Zerstörtes Haus nach dem Massaker der Hamas am 07. Oktober
Spuren des Massakers der Hamas | Foto: Yoav Keren CC BY-SA 4.0

Der Krieg der Hamas

Zum historischen Hinter­grund des Pogroms vom 7. Oktober

»Was der Antisemit wünscht und plant, ist der Tod des Juden«, schrieb Jean-Paul Sartre 1944. Die Hamas lieferte am 7. Oktober den Beweis. Es war der für Juden und Jüd*innen schrecklichste Tag seit dem Holocaust. Tausende Islamisten überrannten die israelischen Grenzposten und überfielen Menschen im Süden Israels. Wie im Blutrausch vergewaltigten, verstümmelten und ermordeten Terroristen der Hamas und des Islamischen Djihad unter Allahu akbar-Rufen 1.200 Israelis. Kaltblütig erschossen sie 260 Teilnehmer*innen eines Musikfestivals im Kibbutz Re’im und verschleppten 239 Menschen als Geiseln. Wären die israelischen Streitkräfte nicht dazwischen gegangen, hätten diese Vernichtungskommandos immer weiter gemordet. Plötzlich war der eliminatorische Antisemitismus wieder präsent. Der Schock darüber sitzt tief.

von Matthias Küntzel

11.12.2023
Veröffentlicht im iz3w-Heft 400
Teil des Dossiers Nahostkonflikt

Historische Kontinuitäten

Es ist aber nicht nur das bestialische Vorgehen der Täter, das an den Sadismus der Nazi-Einsatzgruppen vor achtzig Jahren erinnert. Es ähneln sich auch die antisemitischen Motive, wie ein Blick in die noch gültige Hamas-Charta von 1988 beweist.* Darin werden nicht nur Israel, sondern »die Juden« zum Weltfeind erklärt, der die Medien und die Vereinten Nationen beherrsche und für alle Revolutionen in der Welt verantwortlich sei. Und ebenso wie die Nazis behauptet die Hamas-Charta, dass die Juden und Jüd*innen nicht nur den Ersten, sondern auch den Zweiten Weltkrieg angezettelt hätten. Wie Adolf Hitler in »Mein Kampf« zitiert auch die Hamas die antisemitischen »Protokolle der Weisen von Zion« als Beleg für jüdisches Verhalten, um in ihrer Charta zu erklären: »Die Zeit der Auferstehung wird nicht anbrechen, bevor nicht die Muslime die Juden bekämpfen und sie töten«.

Wie kam der Anti­semitismus der Nazis zur Hamas?

Die Charta unterscheidet sich von den Texten der Nazis vor allem durch ihren religiösen Bezug: In ihr wird der Koran 33-mal zitiert. Andere Stellen »klingen, als ob sie direkt von den Seiten des Stürmer abgeschrieben« seien, so der palästinensische Politiker Sari Nusseibeh. Wie kam der Antisemitismus der Nazis zur Hamas?

Die Hamas bezeichnet sich als »Flügel der Muslimbrüder in Palästina«. Sie zieht eine Linie von den Anfängen des antizionistischen Djihad während der 1930er-Jahre bis zur Gegenwart. Dass auch Nazi-Deutschland involviert war, wird verschwiegen. Es fanden jedoch ab 1938 und mit der ausdrücklichen Unterstützung Joseph Goebbels‘ Begegnungen zwischen Nazi-Agenten und den Führern der Muslimbrüder (MB) in Ägypten statt. Die MB waren Judenhasser und wollten das zionistische Projekt zu Fall bringen. Berlin überwies hohe Geldsummen an die MB, veranstaltete mit ihnen »Palästina-Treffen« und Schulungsabende über »die jüdische Frage« und unterstützte deren wichtigsten Bündnispartner, den antisemitischen Mufti von Jerusalem, Amin el-Husseini.

Zwischen April 1939 und April 1945 schürten die Nazis den Judenhass mit einer ausgefeilten Radiopropaganda in arabischer Sprache. Im Rückblick erwies sich diese sechsjährige allabendliche Beschallung durch einen Kurzwellensender im brandenburgischen Zeesen als Zäsur für den Nahen Ostens: Sie beförderte eine antijüdische Lesart des Koran, popularisierte den antisemitischen Weltverschwörungsmythos und prägte eine völkermörderische Rhetorik gegenüber dem Zionismus.

Nach dem Sieg über Hitler 1945 wirkte das Echo von Radio Zeesen weiter nach. Ein relevanter Teil der arabischen Welt hatte sich daran gewöhnt, den Nahostkonflikt durch eine antisemitische Brille zu betrachten und behielt diesen Blickwinkel in den entscheidenden Jahren 1946 bis 1948 bei. Jetzt stellten die MB mit über einer Million Mitgliedern die größte antisemitische Bewegung der Welt. Als 1946 der Kriegsverbrecher und Himmler-Freund Amin el-Husseini unbehelligt nach Kairo zurückkehrte, zeigten sich die MB begeistert: »Dieser Held«, erklärten sie, »kämpfte mit der Hilfe Hitlers und Deutschlands gegen den Zionismus. Deutschland und Hitler sind nicht mehr, aber Amin el-Husseini wird den Kampf fortsetzen.« Der Mufti und die MB trugen in den Folgejahren maßgeblich dazu bei, die Zwei-Staaten-Resolution für Palästina, welche die Vereinten Nationen 1947 beschlossen hatten, zu Fall zu bringen.

