Die letzte Herberge

Wenn auf den Migrations­routen vorwärts wie rückwärts Gefahren warten

Audiobeitrag von Martina Backes

27.01.2023

Wenn über Migration aus dem afrikanischen Kontinent nach Europa gesprochen wird, so geht es fast immer um die Gefahren der eigentlichen Reise, um das Fortkommen oder die Routen, die sich verschieben. Selten geht es um eine Rückkehr. Und noch seltener um das, was zahlreiche Migrant*innen die meiste Zeit erleben: das Festsitzen. Auf dem Menschenrechtsfilmfest in Berlin sprach das Centre for Humanitarian Action den Filmemacher Ousmane Zoromé Samassekou auf diesen Raum dazwischen und an. Immobilität wird mit Migration selten verbunden. Im Anschluss daran wird ein in Freiburg geführtes Gespräch des südnordfunk mit einem der Protagonisten aus dem Film wiedergegeben: Eric Alain Kamdem aus Kamerun, der eine Herberge für Migrant*innen in Mali leitete.

Shownotes

  • Interview mit Ousmane Samassékou auf dem Human Rights Film Festival Berlin 2021
  • Trailer zum Film

Skript zum Beitrag

Erstausstrahlung im südnordfunk #96 bei Radio Dreyeckland | Autorin: Martina Backes

Ousmane Zoromé Samassékou: Ja, das ist in der Tat ein Effekt der Migration, über den im allgemeinen sehr selten gesprochen wird: Dieser Zustand, dass man nicht vorwärts kommt, aber auch nicht zurück zur Familie kann.

Sprecherin: The Last Shelter* heißt der Film, den der junge Regisseur Ousmane Zoromé Samassékou in Gao im Norden Malis gedreht hat.

Ousmane Samassékou: Das ist ein Aspekt, der in meinen Film sehr stark eingeflossen ist: Die Schwierigkeiten einer Rückkehr, und diese Blockade, das Festhängen. Menschen, die im »Maison du Migrant«, ankommen, im Haus der Migranten, sind in gewisser Weise gestrandet.

Sprecherin: Das Maison du Migrant ist eine Art Begegnungszentrum und Schutzraum in Gao. Die Stadt liegt auf einer der stark frequentierten Routen der Migration nach Nordafrika, Algerien etwa. Für viele, die sich auf den Weg gemacht haben, ist es die letzte Herberge auf dem Weg in den Norden. Der Film »The Last Shelter« lief im April 2021 als Weltpremiere im internationalen Wettbewerb des dänischen Dokumentarfilmfestivals CPH:DOX und gewann dort den DOX:AWARD – den Hauptpreis des Festivals. Ousmane Samassékou kommt selbst aus Mali. Der Regisseur hat seinen Film unter anderem seinem Onkel gewidmet, der vor über 30 Jahren fortging und spurlos verschwand.

Stimme im Film: Ich bin dankbar dafür, dass ich die Wüste überlebt habe.

Sprecherin: Einige der Migranten, die im Film zu hören sind, haben auf ihren ersten Versuchen, die Sahara zu überwinden, Schlimmes erlebt. Andere stehen vor der Entscheidung, den unsicheren Weg auf sich zu nehmen.

Stimme im Film: Die Wüste scheint endlos, ein Nichts, man fährt einfach immer weiter und weiter.

Sprecherin: Jedes Jahr passieren zehntausende Migrantinnen und Migranten aus zahlreichen Ländern die Stadt Gao am Rande der Wüste. Es ist eine Zwischenstation auf dem Weg nach Nordafrika oder Europa. Die Gefahren der Durchreise durch die Sahara sind anders und doch ähnlich wie die im Mittelmeer.

Stimmen im Film: Was kannst du in der Wüste schon machen, du wirst gesucht, und du wirst gefoltert. Schau, dass du gerade durch die Wüste durchkommst. Das Gebiet hier, das wird von Al Kaida komplett kontrolliert.

Sprecherin: Samassékou kommt seinen Protagonistinnen und Protagonisten sehr nahe und zeigt die innere Zerrissenheit, in der sie sich befinden, und eine Entscheidung treffen müssen.

Stimmen im Film: Meine Erfahrung ist: Du wirst immer diskriminiert werden. Du wirst weniger wert sein als ein Mensch. Doch wenn ich nach Hause zurück gehe, nehmen mich meine Eltern vielleicht nicht wieder auf.

