Grabsteine auf dem Friedhof der Todesopfer des Genozids in Srebrenica
Friedhof der Todesopfer des Genozids in Srebrenica

Nationalismus unter Aufsicht

Der Friedensprozess in Bosnien und Herzegowina ist ethnisiert

Der Friedensprozess in Bosnien und Herzegowina ist ethnisiert. Vor 23 Jahren beendete das Abkommen von Dayton den Bosnienkrieg. Seither läuft unter Aufsicht der Internationalen Gemeinschaft ein Friedensprozess, der diesen Namen kaum verdient. Mit dem Zusammenspiel von ethnischem Nationalismus und internationaler Einflussnahme ähnelt die Bundesrepublik Bosnien und Herzegowina heute mehr einem Halbprotektorat als einer selbstständigen Demokratie.

von Larissa Schober

10.10.2018

Der Bosnienkrieg 1992 bis 1995 war der blutigste Konflikt auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Er wurde zwischen den bosniakischen, serbischen und kroatischen Bevölkerungsgruppen sowie den Nachbarstaaten um die Zugehörigkeit beziehungsweise Unabhängigkeit des Landes geführt. Zwischen 97.000 und 200.000 Menschen verloren ihr Leben. Etwa zwei Millionen Menschen waren auf der Flucht, also die Hälfte der EinwohnerInnen. Sogenannte ethnische Säuberungen, Deportationen in Lager und systematische Vergewaltigungen waren Teil der Kriegsstrategien.

Nach mehreren gescheiterten Friedensverhandlungen kam es im Oktober 1995 schließlich zu einem Waffenstillstand, dem ein in Dayton, Ohio, ausgehandeltes Friedensabkommen folgte. Das Abkommen mit dem offiziellen Namen General Agreement for Bosnia and Herzegowina ist ein kompliziertes Vertragswerk, das neben einem Rahmenabkommen aus zwölf Anhängen besteht. In Anhang IV findet sich die Verfassung von Bosnien.

Die Internationale Gemeinschaft regiert

Mit dem Abkommen erhielt die Internationale Gemeinschaft (IG) im bosnischen Friedensprozess eine zentrale Rolle und diverse Eingriffsmöglichkeiten. So wurde die NATO-Mission IFOR in Bosnien stationiert, welche die öffentliche Ordnung aufrechterhalten und Kampfverbände entwaffnen sollte. 2004 wurde sie durch die bis heute bestehende EU-geführte EUFOR Mission abgelöst. Die Organisation der Wahlen in der Nachkriegszeit wurde von der OSZE übernommen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) setzte den ersten Präsidenten der Bosnischen Zentralbank ein, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ernennt bis heute drei internationale RichterInnen des neunköpfigen bosnischen Verfassungsgerichtes.

Die wichtigste Einflussmöglichkeit der IG stellt jedoch das Büro des Hohen Repräsentanten (HR) dar. Dieses wurde geschaffen, um ergänzend zur IFOR die Umsetzung der zivilen Aspekte des Friedensabkommens zu überwachen. Zunächst bestand seine Aufgabe vor allem darin, die Bemühungen der vielen zivilen Organisationen zum Staatsaufbau zu koordinieren, die konkrete Einhaltung des Friedensabkommens zu überwachen und die Konfliktparteien zur Kooperation anzuhalten. Die Umsetzung verlief jedoch langsam und konfliktreich. Um ein Scheitern des Abkommens zu verhindern, wurde die Rolle des HR immer weiter ausgebaut, sodass er zu einem  der wichtigsten Akteure in der bosnischen Politik wurde.

1997 legalisierte die IG auf einer Konferenz in Bonn diese weitgehenden Befugnisse des HR. Die sogenannten Bonner Befugnisse erlauben es ihm bis heute, Gesetze zu erlassen oder außer Kraft zu setzen, neue Behörden zu schaffen und gewählte AmtsträgerInnen zu entlassen. Damit kann er faktisch sämtliche gewählten Einrichtungen in Bosnien überstimmen. Gewollt oder ungewollt schuf die IG so ein Halbprotektorat. Somit kann mit dem Hohen Repräsentanten ein nicht gewählter Diplomat das Land regieren – derzeit der Österreicher Valentin Inzko.

Nationalistische Blockaden

In Kombination mit einem weiteren Fehler des Friedensabkommens führt die starke Präsenz der IG zu einer beinahe dauerhaften Blockade in der Politik des Landes. Dieser zweite Fehler ist die fast vollständige Ausrichtung der bosnischen Verfassung an ethnischen Kriterien. Um dem massiven Misstrauen zwischen den ehemaligen, nach ethnischen Kriterien sortierten Kriegsparteien gegenüber einem gemeinsamen Staat zu begegnen, wurden in der Verfassung ethnische Quoten für nahezu alle Institutionen eingeführt. So besteht Bosnien-Herzegowina seit dem Friedensabkommen aus zwei Entitäten: der Republika Srpska und der Föderation Bosnien und Herzegowina (sowie dem Sonderdistrikt Brčko). Deren Grenzen decken sich grob mit den Waffenstillstandslinien von 1995. Beide haben eigene Parlamente und Regierungen und sind in sich noch einmal föderal gegliedert. Die Föderation Bosnien ist als territoriale Vertretung der BosniakInnen und KroatInnen konzipiert, die Republika Srpska als Vertretung der serbischen Bevölkerung. Die gesamte Politik und Verwaltung sind durch ethnische Quoten bestimmt.