Zwar scheiterten die arabischen Staaten 1948 mit ihrem kriegerischen Versuch, das im Mai gegründete Israel auszulöschen, doch die Idee bestand fort. Die MB reichten den Staffelstab an den iranischen Geistlichen Ruhollah Musavi weiter, der später als Ruhollah Khomeini berühmt wurde. Seit der islamischen Revolution von 1979 gilt Teheran als das Zentrum bei der Bemühung, Israel zu vernichten. 1988 schließlich schrieb sich die von Teheran unterstützte Hamas eben dieses Ziel auf ihre Fahnen.

Die Terrororganisation will somit eine Ambition, die mit Nazi-Deutschland ihren Anfang nahm, zum Abschluss bringen. Es ist kein Zufall, dass ihre Charta hierfür Parolen verwendet, die zuvor über das Nazi-Radio in die islamische Welt gelangt waren. Natürlich wäre es absurd, den Holocaust mit dem Massaker des 7. Oktober auf eine Stufe zu stellen oder in der Hamas die »Nazis von heute« zu sehen. Geschichte wiederholt sich nicht, doch sie wirkt fort. So lässt sich beim Antisemitismus eine Linie, die hier von 1941 bis 2023 reicht, nicht bestreiten.

Täter-Opfer-Umkehr

Das Massaker war ein Schock, aber die Reaktionen darauf waren niederschmetternd. Israels Oppositionsführer Yair Lapid formulierte es so: »Die Menschen sahen, wie Juden ermordet, vergewaltigt und gefangen genommen wurden, und beschlossen, dass die Juden daran schuld waren. Sie sahen, dass Juden Opfer eines Terroranschlags wurden, und das hat ihren Hass auf Juden nur verstärkt.« Es waren Hunderttausende, die in der arabischen Welt, aber auch in Westeuropa, gegen Israel und für die Hamas auf die Straßen gingen.

Das Massaker war ein Schock, aber die Reak­tionen darauf waren nieder­schmetternd

Wie ist diese fatale Opfer-Täter-Umkehrung zu erklären? Waren alle Teilnehmer*innen der propalästinensischen Großdemonstrationen in London und Paris antisemitisch? Die meisten wollen dort von dem Antisemitismus seitens Palästinenser*innen partout nichts wissen. Also müssen sie sich den Terror der Hamas anders erklären. Was läge da näher, als Israel die Schuld an dem Terror zu geben?

Dieser Fehlschluss ist beliebt, weil er eine einfache Lösung suggeriert: Israel soll die »Besatzung« beenden und der Terror ist vorbei. Mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun. Erstens will etwa die Hamas hier kein Ende der »Besatzung«, sondern das Ende Israels. Zweitens hat Antisemitismus mit jüdischem Verhalten nichts zu tun: Das gilt auch für die Ermordung der 1.200 Juden und Jüd*innen am 7. Oktober. Bei dem antisemitischen Pogrom war schierer Hass am Werk.

Zweistaatenlösung?

Die antagonistische Feindschaft gegenüber Israel wird oftmals ignoriert. Die G7-Staaten forderten bei ihrem Treffen Anfang November eine Zweistaatenlösung, bei der beide »Seite an Seite in Frieden, Sicherheit und gegenseitiger Anerkennung leben.« Dieses Mantra wird seit Jahrzehnten wiederholt, ohne zu fragen, warum die arabische Seite in Palästina seit 75 Jahren die Anerkennung Israels als jüdischen Staat verweigert.

Am 7. Oktober feierte die Fatah das Massaker an israelischen Zivilist*innen im offiziellen Fernsehsender der Palästinensische Autonomiebehörde (PA) als »einen Morgen des Sieges, der Freude und des Stolzes« und rief die Palästinenser*innen der Westbank dazu auf, »an dieser Heldengeschichte teilzunehmen.« Natürlich hätte sich die PA in dieser Situation als die bessere Alternative zur Hamas profilieren können, als Alternative, die sich vom Terror der Hamas deutlich distanziert. Man zog es jedoch vor, sich mit dem Terror gemein zu machen.

Die Ergebnisse diverser Umfragen in den palästinensischen Gebieten weisen in eine ähnliche Richtung. Die letzte wurde zwischen dem 31. Oktober und dem 7. November 2023 durchgeführt. Es stellte sich heraus, dass 75 Prozent der insgesamt 688 Befragten das Hamas-Massaker unterstützten, dass es lediglich 13 Prozent ablehnten und nur 17 Prozent für eine Zwei-Staaten-Lösung votierten.

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Auch wenn die Datenlage so nicht beweiskräftig ist und andere Einzelstimmen existieren, gilt: Der übergroße Antisemitismus in den palästinensischen Gebieten wird die Zweistaaten-Lösung auch künftig verhindern. Frieden wäre in dieser Region nur möglich, wenn der Judenhass radikal, systematisch und über lange Zeiträume hinweg bekämpft würde. Die extreme Erfahrung mit Nazi-Deutschland hat gezeigt, was nötig ist, um eine von Antisemitismus durchtränkte Gesellschaft zu verändern: die bedingungslose Kapitulation und das Verbot der hegemonialen Terrororganisation, gefolgt von einer langen Re-Education.

Dafür kämpft Israel. Die Holocaust-Überlebende Fanny Englard sagt über diesen Kampf: »Sag nicht Krieg. Sag Lebenskampf. Es ist ein Unterschied, ob man einen Krieg führt oder ob man um sein Leben kämpft. Wir haben es mit dem Judenhass von Hitlers islamistischen Erben zu tun. Wenn Israel gegen die angeht, die es auslöschen wollen, ist das nicht Krieg, um andere zu töten, sondern ein Kampf um Leben.«

Matthias Küntzel ist Politikwissenschaftler und Historiker. Von ihm erschien zuletzt das Buch »Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand« (2019).

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 400 Heft bestellen
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