen verschiedener Hautfarben unterschiedliche Eigenschaften zuschreibt – Weißen die Ratio und Schwarzen die Emotion. Mit welchen Argumenten kritisierte Fanon diese Haltung?

Fanon verfolgte das Konzept eines neuen Universalismus. Er klammerte sich nicht an die Herkunft, ohne diese zwangsläufig zu verleugnen.

Seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 verharmlosen viele in der postkolonialen Szene die Ermordung jugendlicher Festivalbesucher*innen, die Vergewaltigung jüdischer Frauen, das Abschlachten von 1.300 Menschen und die Geiselnahme von 240 Männern, Frauen und Kindern als Kollateralschäden eines antikolonialen Befreiungskampfes. Nicht wenige rechtfertigen selbst den schlimmsten Massenmord an Juden seit dem Holocaust noch mit Verweis auf Fanons Begriff der »revolutionären Gewalt«. Ist dies gerechtfertigt?

Die Bezugnahme all dieser Bewegungen auf Fanon ist meiner Meinung nach nicht gerechtfertigt. Fanon misstraute dem Islam und den Islamisten sehr. Er hatte auch große Schwierigkeiten mit muslimischen Geistlichen. So entgegnete Fanon auch dem persischen Soziologen Ali Shariati, der den Islam als dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus empfahl, dass er »nicht glaube, dass sich auf der Basis des Islams eine freie Gesellschaft aufbauen ließe«. Tatsächlich zeigte sich Fanon, wenn er von Reisen in afrikanische Länder südlich der Sahara zurückkehrte, stets erfreut darüber, dass »Frauen dort mit unbedeckten Köpfen und nackten Armen spazieren gehen konnten«. Auch wenn Fanon – wie viele von uns – den Palästinensern einen eigenen Staat gewünscht hat, so hätte er doch nie auch nur für einen Moment auf der Seite einer Organisation wie der Hamas gestanden.


Auch ich unterstütze schon seit langem Bewegungen von »linken Juden«, die schon vor dem Oslo-Abkommen die Schaffung von zwei Staaten, Israel und Palästina, forderten und den Stopp der Siedlungen im Westjordanland. Aber ich wünsche mir nicht, dass der Staat Israel verschwindet, auch wenn ich Netanjahu und seine Regierung verabscheue und mir sehr wünschte, sie würden endlich verschwinden. Dabei lehne ich jedoch – wie Fanon – jegliche islamistische Bewegung ab und hege keinerlei Sympathien für die Hamas.

Du stammst aus einer alteingesessenen jüdischen Familie in Algerien und hast als Kind die Ausgrenzung jüdischer Menschen durch die französische Kollaborationsregierung von Vichy selbst erfahren. Was hast Du damals erlebt?

Die antisemitischen Gesetze der Vichy-Regierung wurden in Algerien mit großer Härte angewandt. Wie alle jüdischen Schüler*innen, Studierende und Lehrende wurde auch ich als Kind aus der Vorschule entlassen. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, auch wenn ich damals gerade erst drei Jahre alt war. Eines Tages schickte mich eine Erzieherin nach Hause – weil ich Jüdin sei. Ich habe sie gefragt: »Madame, was bedeutet es, eine Jüdin zu sein?« Denn mit drei Jahren verstand wirklich noch nichts von alledem. Sie antwortete: »Jüdin zu sein heißt, große Augen zu haben, einen großen Mund und große Ohren – so wie Du!«

Damals wurden auch alle jüdischen Güter und Unternehmen konfisziert und an nicht-jüdische »Verwalter« übergeben. Mein Vater konnte nur dank eines Freundes kabylischer Herkunft weiterarbeiten, weil der sich als Verwalter ausgab. Viele andere verloren ihre Arbeit und ihr Eigentum, so auch die Familie des bekannten Historikers Benjamin Stora.

In Algerien gab es drei Religionsgemeinschaften – eine christliche, jüdische und muslimische. Aber auch nach dem Kriegsende hatten sie kaum Umgang miteinander. Der Antisemitismus war auf christlicher Seite besonders stark ausgeprägt. Ich wurde nie in eine christliche Familie eingeladen, nicht einmal zu meinen Schulfreundinnen. Und meine Heirat mit Charles Géronimi, ein Freund Fanons, dessen Eltern Lehrer korsischer Herkunft und Atheisten waren, war ein Skandal.

Kurz vor seinem Tod im Jahr 1961 verfasste Fanon sein bekanntestes Buch »Die Verdammten dieser Erde«. Es enthält eine schonungslose Abrechnung mit dem europäischen Kolonialismus. Außerdem warnt Fanon dort, dass sich dem bewaffneten Befreiungskampf geschuldete militärische Kommandostrukturen nach der Unabhängigkeit in Regierungsformen mit Einheitsparteien und selbsternannten »Führern« verfestigen können. Ist nicht genau dies in Algerien passiert, als sich mit Huari Boumedienne 1965 ein Militärführer der FLN an die Macht putschte?

Fanons Buch »Die Verdammten dieser Erde«, das ein Jahr vor der Unabhängigkeit Algeriens erschien, enthält das prophetische Kapitel »Missgeschicke des nationalen Bewusstseins«. Darin warnte Fanon ausdrücklich vor der Installation autoritärer Regierungen in den Ländern, die damals für ihre Unabhängigkeit kämpften. Er nannte Algerien nicht namentlich, aber Algerien war das Land, an das er dachte.

Aber noch heute sind Institutionen in Algerien nach Fanon benannt?

Ja, es gibt eine Schule, ein Krankenhaus und eine Straße – übrigens nicht in Algier –, die nach Fanon benannt sind. Aber Jugendliche wissen schon lange nicht mehr, wer er war. Selbst von der »demokratischen« Oppositionsbewegung wird er kaum noch gelesen und zitiert.

Das Interview führte und übersetzte Karl Rössel.

Alice Cherki stellt ihre Biographie »Frantz Fanon – Ein Porträt« (Edition Nautilus, Hamburg 2024) zusammen mit Natasha und Zaphena Kelly, die das Vorwort zur Neuauflage verfasst haben, am 9. Mai im Kölner Literaturhaus vor. Vom 12. – 14. Mai ist sie zusammen mit Mehdi Lallaoui, Regisseur des Film »Auf den Spuren von Frantz Fanon«, auch in Freiburg zu Gast.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 407 Heft bestellen
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