»Je mehr Grenzen man dichtmacht, desto mehr nehmen die klandestinen Reisen zu«

Interview zur Migrations­kontrolle im Sahel

Audiobeitrag von Martina Backes

02.01.2024

Als das Militär 2020 Präsident Keïta und seine Regierung in Mali stürzte, wurde befürchtet, der Putsch könnte die gesamte Region destabilisieren. Inzwischen sind die Blauhelme der UN Stabilisierungsmission MINUSMA abgezogen. Anfang 2023, noch bevor Frankreich und die MINUSMA zum Abzug aus Mali aufgefordert wurden, sprach der südnordfunk mit einem humanitären Helfer und Missionar über die Lage der Migrant*innen in der Stadt Gao im Norden des Landes. Die Gefahren entlang der Migrationsrouten sind mit dem Putsch nicht weniger geworden. Inzwischen hat sich die Lage weiter verschärft.


Skript zum Audiobeitrag

Erstausstrahlung am 2. Januar 2024 im südnordfunk #116

Anmoderation: Zehn Jahre Bundeswehreinsatz in Mali mit dem Ziel, Frieden und Stabilität in das Land zu bringen, gingen erst kürzlich zu Ende. Der UN-Sicherheitsrat hatte Ende Juni 2023 beschlossen, die MINUSMA-Mission der Vereinten Nationen zu beenden, damit ging auch das Mandat zum 31. Dezember 2023 zu beenden. In dem Sahelstaat Mali hatte das Militär 2020 Präsident Keïta und seine Regierung gestürzt. Damals wurde befürchtet, der Putsch könnte die gesamte Region destabilisieren. Unter Oberst Assimi Goïta fährt das Land einen neuen Kurs und hatte Frankreich und die MINUSMA zum Abzug aufgefordert. Noch vor dieser Kurswende sprach der südnordfunk mit einem humanitären Helfer und Missionar, der im Norden Malis in Gao Migranten und Migrant*innen betreute. Die bereits damals sich zuspitzende Sicherheitslage für die Migrationswilligen hat sich inzwischen nochmals verschärft.

südnordfunk: Wie kam es, dass Sie aus Tansania aufgebrochen und in Gao - einer Stadt im Norden Malis - gelandet sind?

Père Anselm Rosette: Ja, ich bin Tansanier. Ich gehöre einer Kongregation von Afrikamissionaren an, die Weiße Väter genannt werden. Sie sind dazu bestimmt, überall in Afrika zu arbeiten. So bin ich nach Mali gegangen.

Und dort haben meine Brüder die Situation der Migranten miterlebt. So wurde ich für eine Mission nach Mali geschickt. Das war 1997, und ich blieb dort bis 2016.

In Gao gibt es bekanntlich sehr viele Migranten. Können Sie bitte die Rolle der Stadt Gao für die Migration oder die Bedeutung der Stadt für Migrant*innen beschreiben?

Père Anselm Rosette: Zunächst muss man sagen, dass die Migration nach Mali nicht erst vor Kurzem begonnen hat. Sie ist Teil der dortigen Tradition und des Lebens. Aufgrund des Klimas und der Lage Malis sind die Menschen schon immer in den Süden und Westen gereist, um dort in Ländern wie Ghana, der Elfenbeinküste und Burkina Faso zu arbeiten. Und gut, es gab immer auch Leute, die in die Maghreb Länder und nach Europa gingen. Doch was uns jetzt interessiert und beunruhigt, ist die Tatsache, dass es Deportationen gibt: Menschen, die deportiert und zurückgeschickt wurden.

Was ist für Sie der Unterschied zwischen Deportation und Abschiebung?

Père Anselm Rosette: Wenn Menschen offiziell abgeschoben werden, gibt es Papiere. Man weiß, wo sie herkommen, man bringt sie mit Papieren und übergibt sie an der Grenze den Behörden derjenigen Länder, in die sie abgeschoben werden. Pushbacks: Das war für mich wie ein Zusatz dazu. Man wirft jemands Leben in die Wüste. Also für mich macht es keinen Unterschied, ob ich jemandem helfen kann, der abgeschoben oder zurückgeschickt wird.