Für politische Mit­bestim­mung ist die Abstam­mung zentral

Was das praktisch bedeutet, wird beispielhaft am Parlament des Zentralstaates deutlich. Es besteht aus zwei Kammern, dem Repräsentantenhaus und dem Völkerhaus. Die Delegierten des Völkerhauses werden zu einem Drittel vom Parlament der Republika Srpska und zu zwei Dritteln vom Parlament der Föderation Bosnien bestellt. Dabei müssen die Delegierten der Republika ethnische SerbInnen sein, die der Föderation zur Hälfte BosniakInnen und zur Hälfte KroatInnen.

Für das Repräsentantenhaus gibt es solche Quoten nicht, die Mitglieder werden direkt gewählt, ein Drittel vom Territorium von Srpska und zwei Drittel von Territorium der Föderation. In beiden Kammern werden Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip getroffen, allerdings muss immer ein Drittel jeder Ethnie zustimmen, damit die Entscheidung gültig ist. Im Völkerhaus gibt es außerdem die Möglichkeit, ein ‘ethnisches Veto’ einzulegen, indem eine Entscheidung als Beeinträchtigung eines lebenswichtigen Interesse einer Ethnie deklariert wird. Dann kann die Vorlage nur angenommen werden, wenn eine Mehrheit der betroffenen Ethnie zustimmt.

Weitere ethnische Quoten gibt es beispielsweise in den Ministerien. So dürfen maximal zwei Drittel der MinisterInnen aus der Föderation stammen und die stellvertretenden MinisterInnen müssen einer anderen ethnischen Gruppe als ihre Vorgesetzten angehören. Das höchste Staatsamt, die Präsidentschaft, wird in Bosnien nicht von einer Person bekleidet, sondern von dreien: jeweils einem Vertreter oder einer Vertreterin der drei großen Ethnien. Ebenso werden die Posten am Verfassungsgericht, die nicht von internationalen RichterInnen gehalten werden, zu einem Drittel von Srpska und zwei Drittel von der Föderation bestimmt. Diese Liste von Quotenregelungen ließe sich beliebig fortsetzen.

Die Staatsstruktur in Bosnien beruht also grundlegend auf ethnischen Prinzipien. Deswegen wird von politischer wie auch wissenschaftlicher Seite immer wieder gefragt, ob Bosnien anstatt einer Demokratie nicht vielmehr eine Ethnokratie sei: Für politische Mitbestimmung zentral ist weniger die Staatsbürgerschaft als vielmehr die Zugehörigkeit zur »richtigen« Ethnie, ergo Abstammung.

Diese Konstellation ist zumindest diskriminierend gegenüber Minderheiten. Dadurch, dass viele Ämter direkt an die Zugehörigkeit zu einer der drei großen ethnischen Gruppen geknüpft sind, werden beispielsweise Roma und Romnija sowie Jüdinnen und Juden faktisch ausgeschlossen. Deren VertreterInnen klagten 2009 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen einige dieser Regelungen und bekamen Recht. Daraufhin beschloss das bosnische Parlament 2011, eine Verfassungsreform einzuleiten, die jedoch bis heute nicht umgesetzt wurde.

Damit zeigt sich auch ein weiteres Problem der Nachkriegsverfassung: Durch die ethnisch begründeten Vetomöglichkeiten kann fast jede politische Entscheidung blockiert werden, sodass Reformen ausbleiben. Gleichzeitig werden Entscheidungen stets einer Ethnie zugeschrieben, sodass das Bild von »den Serben/Bosniaken/Kroaten«, die schon wieder gegen »unsere« Interessen gestimmt haben, ständig neue Nahrung erhält. Statt der Regierung und dem Parlament haben die Teilstaaten das Sagen und die Ministerien und zentralen Behörden existieren bosnisch-serbisch-kroatisch dreifach. Diese Identitätspolitik frisst zudem den Großteil des Staatsbudgets.

Eine endgültige Übergangslösung

Das Abkommen von Dayton schuf ein ethnisch segregiertes Parteiensystem. Die weitreichenden Befugnisse des Hohen Repräsentanten führen zudem dazu, dass sich PolitikerInnen aller Parteien um unangenehme Entscheidungen drücken und stattdessen nationalistische Klientelpolitik betreiben können. Unbeliebte Entscheidungen werden dem HR überlassen. So befürwortet zwar der Großteil der Bevölkerung einen Beitritt zur EU. Bei nötigen Reformschritten (wie etwa Kompromissen zwischen den drei Ethnien) verlässt man sich aber darauf, dass der HR sie irgendwann erlässt.

Die Befugnisse des HR, ebenso wie die nach ethnischen Prinzipien ausgerichtete Verfassung, waren 1995 vermutlich nötig, um die Kriegsparteien für ein Friedensabkommen zu gewinnen. Heute stehen sie jedoch einem weiterreichenden Frieden im Weg. Dabei waren sie als Übergangslösung gedacht: Richard Hoolbroke, der für die USA an den Friedensverhandlungen beteiligt war, sagte 1995, dass man vielleicht zehn Jahre mit diesen Regelungen leben müsse. Das Büro des HR sollte erstmals 2008 geschlossen werden. Zehn Jahre später ist dieser Schritt immer noch nicht in Sicht. Gleichzeitig haben die Wahlen am 7. Oktober wieder nationalistische Parteien aller Seiten gestärkt. Die Zukunftsaussichten von Bosnien und Herzegowina bleiben düster.

Larissa Schober ist Politikwissenschaftlerin und Mitarbeiterin im iz3w.

Unsere Inhalte sind werbefrei!

Wir machen seit Jahrzehnten unabhängigen Journalismus, kollektiv und kritisch. Unsere Autor*innen schreiben ohne Honorar. Hauptamtliche Redaktion, Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit halten den Laden am Laufen.

iz3w unterstützen