Ousmane Samassékou: Es ist sehr schwierig für die, die es nicht geschafft haben, dorthin zurückzukehren, von wo sie aufbrachen. Denn oft hat die ganze Familie sie vor der Abreise unterstützt und Geld zusammengelegt, damit sie die Reise antreten können. Darum habe ich von Anfang an Wert darauf gelegt zu sagen, dass so eine Reise einer einzelnen Person eigentlich ein Familienunternehmen ist. Es ist zwar ein Sohn oder irgendein Freiwilliger in einer Familie, der entschieden hat oder bereit ist, loszuziehen. Aber alle greifen tief in ihre Tasche und unterstützen diese Person, mit Geld, mit Spenden, mit guten Wünschen. Sie trägt die Hoffnung einer ganzen Familie. So ist es in der Mehrzahl aller Fälle.

Sprecherin: Am Anfang des Films sieht man, wie ein paar Männer am Rande der Wüste Gräber anlegen. Sie erzählen von den vielen, die unterwegs ums Leben kamen. Einer sagt, hier sei der Boden voll mit Gebeinen.

Stimmen im Film: Manchmal hat man zu Beginn viele Illusionen. Heute schäme ich mich, meine Mutter anzurufen. Um ihr zu sagen, dass ich es nicht schaffe. Alle denken, dass ich bereits in Europa bin.

Sprecherin: Namensschilder stecken im Sand. Oder einfach Kreuze. Manchmal ist darauf nur das Herkunftsland verzeichnet – das ist alles, was man von den Verstorbenen weiß. Kleiderfetzen an den Dornen eines Strauches, mitten im großen Nichts. Der Blick in die Wüste ist der Blick in die Ungewissheit. Die Bilder, die der Filmemacher symbolisch hierfür findet, sind stark. Die Entscheidung zwischen Vor und Zurück ist eine existentielle, in jede Richtung. Viele junge Männer brechen auf, um neben ihren eigenen Träumen von persönlicher Freiheit ihre Familien zu unterstützen.

Ousmane Samassékou: Anders war das bei den Frauen, die ich filmen durfte. Kadi und Esther. Kadi war zu dieser Zeit 15 und Esther 14 Jahre und ein paar Monate. Bei ihnen realisiert man, dass es nicht nur um das Geld und bessere Einkommenschancen geht, oder um ein Abenteuer. Dazu sind sie zu jung. Sie sind aus persönlichen Gründen losgezogen. Kadi kam mit ihrem Vater nicht zurecht. Sie hatte familiäre Schwierigkeiten. Esther wollte los, weil sie eigentlich nie eine wirkliche Familie hatte, sie wuchs bei Leuten auf, die nicht ihre Eltern waren. Sie fühlte sich alleine gelassen und hatte Angst, als sie vom Tod ihrer leiblichen Mutter erfuhr. Sie wusste nicht, wo sie eine Zukunftsperspektive finden könnte, oder wem sie sich hätte anvertrauen können. Daher entschied sie, aufzubrechen, und solange weiterzureisen, bis auf etwas stößt, das ihr mehr Glück bringt.

Sprecherin: Auf dem Berliner Menschenrechtsfilmfest wollen Gäste wissen, wie die Bewohner*innen in Gao auf die Migrantinnen zu sprechen sind, und ob es Feindseligkeiten gibt.

Ousmane Samassékou: Die Mehrzahl der Migrant*innen werden einfach ignoriert, es ist so, als würden diese Personen nicht existieren, als hätten sie keine Identität, sie sind quasi unsichtbar. Selbst ich als Malier wusste nichts von der Herberge, obwohl die bereits seit über zehn Jahren existiert. In Gao hat man den Eindruck, dass die Bevölkerung nichts von diesem Ort weiß, die Herberge ist wie ein verschlossener Ort. Wenn man da ist, fühlt und versteht man sehr schnell, dass die Leute auf der Durchreise sind und dass sie in gewisser Weise unsichtbar bleiben. Aber es gibt keine Feindseligkeiten der Bewohner*innen von Gao gegenüber den Ankommenden, denn in Gao ist man es gewohnt, dass Menschen auf der Durchreise sind; schon immer sind Karawanen und Migrant*innen durch die Stadt gezogen, schon immer war dies ein Ort, an dem Menschen unterwegs sind, um Grenzen zu überwinden.

Sprecherin: Die Herberge klärt über Gefahren auf, gibt Informationen weiter, bietet Gesprächskreise an. Wer hier vorübergehend Schutz findet und ein paar Nächte ruhigen Schlaf, tauscht sich aus und teilt sein Wissen.

Eric Kamdem im Film: Bildung ist der Schlüssel zur Unabhängigkeit. Anstatt in Algerien herumzuwandern. Was wirst du in Algerien tun, Esther?