Sie sagten, dass Migration in Gao kein neues Phänomen, sondern eher eine traditionelle, historische Angelegenheit ist. Wie hat die Migration die Stadt Gao, die sozioökonomischen Beziehungen und das Leben der Menschen in Gao beeinflusst?

Père Anselm Rosette: Gao war oder ist die letzte Stadt, bevor es in die Wüste geht. Die Menschen kommen dorthin um ihre Kräfte zu sammeln, sie ruhen sich dort aus. Und um Transport zu suchen. Es gibt Transporte, die schlicht dazu da sind, Menschen reisen zu lassen. Das gefällt mir. Es gibt Menschen, die von der Migration leben, Transportunternehmer, Hoteliers oder ich zum Beispiel, ich habe einen Kiosk betrieben, der die Leute ernährt, die in der Wüste Kürbisse anbauen und dort verkauft haben. Es gibt also rund um die Migration wirtschaftliche Aktivitäten, ein Geschäftsleben, doch das ist kein Problem. Solange die Leute kommen, funktioniert das, und viele leben eben genau davon.

»Gao war oder ist die letzte Stadt, bevor es in die Wüste geht.«

Doch wenn Migrant*innen zurückgepusht werden, ist das ein Problem. Wo sollen die Leute untergebracht werden, die dann ohne jegliche Mittel in Gao stranden? Es gibt diese afrikanische Solidarität, aber sie hat eine Grenze. Wenn es sich um ein paar Personen handelt, gut. Doch wenn es sich um sehr viele Schicksale handelt, dann kann sich die einheimische Bevölkerung nicht mehr um diese Leute kümmern. Deshalb mussten wir Vereine gründen, um diesen Migranten und Migrantinnen zu helfen. Vor allem, um ihre Rechte zu verteidigen, denn es ist schließlich nicht kriminell, sich für eine Reise zu entscheiden. Und selbst wenn es nicht legal ist, muss man das Recht auf Bewegungsfreiheit verteidigen und die Illegalität verurteilen. Man muss Vereine gründen, um eine Verteidigung der Rechte dieser Menschen aufzubauen und auch die lokale Gemeinschaft zu sensibilisieren.

Das bedeutet, dass es in Gao bereits Vereinigungen gibt, die für die Menschenrechte, für die Rechte der Migranten kämpfen?

Père Anselm Rosette: Ja, ja, es gibt dort Vereine, die sich für humanitäre Rechte einsetzen, so kann man das sagen. Manchmal kursiert dieser Begriff: Abenteuer. Manches Mal werden die Migranten Abenteurer genannt. Mit dieser Konnotation wird es für gesetzt gehalten, dass jemand es beabsichtigt hat (abgeschoben zu werden), dass die Person frei entschieden hat. Es ist ihre Schuld, in diese Lage gekommen zu sein.

Leute erzählen jetzt, dass der Weg verschlossen ist, dass Leute, die dieses »Abenteuer« gemacht haben, zurückgekommen sind und beschlossen haben: Es ist vorbei und dementsprechend wollen wir alle anderen informieren. Sie verteidigen die Rechte der Migranten, indem sie sagen, dass sie keine Abenteurer sind, sondern Geschädigte, Opfer. Das ändert also alles, wenn man sagt: Nein, die Person hat sich nicht aus freien Stücken entschieden, sondern wurde getrieben, wurde gezwungen, beraubt, bestohlen, oder gar missbraucht - das ändert alles.

Und was sind die Herausforderungen für die Migranten, die sich entschieden haben, sich auf den Weg zu machen und bis nach Algerien durchzukommen, die Wüste zu durchqueren? Was sind die Herausforderungen vor allem der vergangenen Jahre, die verschärfte Situation?

Père Anselm Rosette: Seit 2010 befinden sich Mali, namentlich die Stadt Gao und die Stadt Kidal, in völliger Unsicherheit, die 2012 mit der vollständigen Besetzung des Nordens durch die Dschihadisten ihren Höhepunkt erreichte. Es gibt also keine Regierung, der Staat ist abwesend, und es herrscht totales Chaos. Das ist die erste Sache. Zweitens: Die Menschen und all die jungen Leute, die an den genannten Geschäftstätigkeiten beteiligt waren, haben nun keine wirtschaftlichen Aktivitäten mehr. Manche werden im Drogenhandel aktiv, auch im Menschenhandel. Vielen erscheint es naheliegend, nach Europa zu gehen und dort Geld zu verdienen.

Gemalte Tafel mit einer Szene aus der Wüste am Eingang der Herberge
Tafel am Eingang des Maison du Migrant in Gao | Foto: Caritas Mali

Pushbacks in die Wüste

Die dritte Sache ist, dass sich Europa weiterhin vor Migranten abschirmt. Man sieht überall, in Videos, im Fernsehen, in den Medien, wie Migranten das Mittelmeer überqueren und zurückgewiesen werden. Man versucht, sie wie ein paar kleinen Tiere zurück in die Wüsten zu treiben.

Die Grenzen dehnen sich immer mehr aus. Dafür zahlt man die beteiligten Staaten, offiziell in ihrem Kampf gegen diese Gruppierungen, gegen die Dschihadisten oder – ich nenne sie – Sezessionisten. Aber wir unterstützen diese Länder im Gegenzug dafür, dass Sie die Migranten davon abzuhalten, nicht herkommen. Die Europäische Union stellt die Mittel zur Verfügung, um die Migration zu blockieren.

Es gibt mehrere Abkommen zwischen europäischen Ländern mit Ländern der Sahelzone. Offiziell sind die Ziele die Unterstützung bei der Verbesserung der Sicherheitslage. Aber in der Realität ist es so, wie Sie gesagt haben: Die Kontrollen aller Grenzen, die Kontrolle der Migration, all das wird zunehmen. Und Bewegungsfreiheit gibt es dann praktisch nicht mehr. Warum glauben Sie, dass Länder wie Niger oder Algerien diese Abkommen unterschrieben haben?

Père Anselm Rosette: Zunächst einmal, das muss man sagen, gibt es Armut. Wenn ein Polizist kein Auto hat, um Kontrollen durchzuführen, ist es nicht falsch, im Fahrzeuge zu geben, oder Kommunikationsmittel. Das ist gut für den Staat, aber im Gegenzug nutzt der diese Mittel auch, um die Menschen zu kontrollieren, die auf der Reise sind. Zweitens die Unsicherheit. Das Banditentum ist verbreitet, die Dschihadisten sind damit verbunden. Diese zwei Dinge, der Mangel an Mitteln und fehlende Budgets, dann die Versprechen der Entwicklungshilfe wie der Bau von Schulen, Ausbildungszentren für die Jugend – aber im Gegenzug erwartet man von den Sahelländern, dass sie ihre Jugend festhalten und keine Menschen auf der Durchreise zulassen. Dabei wissen beide Seiten sehr wohl, dass die Migranten in die Hände der Dschihadisten-Netze geraten.

Mali hatte sich geweigert, ein solches Abkommen zu unterzeichnen und sagte, die Migration ist Bestandteil unserer Entwicklung. Die Menschen in der Diaspora schicken Geld nach Hause und kurbeln die Entwicklung an. Ist es nicht das, was Sie wollen? Doch dafür müssen viele Menschen bei Ihnen in irregulären Situationen verharren. Der ehemalige Präsident, der verstorben ist, Amadou Toumani Touré, wurde gebeten, ein Abkommen zu unterzeichnen. Er hat aber Bedingungen gestellt. Das ist eine lobenswerte Sache. Wir waren nicht mit allen Vereinbarungen einverstanden.