Sprecherin: Eric Kamdem ist Leiter des Maison du Migrant. Er findet, auch gegenüber Esther, klare Worte, gibt Rat, ohne hart zu sein.

Eric Kamdem im Film: Prostitution ist die einzige Möglichkeit. Verstehst du das, kleine Schwester? Du bist jetzt stark, aber das wird nicht so bleiben.

Sprecherin: Der Film zeigt, wie die jungen Frauen gewarnt werden. Vor den Gefahren, die vor ihnen liegen. Und welche Verzweiflung damit einhergeht. Dabei lässt sich jede Warnung, jeder Rat, die Reise nicht anzutreten, im Wissen um die Migrationskontrollen der Europäischen Union kaum losgelöst von politischen Kontexten hören. Spielt ein solcher Rat nicht auch den Interessen der EU in die Hände, die die Migration verhindern will?

Ousmane Samassékou: Diese Frage ist sehr komplex. Einerseits benötigen die Leute dringend Hilfe. Andererseits wird die Hilfe auch immer von der Politik mitbestimmt, und wer hier die Herberge finanziert, hat seine eigenen Spielregeln. Allerdings braucht das Maison du Migrant finanzielle Unterstützung, um zu existieren, für Wasser, Essen und für die medizinische Erstversorgung der Ankommenden.

»Man kann die Leute nicht daran hindern, aufzubrechen.«

Ja, ich finde es sehr schade, dass man hier in der Region die Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt, denn wir leben in einer vernetzten Welt, in der jede Person das Recht haben sollte, sich so freizügig zu bewegen, wie sie es wünscht. So sehe ich die Sache. Doch als junger Malier sehe ich auch, wie die jungen Leute, wie Brüder und Schwestern getötet werden oder sterben, bei der Passage übers Meer und durch die Wüste. Das verdient niemand, und wenn es die Mittel gäbe, die Reiserouten sicherer zu gestalten, wenn es sichere Wege gäbe, damit niemand sein Leben aufs Spiel setzten muss, um eine bessere Zukunft zu suchen oder frei leben zu können, das wäre aus meiner Sicht eine gute Lösung. Was man ganz sicher nicht erreicht: Man kann die Leute nicht daran hindern, aufzubrechen. Sich auf den Weg zu machen. Sie werden weiterhin losziehen. Einige haben mehr Mittel, andere weniger, aber sie werden gehen.

Esther im Film: Ich wollte vorwärtskommen und ganz weit weggehen. Ich bin wütend, seit ich klein war. Ich habe keine Angst vor irgendetwas.

Stimme im Film: Der Mann aus Mali, der gesagt hat, dass er uns nach Algerien bringen wird, vertraust du ihm?

Esther im Film: Ich weiß es nicht.

Frau schaut sich selber in einer Spiegelschrebe an - Still aus dem Dokumentarfilm
Filmstill aus dem Dokfilm The Last Shelter | © Ousmane Samassékou

Ousmane Samassékou: Wir leben in einer digital vernetzen Welt. In Europa oder den Vereinigten Staaten bewegen sich die Menschen, wie und wohin sie wollen. Menschen wollen Dinge entdecken, sie haben diese Neugierde. Man erfährt ja hier, was in der Welt los ist, was in Berlin oder New York oder Rio de Janeiro abgeht. Es gibt kein einziges finanzielles Mittel, mit dem man die Migrant*innen aufhalten könnte.

Eric Alain Kamdem: Die Migration ist eine Entdeckungsreise, in gewisser Weise ist es auch eine Form des Teilens gesellschaftlicher Realität mit den Nachbarn. Migration ist nicht, wie viele politische Kräfte es behaupten, alleinig die Suche nach Arbeit. Nein.

Sprecherin: Auch Eric Alain Kamdem, der Leiter des Maison du Migrant, sieht Migration als etwas, das es schon immer gegeben hat, das Menschen verbindet. Allerdings sind die Motive der Migrant*innen - oder die Ursachen von Flucht und Migration, aus seiner Sicht weithin politisch bedingt:

Eric Kandem: Die Menschen, die zu uns in die Herberge kommen, migrieren aus verschiedenen Gründen. Da gibt es den Klimawandel, kulturelle und politische Gründe. Die meisten migrieren wegen der politischen Gründe. Und daran hat auch Europa seinen Anteil: Europäische Staatsoberhäupter, die in die afrikanischen Länder kommen, unterzeichnen mit den hiesigen politischen Autoritären Verträge, zum Beispiel in der Bergbauwirtschaft, zum Export von Mineralien. Und das, obwohl sie wissen, dass die Bevölkerung von diesen Verträgen und dieser extraktiven Wirtschaft in keiner Weise profitieren kann. Es sind höchstens die afrikanischen Staatsoberhäupter, die davon profitieren, sowie deren unmittelbare Vertraute. Die Lebensrealität der Anwohner*innen dieser Bergbauregionen wird hingegen immer schwieriger. Wenn man dieser offensichtlichen Realität ins Auge sieht, dann braucht es nicht viel Wissen, um zu erraten, in welcher Lage sich die Menschen hier befinden und warum sie auf der Suche nach Alternativen in die Migration aufbrechen.

Sprecherin: Dieses Statement machte Eric Kamdem, bevor es in Mali zu einem Militärputsch kam, dann zu einem zweiten. Wenngleich die Bevölkerung, vor allem auf dem Land, weithin den Putsch befürwortet, so haben sich seither die Lebensbedingungen der Bevölkerung nicht verbessert. Und auch die der Migrationswilligen der angrenzenden Länder nicht, die ihre eigenen wirtschaftlichen Probleme haben. Das Recht eines jeden Menschen auf ein würdiges Leben wird vielerorts mit Füßen getreten.

Eric Kamdem: Schauen wir auf die Migration aus einem Land wie Guinea-Conakry: Das Land ist sehr sehr reich an natürlichen Ressourcen, doch die Bevölkerung kann sich kaum drei Mahlzeiten am Tag leisten. Das ist eigentlich unfassbar. Und bei einer solchen Ausbeutung ist es geradezu normal, dass die Menschen sich auf den Weg machen.

Sprecherin: Eric Alain Kamdem ist in Kamerun aufgewachsen und lebt seit über 15 Jahren in Mali. Er kennt die größten Gefahren für die Migrant*innen auf ihrem Weg durch den Sahel aus eigener Erfahrung, er war selber jahrelang unterwegs. Er kennt sich bestens aus: mit den Gefahren, mit Notfalltelefonen, mit den Bewegungen bewaffneter Dschihadisten, mit den realen Gefahren des Menschenhandels, die direkt vor der Türe des Maison du Migrant beginnen.

Eric Kamdem: Die Menschen nehmen enorme Gefahren und Risiken in Kauf – einer der größten Gefahren derzeit sind Entführung von Menschen zum Zwecke der Lösegelderpressung. Es werden immense Summen von Lösegeld von den Familien der Migrant*innen erpresst, obwohl die Angehörigen selber kaum genug zu essen haben, also sehr arm sind.

»Es werden immense Summen von Lösegeld von den Familien der Migrant*innen erpresst.«

Die Summen steigen manches Mal auf zwei bis dreitausend Euro an. Zu den Entführern zählen ganz verschiedene Gruppen: bewaffnete Gangs, Islamisten, Rebellen, alle möglichen Gruppierungen, die Geld brauchen, um zu existieren, die von kriegerischen Ökonomien abhängen und Geld erpressen, um Waffen zu kaufen oder schlicht Jugendgangs, die keine anderen Möglichkeiten des Gelderwerbs in der Region finden.

Sprecherin: Seit Eric Kamdem das Maison die Migrant leitet, ist viel passiert. Aktuell ist der Sahelstaat von harten Wirtschaftsaktionen betroffen. Alassane Dicko vom Netzwerk Afrique Europe Interact schildert die Lage der Migrant*innen und die Folgen der Sanktionen:

Alassane Dicko: Seit 2012 die Krise in Mali begann, sind die Grenzen zu Algerien praktisch dicht. Das war die wichtigste Route für die Migration. Algerische und malische Truppen kontrollierten die Grenzschließung, zudem ist die Präsens verschiedener Rebellengruppen der Grund, warum diese Route nicht mehr passierbar ist. Das ist jedenfalls die offizielle Erzählung. Tatsächlich hat es aber immer Wanderbewegungen gegeben, allerdings hatten die Migrant*innen, die in Richtung Norden aufgebrochen waren, zunehmend Probleme, viele wurden abgeschoben oder einfach zurück verbracht. Und auf der Strecke gibt es zahlreiche Straßensperren von diversen bewaffneten Gruppierungen, und jede davon fordert Geld.

Doch 2017 hat sich mit der Entdeckung der Goldvorkommen nördlich von Gao Richtung Kidal und bis nach Algerien viel geändert. Es kehrten zahlreiche Migrantinnen aus Mali hierher zurück, aber auch aus den Nachbarländern, Guinea, Senegal, viele jungen Leute aus Burkina Faso, aus der Elfenbeinküste und aus Kamerun. Menschen, die aufgebrochen sind und die in der Region in den Schürfstätten arbeiten. Damit hat die Zahl der Migrant*innen in der Region zwischen Gao und Kidal erheblich zugenommen, sie wollen Geld verdienen, auch für die Weiterreise Richtung Norden.