Und befürchten Sie, dass Mali vielleicht in Zukunft einen Vertrag oder eine Vereinbarung dieser Art unterzeichnen wird?

Père Anselm Rosette: Nein, mit der neuen Regierung und dem ganzen Übergangsprozess mit all den Problemen dort, sicher nicht. Ich bin derzeit nicht in Mali, aber ich verfolge trotzdem die malische und die europäische Politik. Ich denke, dass es dafür keine Chance gibt. Die Beziehungen zu Frankreich und den Regierungen der Europäischen Union sind nicht so gut, wie es scheint. Zweitens denke ich, dass diese Leute dort wissen, dass man die Migration in Mali nicht antasten kann. Das ist sehr wichtig. Die Migration ist quasi Bestandteil der Nothilfe.

Hier wird viel über die Ursachen der Migration nach Europa gesprochen, und eine der Ursachen ist wahrscheinlich auch der Klimawandel. Halten Sie das für richtig? Hat die Klimakrise in der Sahelzone einen gewissen Einfluss auf die Migration?

Père Anselm Rosette: Ja, ich denke, das ist Teil der Ursache für die allgemeine Migration. Wegen der Jahreszeiten gibt es oft nur noch für drei Monate Arbeit. Aber was machen die Leute in den anderen neun Monaten? Also verlassen die besten Leute die Dörfer, um in den Städten zu landen. Dann verlassen sie die Städte wie Bamako oder Sikasso, um in die Nachbarländer zu gehen und dort beispielsweise in der Landwirtschaft zu arbeiten. Doch dort macht der Klimawandel ebenfalls Probleme, man weiß, das ist nicht mehr sicher.

»Die Menschen in der Diaspora schicken Geld nach Hause und kurbeln die Entwick­lung an.«

Dann kommt es zu dem, was wir als historische Form der Migration kennen: Die jungen Leute verlassen Mali und gehen nach Frankreich, um zu arbeiten, dann schicken sie Geld rüber und nach einer gewissen Zeit kommen sie zurück. Aber da die Grenzen jetzt geschlossen sind, ist das ein Problem.

Das heißt also: Mit den Grenzen, die jetzt blockiert sind, wird nicht nur die Migration von Afrika nach Europa blockiert, sondern auch die Rückkehrer?

Père Anselm Rosette: Ja. Nur, je mehr Grenzübergänge man schließt, desto mehr nehmen die klandestinen Reisen zu. Wenn die Menschen illegalisiert werden, können sie keinen Flug mehr buchen. Ich denke, die Lösung ist, Freizügigkeit. Die Migranten kehren zurück zu ihren Familien, wenn es gut läuft. Nur, jetzt, wo sich das Klima ändert, und die Leute nichts mehr anbauen und ernten können, wenn es kein Huhn mehr zu essen gibt… aber die Familie muss ja schließlich leben … solange werden alle, die die Kraft haben, losziehen und sich auf die Suche machen.

Erstausstrahlung südnordfunk 2024 | Radio Dreyeckland

Shownotes zu Migration in Gao

  • Infos zur letzten Herberge in der Stadt Gao
  • Trailer zum Film
  • Das Maison du Migrant in Gao bietet jeden Monat rund 80 abgewiesenen Migranten aus dem Maghreb Aufnahme, Begleitung bei den Formalitäten, vorübergehende Unterbringung und Weiterleitung in die Herkunftsregionen.

Père Anselm Rosette hat über 12 Jahre in Gao gelebt und als humanitären Helfer in der Herberge Maison du Migrant mit Menschen auf der Flucht und mit Migrant*innen gearbeitet. Im Anschluss an einen Filmabend (Rezension zu „Die letzte Herberge“ zum Gedenken an den verstorbenen Leiter sprach der südnordfunk mit Père Anselm Rosette. Inzwischen hat sich die Lage weiter verschärft.

Das Interview führte und übersetzte Martina Backes

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