Seit der Krise kommen vor allem auch viele Frauen nach Gao, sie arbeiten in den Bars und Hotels, oder im Haus der Leute, die in den Minen schuften. Wie gesagt, die gleichen Rebellen, die Straßensperren errichten, sind diejenigen, die immer mehr Geld von den Migrant*innen nehmen und sie erst dann passieren lassen. Man kann zwar durch die Wüste, aber mit viel größeren Problemen als früher. Und die größte Sorge ist, dass diese Leute in den Gräbern der Dschihadisten enden. Nicht wenige lassen sich für 1.500 CFA am Tag anwerben (zirka 2,30 Euro, a.d.R.). Es gibt also viele Gefahren, die in der Region auf die Migrant*innen warten, vor allem für die Frauen und Kinder.

Eric Kandem: Besonders schlimm sind Entführungen von Frauen, denn sie werden oftmals als sexuelles Objekt missbraucht. Viele Frauen sind völlig erschöpft und werden vor ihrer Freilassung dann noch sexuell missbraucht. In unserem Zentrum in Gao kommen Frauen an, die auf diesem Wege schwanger geworden sind und den Vater ihres Kindes nicht kennen. Sie sind oft traumatisiert. All diese Erfahrungen verursachen Traumata, die einer Person bis zu ihrer Ankunft in Europa widerfährt.

Sprecherin: Mit der Militarisierung des Sahel werden ständig neue Gefahren bekannt, ständig neue Kontrollpunkte. Auch die Staaten Niger und Algerien haben viel in die Migrationskontrolle investiert und beteiligen sich an Abschiebungen. Hat das einen Einfluss auf die Lage in Gao?

Eric Kamdem: Gao ist ein unumgänglicher Ort auf dem Weg Richtung Norden. Derzeit entstehen durchaus neue Orte, indem sich Migrationsrouten verschieben. Doch Gao ist und bleibt eine wichtige Kreuzung, ebenso wie die Oasenstadt Agadez im Norden des Niger. Viele junge Leute, die dort ankommen, laufen den bewaffneten Gruppen direkt in die offenen Arme. Gao befindet sich weit im Westen, fast jeder hier hat eine Waffe. Ob Islamisten, Milizen oder das Militär des malischen Staates, alle haben hier eine Waffe.

Sprecherin: Auch das ist eine Gefahr für die Migrant*innen. Weite Teile von der Mittelmeerküste bis in den Tschad, in Burkina Faso und Niger, werden von stark bewaffneten fundamentalistischen Gruppen kontrolliert, und diese Gruppen haben einen hohen Rekrutierungsbedarf.

Eric Kamdem: Sie wissen ja, viele von ihnen sind ehemalige Minenarbeiter. Daher sagen wir immer, die Grenze zu blockieren, ist keine Lösung. Die jungen abgeschobenen und herumirrenden Migranten sind für sie eine leichte Beute. Eines der größten Risiken der Migration und vor allem ihrer Repression ist derzeit die Gefahr der Radikalisierung. Die Migranten haben schließlich nichts mehr zu verlieren. Man denkt an all die Risiken, die eine Durchquerung der Sahara mit sich bringen. Die sind ja weithin bekannt, ebenso die Risiken, die ein Mensch bei der Fahrt über das Mittelmeer auf sich nimmt. Einer der größten Gefahren der europäischen Migrationskontrolle und Grenzschließung aber ist die Radikalisierung, weil die Menschen keinerlei Zukunft mehr sehen. Diese sehr verwundbaren Migranten sind zu allem bereit, um ihr Leben zu retten. Denn sie sind doppelt Ausgeschlossene, einerseits ausgestoßen aus der Gesellschaft, in die sie sich integrieren wollten, andererseits auch aus ihrer Herkunftsgesellschaft. Das stört scheinbar niemanden in Europa. Gesagt wird, dass Europa die Kontrolle des Mittelmeeres dafür nutzt, um die tödliche Migration auch in der Sahara einzudämmen. Aber so funktioniert das nicht.

Erstausstrahlung südnordfunk 2022 | Radio Dreyeckland | Autorin: Martina Backes

Die Beitragsautorin Martina Backes konnte mit dem Leiter der Herberge, Eric Kamdem, vor der Fertigstellung des Films sprechen.

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